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Diskussion zur Erzählung " In der Strafkolonie" ( F.Kafka)
in Literatur 27.12.2010 16:39von otto • | 637 Beiträge | 645 Punkte
Die Anregung zur Diskussion über einen abschreckenden, ängstigenden, ekelhaften, etc. Text geht ursprünglich auf Bärbel zurück.
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Zitat
Zitat: " Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden,
wir selber uns selbst, das hat seinen guten Grund."
(Friedrich Nietzsche. Zur Generalogie der Moral, Vorrede)
Als Kafka die Erzählung 1916 in München liest, wird nachträglich behauptet, dass einige Zuhörerinnen in Ohnmacht fielen. Sein Verlag stimmte einer Veröffentlichung erst nach langem Zögern zu, weil er sie für unverkäuflich hielt.
Wie schon an anderer Stelle hervorgehoben, wäre eine Beschränkung auf einen Diskussionsbereich sinnvoll.
Wäre dieser nach Einschätzung der Diskutanten hinreichend besprochen, könnten sie sich auf einen weiteren
Bereich einigen, zu dem sie diskutieren.
Vorschläge für die Diskussionsbereiche:
- Handlung
- Form
- Textanalyse
- Interpretation
Da nicht auszuschließen ist, dass die Diskutanten den Text schon längere Zeit nicht vor Augen hatten, wäre es sicherlich hilfreich aufrischend hinein zu lesen.
Ich bitte um Ergänzungs-Gegenvorschläge oder um Zustimmung zum vorstehenden Vorschlag.
LG. otto
RE: Diskussion zur Erzählung " In der Strafkolonie" ( F.Kafka)
in Literatur 28.12.2010 16:46von Rubberduck • | 558 Beiträge | 558 Punkte
RE: Diskussion zur Erzählung " In der Strafkolonie" ( F.Kafka)
in Literatur 01.01.2011 17:30von otto • | 637 Beiträge | 645 Punkte
Liebe Forenautoren!
Wie es scheint hat niemand außer Bärbel ein Interesse zum vorgeschlagenen Thema zu diskutieren. Das bedaure ich.
In Absprache mit Bärbel werden wir den Faden noch bis zum kommenden Freitag, den 7.01. 2011 offen halten. Wenn sich bis dahin niemand zum Mitdiskutieren einbringt, werden wir den Faden schließen.
Liebe Grüße,
otto.
RE: Diskussion zur Erzählung " In der Strafkolonie" ( F.Kafka)
in Literatur 02.01.2011 09:51von otto • | 637 Beiträge | 645 Punkte
Gut, lieber Kjub, liebe Bärbel!
Dann wären wir schon drei, das sollte ausreichen, um gut ins Gespräch zu kommen.
Soweit ich es ausreichend bewerte, können wir -einverständlich mit meiner Vorgabe für die Diskussion- beginnen. Das bedeutet demnach, daß wir uns zunächst mit der Handlung beschäftigen. Wer fängt an?
Ich darf noch einmal in Erinnerung bringen, dass Du Bärbel Dich fragtest, warum manche Texte zuweilen wegen ihrer
Themata zurück gewiesen werden. Darauf bist Du, lieber Kjub, so eingegangen, dass Dich eher die Literatur interessiere... wir seien doch in einem Literaturforum. Nun meine ich, dass das gewählte Beispiel uns sowohl zu einer akzeptablen Antwort zur Bärbels Frage führen kann, wie auch Kafkas eingesetzte Mittel betrachten läßt, die er einsetzte, womit es ja zu einer erschreckenden Wirkung bei den Zuhörern seiner ersten Lesung gekommen sein soll.
LG., otto.
RE: Diskussion zur Erzählung " In der Strafkolonie" ( F.Kafka)
in Literatur 03.01.2011 06:36von Rubberduck • | 558 Beiträge | 558 Punkte
Man kann den vollständigen Text auch online lesen. Z.B. bei gutenberg.spiegel.de
Ich mache dann gern mal den Anfang. Beginnen wir also mit der Handlung. Hier meine Zusammenfassung:
Es geht um einen Offizier, der als Letzter der Kolonie einen Apparat zur Strafvollstreckung pflegt und in Anwendung bringt. Diesen versucht er einem Forschungsreisenden zu erklären, am praktischen Beispiel zu demonstrieren. Der Verurteilte, an dem der Anschauungsunterricht stattfinden soll und der Soldat, der ihn bewacht, spielen für den Offizier nur eine untergeordnete Rolle. Seine Liebe zum Apparat und dessen Details sowie zu dem verstorbenen Kommandanten, dem Erfinder des Apparates, sind offensichtlich. Wissend, dass der neue Kommandant seiner Leidenschaft für diesen Apparat nur widerwillig zustimmt und dass er auch sonst keine Unterstützung mehr erfährt, nimmt er die Chance wahr, den Forschungsreisenden für sich zu gewinnen und so das Projekt am Leben zu erhalten.
Den Buchstaben des Gesetztes, das er selbst schreibt, auszuführen, ist ihm oberstes Gebot. Als er aber merkt, dass sein Versuch, den Reisenden für den Apparat zu begeistern fehlschlägt, gibt er sich selbst dem Apparat hin und ist so seiner Liebe treu. Der Apparat jedoch versagt dem Offizier eine reibungslose Funktion und die damit erhoffte Erlösung, wohl aber bringt er ihm den Tod. Der Reisende kann das nicht mehr verhindern, der Verurteilte, sowie der Soldat sind nicht daran interessiert, das zu verhindern.
Am Ende der Geschichte sucht der Reisende noch das Grab des früheren Kommandanten auf, nur um gleich danach die Kolonie fluchtartig zu verlassen und ist sehr darauf bedacht, dies allein zu tun.
RE: Diskussion zur Erzählung " In der Strafkolonie" ( F.Kafka)
in Literatur 03.01.2011 11:17von otto • | 637 Beiträge | 645 Punkte
Lieber Kjub,
da werden wir uns etwas gedulden, bis Du den Text vor Augen gelesen hast.
Bärbel, eine gut nachvollziehbare Einführung in die Handlung. Allerdings führst Du bereits Wertungen mit interpretatorischen Behauptungen ein: z.B....
Zitat
" Seine Liebe zum Apparat und dessen Details sind offensichtlich"
" Der Reisende kann das nicht mehr verhindern, der Verurteilte, sowie der Soldat sind nicht daran interessiert, das zu verhindern."
Das scheint mir eher in die Textanalyse zu gehören. Ich stimme ich diesen Behauptungen nicht
selbstverständlich zu. Wenn wir zur Textanalyse gekommen sind, dann werde ich mich dazu äußern.
Zunächst ausgelassen hast Du, dass dem Fremden die Maschine genau erklärt wird. Auch das dieser sich schwer zu tun scheint eine konkrete Meinung über die Maschine als Exekutivmechanik infolge der auf der Insel praktizierten Justiz abzugeben. Zwar behauptet er, dass es sich um einen unmenschlichen Vorgang handele, doch relativiert er dies zugleich, denn er sieht sich als inkompent an, da er aus seinem Land von einem anderen Recht weiß, und ihm das Inselrecht nur als eines gilt, das ihm nicht gilt. Darüber aber will er nicht rechten.
Zu diesem Zeitpunkt ändert sich das Verhalten des Offiziers. Es kommt zum Abbruch der Exekution, der Offizier tauscht sich mit dem Verurteilten aus. Vorher stellt er die Maschine auf sich ein. " Sei gerecht" wird sie ihm in den Rücken ritzen. Der Apparat tut sich schwer mit der veränderten Aufgabe, scheint an ihr zu zerbrechen. Der vormals Verurteilte wird Zeuge und schaut lüstern zu.
Als der Offizier tot ist, besucht der Fremde zusammen mit dem Soldaten und dem Verurteilten das Grab des
alten Kommandanten. Danach verläßt er die Kolonie. Der Verurteilte und der Soldat wollen ihm folgen, aber er weist sie entschieden und erfolgreich zurück.
Zusammenfassend:
Der wesentliche Handlungsrahmen ist wohl mit dem Justizsystem, dem Reisenden, der Vollstreckung des Urteils mit der Maschine und ihrer Personalisierung abgesteckt.
Aber ich bin mir sicher, das der gute Kjub nach dem Lesen noch einiges zur eigentlichen Handlung dazu entdeckt.
LG. otto
RE: Diskussion zur Erzählung " In der Strafkolonie" ( F.Kafka)
in Literatur 03.01.2011 11:45von Rubberduck • | 558 Beiträge | 558 Punkte
RE: Diskussion zur Erzählung " In der Strafkolonie" ( F.Kafka)
in Literatur 03.01.2011 16:47von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte
Ich sehe im Mittelpunkt der Handlung das Bestrafungsgerät, das die Verurteilten für immer zeichnen soll.
Der Offizier ist der letzte Repräsentant des alten "Bestrafungssystems" der Strafkolonie, der von dieser "Errungenschaft" und von der Erinnerung an die in seinen Augen gute alte Zeit besessen ist und in dem Reisenden einen Verbündeten sieht, mit dessen Hilfe er die bestehende Situation wenigstens erhalten oder sogar wieder in seinem Sinn verbessern will.
Der Forschungsreisende aber erklärt sich trotz seiner Behauptung, über fremde "Rechtsysteme" nicht rechten zu wollen, auf Nachfrage zu einem Gegner des Verfahrens. Daraufhin legt sich der Offizier selbst in die Maschine, die ihn aber nicht foltert, sondern umbringt.
So kurz
so Kjub
RE: Diskussion zur Erzählung " In der Strafkolonie" ( F.Kafka)
in Literatur 03.01.2011 18:59von otto • | 637 Beiträge | 645 Punkte
Lieber Kjub!
Zunächst geht es ja um die Beschreibung der Handlung. Wenn Du die Maschine im Mittellpunkt der Handlung erkennst, so ist das bereits eine Aussage, die ich der Textanalyse zuordne. Deshalb teile ich Dein Behauptung,
würde sie aber nicht in den Mittelpunkt des Handlungsablaufes stellen, sondern sie der Textanalyse vorbehalten.
In der Handlung findet die Maschine als Exekutionswerkzeug zwar Erwähnung, doch erst in der Textanalyse wäre der Kontext zwischen der Maschine und den an der Hinrichtung involvierten Personen in eine analytische Bewertung
zu setzen. Ich meine Deine Aussage ist von Dir so gesehen nicht falsch, doch zum Stand der Diskussion verfrüht.
Nach dem Stand der Diskussion schlage ich vor, dass wir uns der Form der Erzählung zuwenden. Es sei denn, dass noch jemand ergänzende oder zurückweisende Argumente zu den bisherigen Beiträgen erkennt.
Was meint ihr?
LG. otto
RE: Diskussion zur Erzählung " In der Strafkolonie" ( F.Kafka)
in Literatur 03.01.2011 19:35von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte
Entschuldigung, lieber otto, das hätte ich klarer sagen können! Ich meine einfach, dass die Präsenz des Geräts nicht nur die Geschichte dominiert, sondern sich auch wie ein roter Faden durch das Gewebe der Erzählung zieht. Das werde ich bei der Textanalyse aber noch mal sagen! Da wirds ja erst spannend.
Zur Form: Eine Erzählung, hier wird von den Geschehnissen berichtet, sie werden nicht gezeigt. Das steckt ja schon im Namen. Also tell don't show.
Schwierig fürs Schaurige, weil diese Geschichten auf mich allgemein den Eindruck machen, sie distanzierten den Leser. Auktorialer Erzähler. So, jetzt ihr. Außer Rubberduck will noch was zur Handlung oder so sagen. :)
RE: Diskussion zur Erzählung " In der Strafkolonie" ( F.Kafka)
in Literatur 03.01.2011 21:20von otto • | 637 Beiträge | 645 Punkte
Entchen? Kjub fragt nach Dir. Hast Du noch etwas dazu? Ansonsten gehen wir über zur Form der Erzählung. Ich schlage vor, dass Kjub diesmal die Vorgabe hat, denn wir haben mit der Handlung eröffnet. Aller Anfang ist schwer.
Ich biete mich danach mit der Textanalyse an... wenn ihr zustimmen wollt. Da werde ich garantiert wie ein Wal an den Gestaden der deutschen Philosophie stranden, und ihr solltet mich dann mit Wasser übergießen, damit ich ins Wasser zurück finde... haha.
Gute Nacht, otto.
RE: Diskussion zur Erzählung " In der Strafkolonie" ( F.Kafka)
in Literatur 04.01.2011 08:03von otto • | 637 Beiträge | 645 Punkte
Zwischenbemerkung
.........................................................................................................................................................
Gebrochen
Sie holten ihn. Vor ihm ein Gang.
Links, rechts: die Türen, nummerierte.
Versprachen ihm, wenn er sich zierte,
dann wäre es sein Abgesang.
Er schrie den Schmerz. Man ließ ihn steh`n.
Das Licht der Lampe irritierte
am Eisentisch. Und er zitierte
" Sein oder nicht..." ...Sein war nur Fleh`n.
Verschweigen nur, verbissen still,
die Folter, müde auszuhalten
unendlich Schmerzen, abzuschalten.
Nichts sagen d e m, so wie d e r will!
Doch d e r war schlau. Die Macht verstand
dem Reden alles einzurichten,
die Wahrheit quälend zu vernichten,
das durfte d e r in diesem Land.
Und er verstand - Man ließ ihn frei.
Jetzt liebte er die Macht im Staat.
Und in ihm wuchs der Apperat:
als Folterknecht war er dabei.
RE: Diskussion zur Erzählung " In der Strafkolonie" ( F.Kafka)
in Literatur 04.01.2011 09:00von Rubberduck • | 558 Beiträge | 558 Punkte
Hallo zusammen,
eine Anmerkung habe ich noch, auf die wir noch nicht eingegangen sind: Die Anwendung der Maschine führt immer zum Tod, nicht nur zur Folter. Es gibt nur ein einziges Urteil, das Todesurteil, die Straftat an sich spielt keine große Rolle. Der Offizier ist judikative, legislative, exikutive. Der Verurteilte hat weder einen Anwalt, noch eine Verhandlung, noch wird ihm mitgeteilt, welche Strafe ihn erwartet.
Zu Otto: Ich hatte erwähnt, dass die Maschine erklärt wurde. Nur das Wörtchen "genau" fehlte. Und vielleicht trifft "genau" es noch nicht mal richtig, sondern ein "penibel" wäre sogar angebracht.
So, das war mein Sahnehäubchen..... es geht weiter.... ;-))
RE: Diskussion zur Erzählung " In der Strafkolonie" ( F.Kafka)
in Literatur 04.01.2011 21:28von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte
Ja, Otto, Folter muss furchtbar sein. Als Mitteleuropäer ist man in vielerlei Hinsicht privilegiert, nicht zuletzt, weil die meisten Völker Kriege und systematische Folterungen schon lange nicht mehr erleben müssen.
Hi Rubberduck! Ich habe gerade eine Stelle rausgesucht: "Dann aber spießt ihn die Egge vollständig auf und wirft ihn in die Grube, wo er auf das Blutwasser und die Watte niederklatscht." Das klingt nach Tod. Danke fürs Bescheid sagen, das habe ich falsch gelesen.
Ich hatte Kafkas Willen zur Absurdität wohl unterschätzt. Ich meine, es machte doch nur Sinn, den Verurteilten das Urteil durch seine Wunden "lesen" zu lassen, wenn er danach die Chance hätte, sich zu "bessern". Und die Verfehlung des Verurteilten besteht darin, dass er es versäumte, zur vollen Stunden aufzustehen und zu salutieren. Nachts um zwei.
RE: Diskussion zur Erzählung " In der Strafkolonie" ( F.Kafka)
in Literatur 04.01.2011 22:58von otto • | 637 Beiträge | 645 Punkte
Nein, lieber Kjub!
Das Urteil zu lesen ist eins.
Die Chance sich zu bessern, ergibt sie sich nur aus dem Verständnis in die Einsicht der Schuld?
Mir scheint, dass es bei Kafka schon eine Gnade zu sein scheint, die Schuld zu e r f a h r e n, e r l e b e n.
Besserung? Ja wo sind wir denn in diesen, unseren Wirklichkeiten im 21. Jahrhundert und den anderen davor? Wer gesteht wird entsorgt.
Die Besserung ist vertan und großzügig bedient aus der Einsicht der Schuld.
Machst Du weiter zum Bereich der " Form" der Erzählung, lieber Kjub?
Liebe Grüße,
otto.
RE: Diskussion zur Erzählung " In der Strafkolonie" ( F.Kafka)
in Literatur 04.01.2011 23:17von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte
Ich hab doch schon was zur Form gesagt!
Du hast jetzt eh schon mit der Textanalyse begonnen, ist ja auch okay, wir müssen das nicht so streng handhaben. Ich schlage also vor, dass wir damit weitermachen: Hier steht schon ein Eimer, falls du an den Gestaden stranden solltest. (Außer natürlich, jemand will noch was zur Form sagen ...)
Viel Spaß
Kjub
PS: Was du zu Schuld und Besserung geschrieben hast, habe ich leider nicht so recht verstanden.
RE: Diskussion zur Erzählung " In der Strafkolonie" ( F.Kafka)
in Literatur 05.01.2011 14:31von otto • | 637 Beiträge | 645 Punkte
Ich übergehe es etwas zur Form der Erzählung hinzuzufügen.Von einer kompletten Textanalyse werde ich absehen. Es gibt derer so viele, wie mir unbekannt sind. Ich empfehle Nietzsches " Zur Genealogie der Moral" zu lesen.
Zunächst komme ich zurück auf Äußerungen von Bärbel:
Zitat
"... gibt er sich selbst dem Apparat hin, und ist so seiner Liebe treu."
So sehr der Offizier auch die Konstruktion des alten Kommandanten bewundert, und den Apparat mit leidenschaftlichen Erklärungen gegenüber dem Reisenden lobpreisend demonstriert, er liebt den Apparat nicht.
Vielmehr ist es eine im Offizier erinnerlichte Rechtsordnung, für die er den Apparat quasi wie einen mechanisch belebten Zeugen vorführt. Und aus seinen Überzeugungen heraus ist es nicht nur an den alten Kommanten
eine ewige Referenz, die er mit dem Apparat hervorhebt. Es ist eine devotische durchlebte Ehrenbezeugung zu dem
was ihm, gleich seiner Uniform, Heimat bedeutet, die er fürchtet zu verlieren.
Zitat
" Der Verurteilte und der Soldat spielen nur eine untergeordnete Rolle"
Aber nein. Erst alle vorkommenden Personen, sowohl die vier bei der Exekution unmittelbaren, wie auch die vom Offizier angesprochenen ( der alte und neue Kommandant, die Frauen im Teehaus, die anderen auftretenden Personen bis zur Abreise des Reisenden, sie alle haben, jede für sich eine gleichwertige Rolle. Zwar unterscheiden sie sich in Vielem, haben unterschiedliche Bedeutungsschwere, doch keiner der in der Erzählung Vorkommenden ist verzichtbar, nimmt man das Rechtssystem in Regress, aus dem die Beteiligten in der Erzählung sich erleben und auf einander bezogen, das Rechtssystem nachvollziehbar werden lassen.
Zitat
"... der Reisende kann nicht mehr verhindern"...
... wird behauptet. Er hat nicht verhindert und doch entscheidend dazu beigetragen, dass es, wie Kafka schreibt, der
Reisende nicht von einem Selbstmord, sondern einem Mord schreibt. Er konnte also nicht verhindern ?
Der Reisende kommt aus einem europäischen Land mit einer anderen Rechtsordnung. Mir scheint, dass gerade die eigene Rechtsordnung ihn daran hindert seine vage Haltung aufzugeben. Denn auch er sieht sich
gefesselt, gehalten in einer Art übernationaler, interkultureller Loyalität persönlich einzugreifen. Wo also
bleibt der einzigartige Mensch, der Unmenschlichkeit bemerkt, in der Not eines anderen Menschen?
Und da kommt die Ambivalenz des Besuchers ins Spiel: Wegen der akribischen Beschreibung der Maschine
durch den Offizier wird er hineingelockt in die Faszination mit der beschrieben, demonstriert wird. Diese Laudatio für eine Foltermaschine beeindruckt den Besucher so sehr, dass er sich nur schwer gegen die Verführungskünste des Offiziers erwehren kann. Er, der Unmenschlichkeit zu erkennen vermag, er strauchelt
beim Angebot einer gleich stattfindenden Folter. Für Augenblicke scheint er immer wieder das Zentrum der eigenen Überzeugungen aus den Augen zu verlieren, relativiert das Geschehen, in dem er sich selber in die Zucht nimmt, sich abmahnt: er dürfe sich nicht einfach einmischen.
Ich verstehe Kafka so, dass der Offizier keinen Selbstmord begeht, sondern die Exekutivmaschinerie ermordet den Offizier aus den ihr ankonstruierten Eigenschaften gerade so, als habe sie eine eigenständige Moral mit einkonstruiert bekommen. Es ist aber schließlich das System, an das der Offizier glaubt, bis sich der Apparat verselbständigt, so als habe er dem System und einem seiner Träger ( der Offizier) zu lange gedient. Zwar bricht das Rechtssystem mit dem Tod des Offiziers zusammen,
aber wissen wir aus der Erzählung, ob nicht der Offizier selbst dazu beitrug, in dem er, dem Leser nicht bekannte Eingriffe an der Maschine vornahm, die sie auseinanderbrechen ließ? War der Offizier s o vom Verhalten des Besuchers verstört und enttäuscht, dass er nicht nur selbst Opfer des Systems wurde, sondern seine Enttäuschung über die Entwicklung auf der Insel an der Maschine ausläßt, in dem er sie ... zerbrechen läßt, weil er, ihr Bediener und Bedienter,
den Fremden von ihr nicht überzeugen konnte?
Kafka trägt seine Erzählung mitten in der Zeit des 1. Weltkrieg vor( 1916). Wie wird seine Erzählung, sein Vortrag auf die Zuhörer gewirkt haben? Unter ihnen sicherlich viele, deren Söhne, Väter, Männer als Kanonenfutter verheizt
nicht mehr zurückkommen werden. Mir fallen die geschriebenen Briefe ein, die den Familien ins traute Heim flattern. Irgendwie bleiben sie den Anverwandten unverständlich, denn es wird nicht alles im Klartext vermittelt, selbst wenn der Krieg beschrieben wird. Das ist wie mit den Zeichnungen des ersten Kommandanten: Der Besucher vermag sie nicht sogleich zu entziffern. Das Schreckliche, es muß durchlebt werden, um es zu verstehen. Briefe und Zeichnungen mögen beschreiben und schrecken. Die Schmerzen hat der Verurteilte, die Soldaten im fremden Land.Das Visionäre der Schrecken, das in der Erzählung leidenschaftlich beschrieben wird, es beflügelt vermutlich die Zuhörer sich das entfernte Kriegsgeschehen auszumalen. In der Erzählung spricht der Offizier französisch. Für mich ohne Frage ein Hinweis auf Frankreich, mit dem sich Deutschland im Kriege befindet. Der Verurteilte versteht ihn nicht. Es ist gleichsam so, als sei eine ganze Gesellschaft unter " die Kriegsmaschine" geraten, die auf grausame Weise tötet. Die Gleichzeitigkeit des Zeitgeschehens mit dem Vortrag des Juristen Kafka mußte eine sehr unangenehme Wirkung haben. Kein Wunder, wenn nach der Lesung behauptet wurde, dass einige Frauen in Ohnmacht gefallen waren. Hier nähern wir uns der Frage von Bärbel, warum manche Texte so negativ kommentiert werden ( in diesem Falle direkt durch Ohnmachten noch während der Lesung): Die eigene Angst, Befürchtungen, Betroffenheit, etwas in einem solchen Text könnte einem selbst passieren, schlimmer noch, passierte den Zuhörern fortwährend vor, während und nach der Lesung: es war Krieg.
Wie ihr lesen könnt, befrage ich nur einzelne Aspekte.
Jetzt ist erst einmal jemand anderes an der Reihe sich unter den Apparat zu legen.
Liebe Grüße,
otto.
RE: Diskussion zur Erzählung " In der Strafkolonie" ( F.Kafka)
in Literatur 06.01.2011 08:20von Rubberduck • | 558 Beiträge | 558 Punkte
Zitat
Es ist eine devotische durchlebte Ehrenbezeugung zu dem
was ihm, gleich seiner Uniform, Heimat bedeutet, die er fürchtet zu verlieren.
Also doch eine Hingabe! Ob man sich nun seiner Uniform oder einer Maschine hingibt und somit dem, wofür sie stehen - es ist die Hingabe die ihr Macht einflößt, nicht die Maschine selbst.
Du sagst, die Schilderung der Funktionsweise der Maschine zieht in den Bann! Mitnichten. Sie ist widerlich, langatmig, aber für die Geschichte wohl nötig.
Der Reisende also, der nichts mit der Strafkolonie zu tun hatte und ein kluger Mensch war, dem die Maschine ebenfalls nicht behagte, warum tat er sich das an? Warum ging er nicht einfach? Warum war er überhaupt der Einladung gefolgt, sich eine Exekution anzuschauen?
Und diese Trauer des Offiziers um die fehlenden Gelder, die Maschine ausreichend in Stand halten zu können, sein sich freiwilliges ausziehen und darunter legen – er selbst haucht durch seine Leidenschaft dieser leblosen Maschine leben ein. Sie wäre gänzlich ungefährlich, würde er sie nicht betätigen.
So also habe ich beim Lesen nicht so sehr die Maschine als Mittelpunkt erlebt, sondern den Offizier. Nur er konnte sie bedienen, sie verstehen, die „Schrift“ entziffern....
Ohne ihn wäre sie nur Altmetall.
Als er den Gefangenen aus der Maschine löste, dachte ich zunächst, dass er nun den Besucher beseitigen wolle, um ihn dafür zu bestrafen, dass er ihm die erhoffte Unterstützung versagte. Dass er sich aber selbst unter die Maschine legte, zeigt mir, wie sehr er sich ihr verschrieben hat, sich in ihre Hand begab und sich von ihr einen süßen Tod versprach.
Wer macht den Molech mächtig?
Und ja, mir war die Geschichte zuwider, ich hätte das Lesen abgebrochen, wär es nicht für unsere Diskussion nötig gewesen, den ganzen Inhalt zu lesen.
Liebe Grüße,
Bärbel
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