Wir wohnten in Berlin/Tempelhof, Ringstraße Nr.7 in einem Neubau. Von Zeit zu Zeit kam Großvater Gerson uns besuchen. Seinen Sohn Leopold liebte er besonders, weil er es im Vergleich zu seinen anderen Kindern sehr weit gebracht hatte. Leopold war als Jugendlicher nicht auf die ihm vorbestimmte Thoraschule gegangen. Stattdessen ging er nach Berlin, wo er eine Schlosserlehre begann. Er machte eine Erfindung, die ihm eine bedeutende Firma abkaufte. Von dem Erlös finanzierte er sein Ingenieursstudium, das er erfolgreich abschließen konnte. Nie ermangelte es dem Sohn Leopold an Energie und Lernfähigkeit.
Als uns der Großvater in der neuen Wohnung besuchte, war mein Vater Leiter einer Fabrik mit über achthundert
Angestellten. Natürlich erhielt Großvater bei seinem Besuch das beste Zimmer in der Wohnung. Aber, wie das Leben so spielt, verwandelte sich das Glück des Großvaters von einem Augenblick vom Glück ins Unglück. Denn als er hungrig in die Küche ging, um sich etwas gegen seinen Hunger zu holen, fand er dort etwas, was ihm in einem jüdischen Haushalt undenkbar war. Entrüstet verließ er die Küche, ging in sein Zimmer, sagte das Kaddischgebet für seinen ab sofort für tot erklärten Sohn, und verließ unsere Wohnung.
Oft bekam unser Vater Besuch von Freunden, denen er diese kleine Geschichte amüsiert erzählte. Dazu gehörte auch noch, dass er jeden Monat für die anderen im Ausland lebenden Familienmitglieder einen Scheck schickte, um sie in ihrer Not zu unterstützen. Stets wurde der Scheck dankbar angenommen, obwohl er von einem für tot erklärten Sohn kam.
Aus dieser Episode zog unser Vater seine moralische Qintessenz: " Lasse einen Großvater nie allein."