#1

Uti & Carla

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 24.05.2011 23:01
von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte

Durch das dunkle Treppenhaus schleicht Uti, wie ein Dieb in der Nacht. Ganz unnötig, er wohnt in diesem Haus und kennt es, dort ist kaum etwas, das Stehlen lohnte. Vielleicht nur eine alte Angewohnheit, keine Aufmerksamkeit erregen, oder eine lebenslange Leidenschaft: Unauffälligkeit. Er sieht nicht das zerbrochene Fensterglas mit den scharfkantigen Resten des orange-lindgrünen Jugendstilmotivs, hört nicht die gedämpften Klaviertöne. Dieses Mal keine Fingerübungen, sondern ein kleines Stück. Doch, er hört es!
Klingt nach Nordseestrand an stürmischem Herbsttag. Wurde in Werbung verwurstet - vor zehn Jahren? So lange gespielt, bis es verschwand. Und weiter gespielt. Die Leute sind lustig, sie konsumieren Dinge, die nicht vorhanden sind. Jetzt, in diesem unsanierten Trauerfall von Haus, klingt das live Gespielte wie frisch komponiert.

Vorbei geht es trotzdem. Wo Musik war, ist nichts mehr. Dafür der Muff verlassener Keller auf seinen Geschmacksnerven, Feuchtigkeit unter den Klamotten. Mit leicht hängendem Kopf trottet er zu seiner Wohnung. Schließt auf, hängt Hut und Mantel an Haken, zieht die Straßenschuhe aus und schlüpft in Pantoffeln. Er heizt den Ofen an, entfacht ein knisterndes Feuerchen. Setzt sich in den Ohrensessel, die Füße auf einem kleinen Schemel. Blättert in einer Zeitschrift. Schön hat ers hier! Ach, trautes Heim!

Er geht zum Fenster und sieht die kahle Baumkrone, betrachtet die um diese Uhrzeit für gewöhnlich leere Straße. Auch heute: Kein einziger Mensch. Sie sagen, das Leben fände draußen statt, das große Ding dieser Saison, das Leben, man solle es nicht verpassen.

Carla steht an eine halboffene Tür gelehnt, sieht an der Kamera vorbei. Was immer sie betrachtet, scheint ihren Blick leerzusaugen. Auf der Tür klebt das Bild eines Hasen, der von einer Hand am Schlafittchen gehalten wird. Uti würde gerne wissen, was Carla in diesem Moment denkt. Als hätte er das lang gesuchte Puzzlestück vor Augen und kriegte die Ränder nicht scharf, weiß nicht wo anlegen. So drängend das Bedürfnis: Es einzuordnen.

Die Klavierspielerin beginnt ihre Übungen. Die variieren niemals, sie spielt in immer derselben Reihenfolge; und macht dieselben Fehler. Ihr Gebet ans Scheitern. Das legt er hinein. So wie den Gedanken in Carla. Auch mit scharfem Nachdenken käme er nicht drauf: Sie überlegt nicht, sie fühlt.

Zumindest in diesem Moment. Sie hat es mit Denken versucht, aber es hat nichts besser gemacht. Fühlen bessert ebenfalls nichts, aber es scheint weniger sinnlos zu sein. "Nein, nicht", sagt sie und hält die Hand zwischen Torbens imaginäre Kamera und ihr Gesicht. "Keine Fotos. Ich will das nicht. Ich fühle mich hässlich." Achselzuckend formt er seine Hand um, zu einer Schattenkreatur. Hält sie in den starken Strahl der Nachttischlampe. Wirft ein Schattenspiel an die Wand.
"Knips oder Schattenwurf! Was ist hier die Frage?"
"Kommt die Wirklichkeit zurück, wenn wir nett sind?"
"Nett fragen. Frett nagen!"
"Ich will das nicht. Will das nicht. Will nicht. Will. Nicht."
"Ich habe das Bild an Uti verkauft", sagt er.
"Ich sehe ihn manchmal wie im Traum - er begafft das Foto und denkt sich hinein. Sucht Orte für seine Vorstellungen."
"Ich träume von Tagen", sagt Torben, "in denen die rätselhafte Welt mich auf ein staunendes Staubkorn reduzierte. Sehnsucht nach Kleinheit. Das ist ein wirkliches Ding. Ein echter Ort. Du nur ja und nein und hü und hott. Ich werde dich verlassen!"
"Ich komm mit!"

Uti überlegt. Kontakt zur Außenwelt aufnehmen oder sich hinlegen und mit Sterben beginnen? Das ist es, was ihr Blick bedeuten will: Wir sind alle so müde. Schlafen stehenden Schrittes, wachen mit geschlossenen Augen. Er ist da ganz sicher. So was denkt er sich nicht aus. Uti erkennt die Absurdität der Welt in ihren dunklen Pupillen kristallisiert.
Seine Wahl ist eigentlich keine Wahl. Sie sieht nur aus wie eine, weil er ein Fragezeichen an das Ende des Satzes setzen kann. Freitod ist nicht. Er kriegts nicht hin. Ihm fehlt die Ausdauer für stückweises Verschwinden, er hat nicht die Willensstärke für den abrupten Übergang. Es soll der richtige Wagen sein, nicht zu groß und nicht zu klein, nicht zu teuer im Unterhalt. Dezente Farbe. Ist doch alles egal. Einschließlich des Egalseins. Man transzendiert und transzendiert, ist irgendwann übers Drüberhinaus hinaus und fragt flüchtig, was wird der Preis für die maximale Entgrenzung sein.

"Zeig mir die andere Seite. Ich bin gleich soweit." Carlas Zunge schnellt wie ein scheues Tier hervor. Leckt über die Lippen. Sie dreht sich um, nimmt die Hände von ihren kleinen Brüsten und legt sie auf ihren Hintern, den sie vor dem Laptop kreist. Und hebt den Hemdsaum, um eine Ahnung des Darunterliegenden ins Spiel zu bringen. "Ja, das ist gut. Sehr gut. Weiter."
Auf einmal Gottfried Benn im Nebenzimmer. Sie hört die ohrenerfüllende Rezitation. "Einsamer nie als im August: / Erfüllungsstunde – im Gelände / die roten und die goldenen Brände, / doch wo ist deiner Gärten Lust?"
Also steht er kurz vor dem entlastenden Moment. Höhepunkt will sie es nicht nennen. Bei ihm. Carla sieht Torben, das verspannt-konzentrierte Gesicht, die maschinenhafte Aufundab-Bewegung des Arms, die Ejakulation. Sein Gesichtsausdruck, nachdem sich das Begehren mit dem weißen Müll verspritzte. Ratlos hält er das erschlaffende Fortpflanzungsorgan in seiner blassen Hand. "Du sollst doch nicht kucken!", ärgert er sich und greift nach der Kamera. Die Übertragung endet.

Benn wird ausgeschaltet. Kurz darauf kommt Torben in das Schlafzimmer und nickt ihr dankend zu. Sie lächelt freundlich, unverbindlich. Tauscht ihr Strip-Hemd gegen ein Schlafshirt. Setzt sich an den Schreibtisch und tippt mit dem Stift gegen ihre Zähne, bevor sie ein paar Sätze schreibt. Torben schaltet die Maschine aus, die das Bett gegen die Wand gestoßen hat. Regelt das Gestöhne runter.

Uti faszinieren die Geräusche dieses Betts. Teak oder Mahagoni. Vermutet er. Auf jeden Fall ein Angeber-Möbel. Er liegt in seinem eigenen und hört den Rhythmus der beiden. Interessant, die Gleichförmigkeit des Takts. Sex als ritualisierte Form körperlichen Austauschs. Mit festgelegter Bewegungs- und Soundchoreografie. Er konnte eine Weile keinen Fehler in dieser Abfolge finden, bis er irgendwann erkannte, dass der Makel hier Perfektion heißt. Wenn er sich konzentriert, sieht er die Deckenleuchte fast unmerklich pendeln.

Uti glaubt, Torben ist nicht der Richtige für Carla. Fragt sie manchmal im Treppenhaus, wie es so läuft, zu Hause. Sie weicht seinem Blick aus, gibt kaum verständliche Antworten und kann sich gar nicht schnell genug an ihm vorbeidrängen. Die wird unterdrückt. Da ist er sicher. Uti überlegt, ob er wenigstens Torben umbringen könnte. Ob Carla dafür dankbar wäre.

Irgendwann hört er nur noch Regen gegen das Fenster nadeln. Uti will ein Auto, das die Straße entlangfährt. Das Geräusch des aufheulenden Motors älteren Baujahrs. Scheinwerfer, die Wände hochkriechen. Sich als kleines Kind fühlen, allein mit der unerschöpflichen Wirklichkeit. Umgeben von Geheimnis, der Ahnung verborgener Fülle. Nein, das ist nicht er, der das denkt. Hat er letztens irgendwo gelesen.
Sterbenwollen ist auch nur flüchtig anverwandelt. Er hat was gehört über den Zusammenhang von Selbstmordrate und fehlendem Lebensinhalt. Seitdem, diese Ideen. Der fehlende Lebensinhalt immerhin ist kernhaft. Da hat er was, an dem er sich festhält, während er durch Morpheus' Wasser in die Tiefe treibt.

Torben hat das nicht begründet. Er zog das Chef-Gesicht an und wählte den herrischen Tonfall, der ihre Art anschmiegsam und die Antworten geschmeidig macht. Genug! Von wilden Dünsten, Vermischung der Körpersäfte, den Tierzeiten. Der Ekel gegen die schmutzige Seite der Körperlichkeit. Widerwille gegen dessen Unberechenbarkeit. Gegen Übergriffe, unberechenbare Wünsche und Forderungen. Damit musste Schluss sein.
Er hat das Chef-Gesicht angezogen und klargestellt, wer die Hosen anhat. Sie hätte etwas weniger bereitwillig auf seine Wünsche eingehen sollen, dieser amüsierte Funken in ihren Augen gefiel ihm nicht unbedingt. Die Leichtigkeit, mit der sie sich unterordnete, nahm der Sache eine für ihn wichtige Dimension. Wer aus freiem Willen gehorcht, gehorcht nicht. Tatsächlich sogar: Ihre Form der Unterordnung verhöhnt ihn.
Abgeschrieben. Flexibilität ist der absolute A-Skill. Erneuerung kurz dahinter. Verlüste nicht betrauern oder begraben, sondern abstoßen wie tote Zellen. Torben sieht nochmal nach Carla, wie sie am Schreibtisch sitzt und sonstwas schreibt. Er rollt sich zusammen, Gesicht zur Wand.

Jetzt ist er fertig. Faltet sich zurück, gesättigt und befriedigt, wie ein Säugling, still und bedürfnislos. Wie banal diese Menschenfigur ist, sein Versuch, die Verklemmtheit über das Ventil von Bizarrheit zu steuern. Seine Langweiligkeit hat den Abend ja doch ein bisschen vermurkst.

Carla geht zum gemeinsamen Bett und überlegt, dass es Zeit für Umziehen ist, in ein anderes Leben. Oder wenigstens was Neues versuchen. Liebe soll groß im Kommen sein, sie hat das Gefühl, die könnte ihr gefallen. "Gute Nacht Schatz." Sie beugt sich über Torben und haucht ein Küsschen auf seine Wange. Er antwortet nicht. "Muss ich mir Sorgen machen?" Gefallen ist vielleicht das falsche Wort, denkt sie. Carla faltet die Hände über der Mitte und sondiert die nachtdunkle Decke. Aber Probieren könnte man das Lieben. Vielleicht ein Foto machen.

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#2

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in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 27.05.2011 22:39
von Gedichtbandage • Mitglied | 531 Beiträge | 525 Punkte

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>> Du verdammter Sadist:
Du versuchst deine Leser zum Denken zu zwingen.<< - E. E. Cummings zu Ezra Pound
zuletzt bearbeitet 01.06.2011 20:46 | nach oben

#3

RE: Uti & Carla

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 29.05.2011 21:41
von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte

Hi Gb!
Nein, nur Lob!

Finde ich ne tolle Idee, das von unten nach oben zu lesen. Schaffst du auch von rechts nach links? Das wäre so die erste Schwierigkeit, die mir dazu einfiele. Ohne Dieb aus der Nacht wäre der erste Satz doch etwas mager. Frischere Gleichnisse!? Okay, kommt auf die Liste, kann nie schaden. Aber Stringenz wäre hier fehl am Platz, das soll so, aber wenn es trotzdem der Worte wert war, scheint ja außer Verwirrung noch was Gutes bei rumgekommen zu sein. Das freut mich. Danke für die Rückmeldung.

Grüße
Kjub

zuletzt bearbeitet 29.05.2011 21:42 | nach oben

#4

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in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 31.05.2011 00:38
von Gedichtbandage • Mitglied | 531 Beiträge | 525 Punkte

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zuletzt bearbeitet 01.06.2011 20:46 | nach oben

#5

RE: Uti & Carla

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 01.06.2011 19:46
von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte

oh, wenn GB mich vor der in dieser Collage an den Tag gelegten Beliebigkeit retten will, möchte ich dem nicht im Wege stehen! Zumindest nicht, bevor ichs mal quergelesen habe. Also falls du da tolle oder schlaue oder brauchbare Sachen hast, bitte zuschicken, falls es nicht zu viele Umstände macht. :)
Salut!

zuletzt bearbeitet 01.06.2011 19:46 | nach oben


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