#1

Milchjungenrechnung

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 28.01.2011 23:18
von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte

Als ich Lisa das erste Mal sah, hätte ich nie gedacht, dass sie im Bunde ist mit dunklen Mächten: Strahlendes Lächeln, blitzende Augen, weiße Haut. Doch sie ist mehr als man sieht, als wäre sie von dunkler Materie erfüllt.
Woher sonst diese Anziehungskraft auf Gefühl und Gedanke? Ich hielt mich für einen rundum zufriedenen Menschen. Bis sie auftauchte. Seitdem fehlt mir jemand, den ich vorher gar nicht kannte.

Jetzt kriegt mein Alleinsein so Phasen, in denen es mit langem Gesicht, das Kinn auf die Hand gestützt, lange Seufzer macht und laut überlegt, sich in Einsamkeit umtaufen zu lassen. Das ist ein Druckmittel, mehr noch, ein Erpressungsversuch. Einspruch!, denke ich - nicht mit mir. Nicht in mir! Aber so richtig bin ich nicht mehr Herr im Haus. Mein Alleinsein will ihr Alleinsein zum Spielkameraden haben. Das scheint auf den ersten Blick nicht verhandelbar.

Da fällt mir ein, dass mal einer was darüber geschrieben hat. Also einer von vielen, aber dieser Eine hat daraus eine Gleichung gemacht. Lautet: Alleinsein² = Einsamkeit. Um die zu lösen reicht der Verstand, da kann das Alleinsein ruhig weiter jammern.

Ich überlege, wie es wäre, Alleinsein² durch zwei zu teilen. Hm. Wenn man fairerweise in der Mitte teilte, bekäme man Allei und nsein. Das klingt erstmal bescheiden. Man müsste irgendwie All und einssein draus machen können! Also etwas gröber teilen, mit beiden Augen zugedrückt sozusagen – da hätten ja auch beide mehr, als von Allei und nsein. Aber woher das zweite s nehmen? Mal sehen. Daraus will ich was machen, das stell ich mir als Tagesaufgabe. Eine der kosmischen Fragen zu beantworten, die immer mal wieder auf der Tagesordnung stehen.
Einsamkeit ist ein bisschen wie die Hintergrundstrahlung des Urknalls - sie umgibt uns alle, aber normalerweise fällt sie nicht auf. Man braucht nur keine so feinen Sensoren, um sie wahrzunehmen, weil sie ziemlich aufdringlich ist, wenn sie doch mal in Erscheinung tritt.
Wenn die Frage geknackt ist, schreib ich die Antwort auf, falte das Blatt zum Flieger und lass ihn segeln – wers findet, darfs behalten.

Das vibrierende Mobiltelefon kündigt Lisa an. Bin in zehn Minuten da!, schreibt sie. Kaum Zeit, sich Wasser ins Gesicht zu werfen und Kaffee zu machen. Lisa liebt Milchkaffee mit Zimtschaum, hauptsächlich wohl um die Krone abzulöffeln. Der Kaffee ist häufig schon kalt, wenn sie mit nachpulvern und naschen fertig ist.

Bei mir wird der Kaffee türkisch zubereitet, das hab ich ihr gleich beim ersten Besuch gesagt – aber es gibt einen Haferkeks dazu. Sie fand das nicht so richtig witzig. Hat mich trotzdem auf ein prächtiges Essen eingeladen. An dem Abend gab es jedoch nur mit Käse belegtes Schwarzbrot und Alsterwasser. Ich hab schon verstanden, was sie mir damit sagen wollte, lobte aber den saftigen Brotteig und den cremigen Käse, als ob es nichts besseres gäbe. Sie bedankte sich mit aufrichtig erfreutem Gesicht, als ob sie das Korn selbst gepflanzt und den Käse aus eigener Milch gemacht hätte. Beim nächsten Mal revanchierte sie sich mit vielen Haferkeks-Komplimenten. Ihr schien der Zimtschaumverzicht leichter zu gelingen, als mir die Gewöhnung ans Brausebier. Das hing mir von Mal zu Mal mehr aus dem Hals. Bald kaufte ich dieses schnaufende Ungetüm. Das kann alles, was Kaffee im Namen trägt. Seitdem kriegt Lisa ihren Milchkaffee mit Zimtschaumkrone. Aber keinen Haferkeks dazu.

Die Türklingel. "Ich bins, Lisa!", sagt sie.
"Oh!", sage ich, "Komm rein!"

Sie läuft mit Affenzahn und riesiger Lautstärke die Treppen hoch, kommt schon um die Ecke getobt, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Das Gesicht bis zur Nase vom Schal vermummt. Unter der Mütze luschern ein paar Strähnen hervor. Nur ihre roten Wangen sind zu sehen und die Augen. Die blitzen schon wieder frech bis übermütig. In der Stimmung erinnert Lisa mich stets an Pippilotta, obwohl sie überhaupt nicht wie die Langstrumpf aussieht. Das belebt mich jedesmal, Lisa zu sehen. Das ist wie das Tauchbad nach der Sauna, nur wärmer und eher angenehm als schockig. Aber auch auf einmal.

Sie zerstrubbelt meine Haare und sagt, dass sie jetzt ein richtiges Frühstück bräuchte. "Frische Brötchen!", sagt sie und zeigt auf eine Bäckertüte, aus der es dampft.
"Hereinspaziert", sage ich. Als sie mich passiert, versuche ich ihr einen Kuss auf die Wange zu geben, treffe aber nur den Schal, dann ist sie schon vorbei. Und ich habe Flusen am Mund! Ihrer Gravitation folgend blicke ich Lisa nach, und stelle mir vor, wie wir uns küssen, wobei ihr Mund ein schwarzes Loch ist, das mich verschluckt. Kopf, Oberkörper, zuletzt sieht man die Sohlen meiner Sneakers. Nachdem auch die weggesaugt sind, stößt sie einen mickrigen Energieblitz auf.
"Jetzt Frühstücken!", rufe ich. "Dass du ein studentisches Lotterleben führst, weißt du aber, ja? Es ist fast zehn!"
"Ach", sagt sie, "wieder aus dem Bett gefallen?"
"Nutze den Tag!", antworte ich und rutsche auf Socken über das Parkett zum Radio. Acid Jazz. Dann Kaffee trinken, eine Orange pressen, Gala durchblättern, Brötchen schmieren, über ein altes Klatschmaul lästern, mehr Kaffee, ein kurzes Tänzchen, Brötchen essen, Horoskope vorlesen, Orangensaft trinken.

"Herbstspaziergang?", fragt sie, das leere Saftglas in der Hand. Ich nicke. "Genehmigt!" Hemd aus, Unterhemd an, Hemd wieder an, Pullover rüber, rein in Herbstmantel und Schuhe. Lisa wartet schon. Trotz der komplizierten Schalkonstruktion. "Trödelhannes", sagt sie, "wenn ich so langsam wär, würd ich auch zwei Stunden eher aufstehen."
"Gibts das? Ich steh so früh auf, um wichtige Sachen zu machen!"

Herbstspaziergang. Wir gehen über blätterbedeckte Bürgersteige, manchmal berührt ihr Arm meinen, das find ich gut, und sie erzählt vom Bundesvision Song Contest. Wer aufgetreten ist und wie die ausgesehen und gesungen haben. Mitten auf dem Fußweg macht sie jeden einzelnen Musiker einer vierköpfigen Band nach. Manchmal reicht ihr Sprache einfach nicht, das ist Umgebungsunabhängig. Sie bläst ihre Wangen auf und trompetet, rockt an Luftschlagzeug und -gitarre und singt ohne Stimme in ein imaginäres Mikrofon.
Zum Schluss fasst sie sich ans Herz und singt mit stimmloser Inbrunst die letzte Zeile. "Großartig!", sage ich, "denen hat Bohlen bestimmt den ersten Preis gegeben, oder?"
"Quatsch, sollt 'ne Satire sein! Außerdem ist das nicht Bohlen sondern Raab. Bohlen ist DSDS."

"Hör mal", sage ich auf dem Rückweg. "Alleinsein² = Einsamkeit sagt jemand ... da hab ich mir gedacht! ... als Lösungsvorschlag ... wie wäre es, Alleinsein einfach durch zwei zu teilen?"
Lisa sieht mich an, den Kopf wiegend, sie wirkt nicht überzeugt. Ich lege nach. "Man müsste nur noch ein s irgendwo herkriegen, dann hätte man das einssein, das ist doch was richtig Gutes! Und ein All gibts dazu! Damit lässt sich bestimmt auch was anfangen. Natürlich kann man es dann nicht in der Mitte teilen, aber zwei Hälften wären es schon."
"Wenn etwas potenziert ist", sagt sie, "lässt es sich nicht einfach dividieren. Man muss erst die Wurzel aus Einsamkeit ziehen", grinste sie. "Dann kann man durch zwei teilen."

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#2

RE: Milchjungenrechnung

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 29.01.2011 14:18
von Rubberduck | 558 Beiträge | 558 Punkte

Oh, das war wunderwunderschön, habe ich in einem Zug geleert. Leider habe ich nicht viel Zeit heute, komme in den nächsten Tagen noch einmal ausführlicher auf deine Geschichte zurück!

LG,
Bärbel

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#3

RE: Milchjungenrechnung

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 29.01.2011 17:12
von otto | 637 Beiträge | 645 Punkte

Lieber Kjub!

Der Text ist mir etwas zu kopflastig, führt zu Wortverfransungen. Mit Lisa kommt er in Fahrt.
Ich bin bisher der Erfahrung, dass viele Menschen sich zuweilen alleine, dann wieder zu zweit, und wiederum in der Gruppe wohlfühlen können. Alle drei Formen sind ja Beziehungszustände: wie geht es mir mit mir alleine, zu zweit, in der Gruppe? Wie färbe ich auf andere, wie andere auf mich ab? Einsamkeit kann ein Gefängnis sein. Der Eremit, der sie sucht sieht das sicherlich anderes. Als soziales Wesen brauche ich grundsätzlich ein menschliches Gegenüber. Tiere sollen mir nicht als mißbrauchte Ersatzwesen gelten.

Lisa ist liebenswert beschrieben. Sie erscheint unkompliziert, geradezu, mit beiden Beinen auf dem Boden. Es scheint, dass die beiden Protagonisten sich lieben, mindestens ineinander verliebt sind. Aber auf die Dauer wird es Lisa vermutlich nicht durchgehen lassen, wenn der männliche Part zu viel ... zerredet. Nun ja , viele Beziehungen zerfallen irgendwann wegen Unerheblichkeiten über immer wieder kehrenden Streit. Dann vielleicht ist es Zeit für ein grundsätzliches Gespräch... zum Thema ... teilen.

Das Thema ist wichtig.
Die Dialoge wirken etwas gekünstelt.

Danke für den Text.

Gruß otto, und ein hoffentlich schönes Wochenende.

zuletzt bearbeitet 29.01.2011 17:15 | nach oben

#4

RE: Milchjungenrechnung

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 31.01.2011 06:49
von Rubberduck | 558 Beiträge | 558 Punkte

Eine Liebeserklärung an einen Menschen, der vielleicht gerade deshalb geliebt wird, weil er so anders ist als ich, weil er alles das an Eigenschaften in sich vereinigt, was ich gerne hätte, gerne wär.

Milchjungenrechnung nennst du deine Geschichte - und die Überschrift passt wie Faust aufs Auge.

Er ist allein und würde das gerne ändern. Er versucht das Problem mit männlicher Logik zu lösen, auf eine Formel zu bringen. Doch sie spielt nicht mit, denn Frauen lassen sich nicht in eine Formel packen und logisch ist die Liebe nie. Freundschaft verbindet die beiden – und das ist viel. Sie mag ihm nicht wehtun darum verpackt sie ihre Verneinung sehr nett, für ihn verständlich. Und doch nimmt sie ihm nicht jegliche Hoffnung. Er soll die Wurzel ziehen. Des Wurzels Übel? Schafft er das?

Ich mag die Charaktere, sie sind sehr liebenswert. Der Erzählton ist ein wenig melancholisch, doch nicht hoffnungslos, sondern heiter beschwingt – so mag ich es am liebsten.

Meinen Nerv hast du total getroffen und eine Fortsetzung der Geschichte würde mich freuen.

Liebe Grüße,
Bärbel

zuletzt bearbeitet 31.01.2011 07:14 | nach oben

#5

RE: Milchjungenrechnung

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 31.01.2011 10:31
von chip | 433 Beiträge | 461 Punkte

Hallo kjub,

Welche dunklen Mächte hier am Werk sein sollen, wird bis zum Ende der Geschichte nicht klar.
Ist etwa dieser TV Zirkus gemeint? Das wäre mir zu finster. Erklärte Absicht des Autors, eine
Leserschaft, die sich in Foren wie diese flüchtet, über aktuelle Fernsehsendungen zu unterrichten?
Die Story rutscht mir zu sehr ab in Banalitäten und erholt sich davon nicht mehr.

Bleibender Eindruck: Einsamkeit entsteht durch Wahl des falschen Partners und Zugeständnisse.
Kompromisse werden eingegangen, um den anderen nicht zu verlieren. Irgendwann lügen beide.
Der Bruch des Paares ist vorprogrammiert, der philosophische Protagonist ein Dünnbrettbohrer,
die Zicke selbst für ihn zu dämlich.

Sorry, aber herumsabbernde Lobhudelei geht mir auf den Senkel. Dagegen verwehre ich mich. Chip

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#6

RE: Milchjungenrechnung

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 31.01.2011 20:03
von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte

Hallo Otto

Danke für die ehrliche Rückmeldung und die Gedanken zur Thematik. Ja, etwas kopflastig ist der Text sicher, der Kern ist ja diese etwas verstiegene Überlegung um Alleinsein² = Einsamkeit - das ist das Hirn, das da spricht. Oder, wie rubberduck schön auf den Punkt brachte: Mein Ich-Erzähler versucht eine Formel zu lösen, die vielleicht vom poetischen Standpunkt aus interessant ist, aber mit Liebe oder etwas Ähnlichem so viel zu tun hat wie ein Lemming mit lebensverlängernden Maßnahmen.

Hi Rubberduck

Zitat

Ich mag die Charaktere, sie sind sehr liebenswert. Der Erzählton ist ein wenig melancholisch, doch nicht hoffnungslos, sondern heiter beschwingt – so mag ich es am liebsten.

Meinen Nerv hast du total getroffen und eine Fortsetzung der Geschichte würde mich freuen.



Melancholisch und gleichzeitig heiter finde ich eine tolle Mischung! Ein schönes Lob, danke. Freut mich, dass es dir gefallen hat - aber eine Fortsetzung wird es wohl eher nicht geben.

Zitat
Eine Liebeserklärung an einen Menschen, der vielleicht gerade deshalb geliebt wird, weil er so anders ist als ich, weil er alles das an Eigenschaften in sich vereinigt, was ich gerne hätte, gerne wär.



Hö? Ist doch Quatsch, mach dich mal nicht so klein. Ich kenn dich ja nur einen Nachmittag lang, aber da hast du doch richtig gut ausgesehen - ich habe meine erste Lesung längst nicht so souverän hinbekommen.

Hi Chip

Kann ich gut verstehen, mich macht es in der Forenwelt auch manchmal wütend, wenn ich denke, jemand würde unberechtigterweise gelobt, eher als Person als für den Text bspw.

Aber deine Sicht auf Zweisamkeit und wie sie zerbricht, ist schon ziemlich düster, oder? Das hier soll eigentlich nur ein bisschen Spaß machen, solch dunkle Assoziationen wollte ich nicht wecken. DSDS und Gala sind auch in der Geschichte, um ein Gegengewicht zu der döselig-intellektualisierenden Gleichung zu bilden. Dass mir hier niemand den Elfenbeinturm nachsagen kann! Da würd ich ja noch lieber Popkultureller genannt werden.

Vielen Dank euch fürs Feedback und herzliche Grüße!

Kjub

PS: Ursprünglich war da was mit Liebe=Zauberei (dunkle Mächte) drin, aber das war mir dann zu viel für die paar Zeilen. Immer noch findet man das Dunkle in dem Astro-Zeug wieder: Dunkle Materie, Schwarzes Loch.

zuletzt bearbeitet 31.01.2011 23:22 | nach oben


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