#1

Vermenschlichung

in Mythologisches und Religiöses 13.12.2005 08:41
von GerateWohl • Mitglied | 2.015 Beiträge | 2015 Punkte
Vermenschlichung

Der Herrgott lässt uns nicht allein
Sein Auge sieht stets was wir tun.
Nicht tatenlos ist er, greift ein,
ist immer da, muss niemals ruhn.

Ja, er ist himmlisch, unser Vater,
sein Sohn, der sitzt zu seiner Rechten,
und der ertrug die schlimmste Marter
für alle Menschen, auch die schlechten.

Gottvater reicht uns oft die Hand
und hilft uns Sündern, wo es geht.
Er führt dich sanft, meist unerkannt,
da ihm das Schicksal untersteht.

Wenn jemand sagt, dass Gott ihn lenkt
und mir so einen Vortrag hält,
dann denke ich, wer so was denkt,
ist einer, der auch Tiere quält

mit dümmlicher Vermenschlichung.
Der macht von Affen in Pullundern
auch Fotos zwecks Verniedlichung.
Da kann man sich echt nur noch wundern.

Die Schöpfung nach dem Ebenbild,
die habt ihr falsch interpretiert.
Auch wenn's die Eitelkeit nicht stillt,
er ist halt Gott, nicht Mensch, kapiert?

Er ist kein alter, weiser Mann
mit langem weißen Rauschebart,
der auf den Wolken sitzen kann
und Betenden ihr Leid erspart.

Er zeigt sich uns in jedem Halm,
der wächst in jedem Tal und Berg.
Er ist der Wind, das Feuer, Qualm,
er ist des Lebens Regelwerk.

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#2

Vermenschlichung

in Mythologisches und Religiöses 14.12.2005 11:18
von Mattes | 1.141 Beiträge | 1141 Punkte
Mann, Alter, hier hast du dir aber eine Aufgabe gesetzt, die erst einmal gestemmt werden will, Respekt. [9]

Moinsen, GerateWohl!

Mit Beginn der vierten Strophe war ich erleichtert, dass du die ersten drei Strophen nun zu kontern gedachtest. Sollte es deine Absicht gewesen sein, diese ersten Strophen leicht dümmlich erscheinen zu lassen, so ist dir das vortrefflich gelungen. Nicht falsch verstehen, bis auf die etwas Yoda-mäßige Zeile 3 ist das alles sprachlich, metrisch, reimerisch trefflich gemacht, offenbart aber eben ein reichlich schlichtes Gedankenkonstrukt, ist mithin als gelungen zu bezeichnen.

Die folgenden vier Strophen drehen dann sehr schön auf, sowohl inhaltlich, als auch mit teilweise erstaunlichen Reimen, zeilen- und strophenübergreifenden Enjambements usw. Das gefällt mir alles sehr gut und ist auch in sich stimmig und trotz aller Genervtheit auch ein wenig launig formuliert. Hier wäre nach meinem Ermessen einzig die plötzlich verallgemeinernde Anrede in S6Z2 zu bemängeln, da aus dem "Jemand" plötzlich alle oder zumindest mehrere werden.

Während das eine Kleinigkeit ist, stellt die letzte Strophe nach meinem Gefühl allerdings einen echten Bruch dar und das lyrI verhebt sich. Der lockere Ton des Gedichtes geht flöten und anstelle des naiven Gotterklärers der ersten drei Strophen tritt nun der nächste Missionar an. Bitte auch hier nicht falsch verstehen: Grundsätzlich finde ich es respektabel und auch ein wenig mutig, den Deppen der ersten Strophen nicht nur zu negieren, sondern auch eine eigene Erklärung anbieten zu wollen. Warum die allerdings weniger dümmlich sein soll, bleibt offen, denn in einem so knappen Vierzeiler wird das Gottesverständnis des lyrI zwangsläufig auch nicht besonders deutlich. Und, schlimmer noch, in der Abschlusszeile kommt das lyrI dem lyrDu sogar ziemlich nahe.

Vielleicht wirkt es etwas feige, aber du hättest nach meinem Dafürhalten auf die letzte Strophe verzichten sollen. Die vorletzte ist stark genug.

Auf jeden Fall habe ich mal wieder gerne und interessiert etwas von dem alten Rauschebart gehört. [13] Danke dafür.

Grüß Gott!
Mattes

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#3

Vermenschlichung

in Mythologisches und Religiöses 16.12.2005 17:31
von GerateWohl • Mitglied | 2.015 Beiträge | 2015 Punkte
Hallo Mattes,

etwas verspätet meine Antwort. Erst einmal vielen Dank für den Kommentar. Freut mich, dass es Dir weitgehend gefällt. Ich bin mir bei diesen 4-hebigen Jamben ja immer etwas unschlüssig, ob ich das nicht ziemlich langweilig finde, besonders, wenn sie so kreuzgereimt daher kommen. Andererseits hätte ich es in diesem Fall auch nicht anders gewollt.
Zu der letzten Strophe: Es geht mir in diesem Gedicht ja nicht direkt gegen Religiösität oder Glauben, sondern, wie im Titel gesagt, die "Vermenschlichung". Das Ich ist durchaus gläubig, wie es in der drittletzten Strophe andeutet und in der letzten dann klar äußert. Es zweifelt hier nicht an Gott an sich, sondern an dem beschriebenen Bild und kritisiert die dahinter stehende menschliche Arroganz. So war es zumindest gedacht.
Dank Dir fürs Lesen.

Schöne Grüße,
GerateWohl

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#4

Vermenschlichung

in Mythologisches und Religiöses 23.12.2005 11:15
von Don Carvalho • Mitglied | 1.880 Beiträge | 1880 Punkte
Hallo GW,

ich finde das alternative Glaubensverständnis am Ende in Ordnung, da ja keine grundsätzliche Lehre verbreitet werden soll, sondern nur ein anderer Schwerpunkt gesetzt wird. Das Bild vom Menschen als Krone der Schöpfung wird zurechtgerückt und daraufhingewiesen, dass alles Teil eines göttlichen Planes ist. Somit sind die Bestrebungen, den Mensch als Maß aller Dinge zu sehen und diesem scheinbar so Gottähnlichen alles anzugleichen, nach Auffassung des lyrIchs eben Unsinn. Das wird alles schlüssig dargeboten, der letzte Vierzeiler ist die darausresultierende conclusio. Allerdings geht mit diesem Ende, da stimme ich Mattes zu, einiges vom Augenzwinkern verloren.

Der Beginn ist in seiner inhaltlichen Schlichtheit fast gefährlich für jemanden wie mich, der bei so langen Gedichten aufmerksamkeitsbedingt in den ersten Strophen steckenbleibt und dann bei Nichtgefallen abschaltet. Diese Eindimensionalität langweilt (soll es ja auch) und ich war, ebenso wie Mattes froh, dass dann der Ton interessanter wurde. Und da sind Dir einige sehr schöne Strophen gelungen, die inhaltlich überraschen und sprachlich überzeugen. Ganz besonders gelungen ist Dir das in den Str. 4 & 5. Der Tierquälereiaspekt in der 4. Str. wirft einen aus der Bahn und macht einen aufmerksam, die in der folgenden Strophe gegebene Erläuterung, womit gequält wird, überrascht noch einmal. Ein tolles Strophenenjambement!

Auch metrisch ist das alles rund, einmal abgesehen von der etwas merkwürdigen Betonung des "interpretiert" in Str.6/ Z.2. Gefällt mir alles in allem sehr gut, gern gelesen,

Don

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