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Miniaturwunderwelt
#1
von Brotnic2um • Mitglied | 645 Beiträge | 645 Punkte
Miniaturwunderwelt
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 05.09.2008 10:03von Brotnic2um • Mitglied | 645 Beiträge | 645 Punkte
Miniaturwunderwelt
Heute, und das war ein langer, langweiliger und langatmiger Tag heute, habe ich einen alten Freund wieder getroffen mit dem ich seinerzeit Wiesen abgeraucht, Weizenfelder geerntet, etliche Trauben verkostet und die griechische Inselwelt per Moped erobert habe. Nachdem ich meinen Magister Artium hatte, gönnte er sich noch einen Doktor in Jura. Gelandet sind wir in vielen Betten und wurden schließlich alt genug, um aus dem letzten nicht mehr aufzustehen – oder nur selten und nicht wirklich mit Elan – so sind wir im Dritten Programm der Wohlstandsgesellschaft gelandet. Vielleicht sollte ich arte sagen, damit ich verständlich bleibe?
Wir besitzen nicht nur das Zweit- oder Drittbuch, wir liegen nicht nur am Strand, erobern nicht in Reisebusstärke die Einsamkeit der Bergwelt, nein, wir interessieren uns für Kultur, die schönen Dinge des Lebens. Wir haben unser eigenes Buzzword-Bingo wie monologisch, kryptisch, virtuell, tautologisch und innovativ, Anagram und Palindrom, Pointilismus und polymorph, das sind die Fraktale in unserer dialogischen Instanz. Was das bedeutet? Wir haben unser Auskommen, wir sind kreditwürdig und satt.
Heute, als ich ihn im ICE nach Bielefeld wieder getroffen habe, gab es das übliche „Mensch, du hier?“ Und: „Was für ein Zufall“. Letzteres wurde wechselseitig mit einem mimischen oder verbalen „na, na!“ Quittiert. „Na, na“ sagten, meinten wir, weil jedem von uns beiden die Beliebigkeit nur ein dummer Zufall oder besser: beliebiger Mix aus Spermarotz auf Tagesform abhängigem Eidotter zu sein, unsere Bedeutung und Buzzwords nivellieren und unser Ego geradewegs in ein kleines Nichts verdampfen würde. Geht gar nicht.
Wir überbrückten in höflichster Form das total voneinander angeödet seins, dass sich sehr schnell einstellte und auch noch den pelzigen Geschmack trug, sehr alt geworden zu sein, denn die gemeinsamen Erinnerungen waren schal, staubig und sie wirkten grotesk, geradezu fratzenhaft in diesem ICE nach Bielefeld. Dieser Umstand brachte uns aber glücklicherweise auf Rainald Grebe und dann auf jene andere Liedzeile: „Du bist der Ausstieg aus der Spaßgesellschaft“. Wir hatten ein Gesprächthema: die allgemeine Lage in Kunst und Kultur. Spannend und unverbindlich genug um bis zum Ziel nicht aus Verzweiflung, den alten Freund oder sich selbst, aus dem Zug zu werfen.
Er erzählte mir, dass er kürzlich eine Freundin aus dem Süddeutschen Raum getroffen habe und mit ihr bei einer Lesung eines dort bekannten Künstlers war. Die Lesung sei aber gar keine Lesung gewesen, sondern eine grandiose Performance.
„Als der mit einem Male im Zuschauerraum stand, strahlte der gleich eine Präsenz aus: sagenhaft. Der hätte gar nicht auf die Bühne gemusst, aber als er die im wahrsten Sinne des Wortes erklommen hatte, passierte eine halbe Stunde lang, da kommst du nie drauf“, erzählte mein Freund voller Begeisterung.
„Er schwieg?“, fragte ich ironisch dazwischen.
„Zu abgeschmackt, mein Bester. Er fing an seinen Zettel zu suchen.“
„Seinen Zettel?“
„Genau. Sein Zettel auf dem angeblich die Texte, das Programm sei. Innerhalb einer halben Stunde hatte er das Publikum vollkommen verunsichert und seinen eigenen Kunstraum geschaffen. Als erstes verschwand das Programm und obwohl er auf einer Bühne stand, ließ er auch die verschwinden.
Mich hat das unheimlich beeindruckt, wie leicht er die Patterns von vierzig, fünfzig Menschen, vollkommen aufgelöst hat. Totale Verunsicherung ohne etwas anderes zu tun, als zu suchen. Er hat nicht zum Publikum gesprochen. Er hat sich nicht gemein gemacht, aber du hast nichts von dieser affektierten Künstlerhybris gespürt. Der Kerl ist echt. Das war für mich ein Caspar Hauser Erlebnis.“
„So Basic?“, fragte ich skeptisch.
„Absolut. Straight und strictly natural, mein Lieber. Ab und zu stammelte er Halbsätze vor sich hin, manchmal nur Buchstaben, oft das "i", aber aus diesen Wortfraktalen hat jeder sich – wie Lego –„
„Erinnert mich an das Lied: Gehirnlego“, unterbrach ich ihn
„Besser. Blixa Bargeld ist ein alter Mann, der nichts mehr neu erfinden kann.“, antwortete er lächelnd.
„Es erinnert mich aber doch an Lego, weil er anscheinend nichts abbilden will, sondern eine Dekuvrierung der Bühne und des Künstlers vollzieht, indem er nur die Bausteine liefert aus dem jeder sein individuelles, originäres Kunstwerk zusammensetzt, vorausgesetzt der Zuschauer ist bereit nicht nur Kulturmastschwein zu sein, und zu futtern was der Bauer in die Spreu streut, sondern endlich – zweihundert Jahre nach Kant; sapere aude! – auch im Kulturbetrieb ein aufgeklärter Mensch zu sein. Interessantes Konzept.“
„Unbedingt. Aber - entre nous im Foyer habe ich die Leute einen Stuss schwätzen hören. Nichts verstanden. Höre, mein Lieber, die Kevins und Manolitos werden uns bald regieren und – wie hast du es formuliert? – Kulturmastbetriebe für Pigs in Szene setzen. Das ist richtig.
Aber deine Lego Metapher geht trotzdem fehl, denn die Bausteine, die du – reg Dich jetzt nicht auf – in abendländischer Erwartung, dass ein Anfang auch ein Ende haben muss, ein System immer erkennbar und mit Fuzzy Logic auch das Chaos kartiert werden kann, wird von diesem Jojo vollkommen konterkariert. Löse dich von Deinem Leg-Denken.“
Während er mir dies ins Gebetbuch schrieb – wir saßen uns gegenüber – hatte er sich wie ein Verschwörer mehr und mehr vorgebeugt, seine Stimme gesenkt und als er geendet hatte sich ruckartig und triumphierend mit einem maliziösen Lächeln zurückgelehnt und leicht nach links geschielt, so als säße dort ein Publikum, dass seinem Intellekt huldigen müsste. Dann griff er in seine Sakkotasche und überreichte mir den Flyer zum Programm dieses Künstlers: „Jojo – Inkarnation der Anarchie.“
Ich schmunzelte und sagte nichts dazu. Aber weil er mich zögernd sah, bemerkte er, dass die Werbung ein Freundeskreis finanziert hätte. Aber ich schmunzelte, weil mir für einen kurzen Moment alles lächerlich erschien.
Es war der Moment wo mir das Buzzword-Bingo eingefallen und ich die dritte Programm Metapher vor Augen hatte und vor mir saß in toto die Film-Amerikanerin, die soeben triumphierend Mr. Tod davon in Kenntnis gesetzt hatte, dass sie nicht tot sein könne, weil sie nichts von der vergifteten Lachsschaumspeise gegessen hätte. Das war vielleicht korrekt, aber wer hat sich als der Mächtigere herauskristallisiert: Mr.Tod oder die Amerikanerin?
Ich hätte brüllen können vor Lachen und Verzweiflung, aber der Zugführer rettete mich und gab bekannt, dass Bielefeld in wenigen Minuten erreicht werde. So als hätte Dr. Pawlow die Klingel geläutet, begannen die Reisenden diverse Automatismen durchzuführen: Müll einsammeln, Sachen ordnen, Mantel anziehen und so weiter. Es kommt zwar eine gewisse Hektik auf, aber ich erlebte sie nur als immer schlimmer werdende Erstarrung in Routine.
Wenige Augenblicke später standen wir marschbereit an der Waggontür. Wir tauschten jetzt wirklich nur noch Wortfetzen allgemeiner Art aus und endlich stoppte der Zug. Ich drückte, denn ich stand näher zum Ausstieg, auf den grün gewordenen Ausstiegsknopf, die Tür glitt auf, ich drehte mich noch kurz nach rechts und erschreckte mich wie nie zuvor.
Ich wollte das erlernte „Auf Wiedersehen, bis Bald und mach’s gut“ loswerden, erwartete ein „Ich seh’ Dich, mein Lieber“ von ihm, aber er war nicht mehr da, beziehungsweise da stand nur noch etwas, was wie er aussah, aber keine Seele mehr hatte. Ich sah mich einer Figur wie aus dem Wachfigurenkabinett gegenüber. Aber es war kein Wachs. Es war etwas anderes. Die Gesichtszüge waren erstarrt in einem ironischen Grinsen. Ich glaube, ich atmete heftig und ich glaube ich habe auch geschrieen. Meine Stimme hallte, aber nicht wieder. Ich spürte sogleich mich hört hier keiner und ich war nicht mehr allzu überrascht, dass nicht nur mein Freund, sondern alles andere auch erstarrt war.
Langsam stieg ich aus dem ICE, der nur ein Abbild eines ICEs war, und bemerkte, dass mein Freund weiterhin auf die Stelle blickte, wo ich eben noch gestanden hatte. Hinter ihm standen weitere Figuren, ebenso starr und in ein nirgendwo blickend.
So bewusst habe ich Luft geholt, dass ich gewahr wurde, wie aufgeregt ich war und wie schwer es mir fiel nicht in Panik auszubrechen. Die ganze Welt hatte sich in die Idylle einer Modelbahnanlage verwandelt. Alle auf dem Bahnsteig, alle im Zug, einfach alles. Es war sehr sauber, sehr aufgeräumt und blank gewischt.
Ich fühlte meinen Puls. Ich zählte die Schläge und beschwor mich: Du lebst! Dabei wandelte ich in der Optik des alten, schönen im Jugendstil gebauten Bahnhofes Bielefelds umher. Er war sauberer und klarer als ich ihn in Erinnerung hatte, aber noch immer verspürte ich keinen Widerhall und Sandstein fasste sich wie Plastik an. Kein Geräusch berührte meine Ohren. Nur ein dumpfes, tiefes Rauschen konnte ich wahrnehmen, so als tauchte ich oder trüge Ohrstöpsel.
Die Figuren: alte Tanten, Hoheitspersonal, Geschäftreisende, verbitterte Lehrer, naive Kerle, gefährliche Mädchen, sie waren alle da, aber alle kalt und steif. Und nicht aus Wachs sondern aus Plastik. Ja, ich habe sie berührt, angefasst und meine Lippen bewegt und war mir ganz sicher, dass alles aus Plastik war. Der Bahnhof, der Zug, die Menschen. Unwillkürlich musste ich grinsen, als ich in Erwägung zog, dass möglicherweise nur ich falsch und alle anderen gerade mich bestaunten. Aber zum Glück war ihr Blick starr und wanderte nicht mit meinen Bewegungen mit.
Modellbahnwelt, das war mein Schlüssel. Faller und Märklin. Denn so, bildete ich mir ein, musste sich eine Miniaturwelt anfühlen. Alles sauber, alles starr. Sauber, weil der Müll sich nicht vermehrt sondern festgeklebt ist. Wie irre grinste ich, weil ich versuchte, diesen Schecken in ein System zu bringen, ein System dass ich kenne oder durchschaue, weil ich überleben wollte. Ich hatte verschissene Angst. Vor allem, weil ich nichts hörte, so als könnte ich meine Gedanken nur lesen und nicht hören was ich dachte. Ohne Pause ratterte in Großbuchstaben auf der Innenseite meines Frontallappen Botschaften entlang, In diesem Moment wünschte ich mir, ich könnte meine Gedanken einfach zerfetzen, auseinander reißen, weil meine Gedanken unaufhörlich die Bielefelder Bahnhofswelt reflektierten und das machte alles noch entsetzlicher.
Von Panik ergriffen, stürzte ich durch den Bahnhof, überlegte, meinen Koffer fallen zu lassen, aber hielt ihn dann doch fest, weil mein innerer Gedankenticker behauptete, ich solle ihn nicht fallen lassen, denn ansonsten würde ich mich endgültig verlieren, denn der Koffer sei eine Metapher für mich.
Das war ein schöner Blödsinn, einerseits, aber es war auch eine Überlebensstrategie und ich sehnte mich nach Überlebensstrategien, egal wie hergesucht sie auch erschienen. Und da ich nun einmal ein solchen Gedanken gefasst hatte, zwang ich mich den Koffer weiterzuschleppen und ich sagte mir auch, dass der Bahnhof schlechthin Symbol für eine Miniaturwelt sei, und dass viele Geschichten am Bahnhof beginnen oder enden und ich nur den Bahnhof verlassen müsste, um mein ostwestfälisches Leben wieder zu entdecken, um wie ein Fisch darin wieder eintauchen zu können. Voller Hoffnung stieß ich die verglasten Türen des Haupteingangs auf und hoffte wieder vollständige Lebendigkeit zu spüren.
Als ich die Türflügel aufgestoßen und nach draußen gestürmt war, befand ich mich auf der Bahnhofstreppe und schaute hinweg über eine asphaltierte Fläche auf ein weißes Gebäudeensemble. Für einen Moment war ich zu Hause, aber es war auch alles falsch. Denn es bewegte sich nichts, kein Auto, kein Mensch, kein Luftzug. Alles schien mir ein Fake zu sein. Alles. Bis auf die defekte Werbetafel, die über einer der Türen, des weißen Gebäudes gegenüber hing und deren Elektrobuchstaben unkoordiniert aufflackerten. Mal leuchtete ein B, U, A, G oder auch mal ein R und ein weiterer Buchstabe regellos auf.
Langsam stieg ich die Treppen vom Hauptbahnhof hinab und bedachte den Plastik gewordenen Reisenden, der mit fliegendem Schritt und Schlips die Treppen hinauf eilte, mit einem müden Blick. Antworten, so war ich überzeugt, würde es nur hinter der Tür mit der fehlerhaft leuchtenden Elektrofassade geben.
Als ich die Tür unter der Werbeschrift aufgemacht hatte, schlug mir von innen ein muffiger Duft entgegen. Ich stand in einem Foyer einer Kleinkunstbühne. Der Boden war mit rotem Teppich ausgeschlagen und an den Wänden hingen schwarzweiß Photographien der aufgetretenen Künstler samt ihrer Unterschrift. Ob der stummen Atmosphäre fühlte ich mich aber wie in einem Sarkophag. Ich schritt zum Zuschauerraum, dessen Eingänge alle geschlossen waren, so als finde eine Vorstellung statt. Natürlich fand keine statt, aber er war voll besetzt mit solchen Figuren wie ich sie schon vom Bahnsteig kannte. Waren sie dort erstarrt in Bewegung, so waren sie es hier in Vergnügung.
Ich wollte auch diese Exkursion als Fehlschlag verbuchen, da gewahrte ich einen alten Mann, der drei, vier Versionen ein und derselben Figur mal hierhin, mal dorthin auf der Bühne verschob und daran sichtlich gefallen hatte. Ich getraute mich nicht, ihn anzusprechen, sondern beobachtete ihn nur. Er trug eine Brille, hatte weißes Haar, ein filigranes Gesicht und trotz allem einen deutlichen Bauchansatz.
Zufrieden und mit großem Vergnügen webte der Alte an einem seiner Bühnendarsteller, die alle sehr nach JoJo aussahen, einen Draht an den Schritt, dass es so aussah, als ob der auf das Publikum pisse. Das Vergnügen daran, schien mir kindlich zu sein.
Als ich schon fast an der Bühne stand, bemerkte mich der Alte, aber er schaute nur kurz auf und ließ sich in seinem Tun nicht irritieren. Sehr bedrohlich oder gewichtig erschien er mir nicht und so fragte ich ihn leicht genervt, ob er(!) sich diese Miniaturwunderwelt ausgedacht hätte.
Er antwortete ohne mich anzusehen, dass er nur bearbeite was er vorgefunden habe und fuchtelte mit seiner Pattex Flasche in Richtung Publikum und Künstler. Dann lächelte er, und meinte ich solle doch froh sein, dass ich bewegt und nicht geklebt sei und tat dann so als ob er ernst werde, hielt inne, schob seine Brille herunter, inspizierte mich spöttisch interessiert von oben nach unten und bastelte weiter.
Fatzke, dachte ich und bemerkte kurz zu seinem Tun: „Das ist albern.“. Ich hatte die Skurrilität der Situation vollkommen verdrängt.
„Warum?“, fragte er wie beiläufig und ließ sich nicht in seinem Tun beeinflussen.
„Haben sie sich ihr Publikum angesehen, alter Mann?“
Er schaute auf, blickte von den Brettern herab, setzte sich seine Brille zu recht und konstatierte: „Begeistert, wie immer, findest Du nicht?“
„Wie ich es finde? Ich finde sie sind tot. Plastik. Dieses Theater hier ist eine Farce. Eine groteske Farce...“ und ich musste mich bremsen, dass es wohl Bielefeld in Potenz sei einen Jojo auf ein festgeklebtes Plastikfigurenkabinett pissen zu lassen.
„Na, na.“, beschwichtigte er, „nicht so laut. Ich bin mir sicher kleiner Bühnenstürmer, Du wirst Dich einleben. Vertreib Deinen Zorn und ersetze ihn durch Ironie.“, dann atmete er tief durch, blickte in ein Nirgendwo und ergänzte: „Du musst die Welt nehmen wie sie ist, du kannst sie nicht ändern. Nur ein bisschen verrücken – gutes Wort „verrücken“. Mit kleben, fixieren, binden, verdichten, festzurren hältst Du die Welt nur ganz kurz fest – aber Du änderst nie niemals nie nicht ihre Trägheit. Jeder fällt in seine Rolle.“
„Trotzdem klebst Du sie fest? Klebst sie fest, obwohl sie von alleine in eine Rolle fallen?“
„Ich verrücke nur.“
„Sie fallen immer auf die Schnauze, aber sie fallen jedes mal anders?“
“Ich bin nicht Gott, ich kann nicht alles ändern. Ich verschaffe mir nur Abwechslung.“
Noch eine Weile beobachtete ich ihn, wie er mit seinen Figuren spielte, aber je länger ich seine Bemühungen betrachtete, umso langweiliger fand ich es. Grußlos verabschiedete ich mich aus dem Theater und versuchte mich, aufs gerate wohl in dieser falschen und doch richtigen Kleinstadt heimisch zu fühlen. Bis auf das Theater erkannte ich alles – wenn auch leicht versetzt – wieder.
Die Zeiger auf meiner Armbanduhr bewegten sich nicht und auch der Sonnenstand blieb immer gleich, doch fürchtete ich schon, zu spät zur Redaktion zu kommen umso mehr als ich gewahrte, dass ich im Kreis zu laufen schien: vom Bahnhof, zum Theater und zurück und vom Bahnhof zum Theater. Ich kam auch mit großen Schritten nicht vom Fleck.
Ich war verloren in dieser Miniaturwunderwelt samt Kulturprogramm und ich war erleichtert, so traurig es auch war, als eine große Hand mich heute aufnahm und Klebstoff unter meine Füße brachte und mich endlich hinter das Fenster meiner Stube, schräg gegenüber vom Theater platzierte und ich meinen Rhythmus, mein Leben, meine Freunde und arte im Bielefelder Wunderland wiederfand.
Ach ja, die Buchstaben B, U, A, G und auch mal ein R funktionieren noch nicht. Es ist auch egal, denn es sind nur flackernde Buchstaben in Bielefeld, ihr Licht reicht nicht darüber hinaus.
Heute, und das war ein langer, langweiliger und langatmiger Tag heute, habe ich einen alten Freund wieder getroffen mit dem ich seinerzeit Wiesen abgeraucht, Weizenfelder geerntet, etliche Trauben verkostet und die griechische Inselwelt per Moped erobert habe. Nachdem ich meinen Magister Artium hatte, gönnte er sich noch einen Doktor in Jura. Gelandet sind wir in vielen Betten und wurden schließlich alt genug, um aus dem letzten nicht mehr aufzustehen – oder nur selten und nicht wirklich mit Elan – so sind wir im Dritten Programm der Wohlstandsgesellschaft gelandet. Vielleicht sollte ich arte sagen, damit ich verständlich bleibe?
Wir besitzen nicht nur das Zweit- oder Drittbuch, wir liegen nicht nur am Strand, erobern nicht in Reisebusstärke die Einsamkeit der Bergwelt, nein, wir interessieren uns für Kultur, die schönen Dinge des Lebens. Wir haben unser eigenes Buzzword-Bingo wie monologisch, kryptisch, virtuell, tautologisch und innovativ, Anagram und Palindrom, Pointilismus und polymorph, das sind die Fraktale in unserer dialogischen Instanz. Was das bedeutet? Wir haben unser Auskommen, wir sind kreditwürdig und satt.
Heute, als ich ihn im ICE nach Bielefeld wieder getroffen habe, gab es das übliche „Mensch, du hier?“ Und: „Was für ein Zufall“. Letzteres wurde wechselseitig mit einem mimischen oder verbalen „na, na!“ Quittiert. „Na, na“ sagten, meinten wir, weil jedem von uns beiden die Beliebigkeit nur ein dummer Zufall oder besser: beliebiger Mix aus Spermarotz auf Tagesform abhängigem Eidotter zu sein, unsere Bedeutung und Buzzwords nivellieren und unser Ego geradewegs in ein kleines Nichts verdampfen würde. Geht gar nicht.
Wir überbrückten in höflichster Form das total voneinander angeödet seins, dass sich sehr schnell einstellte und auch noch den pelzigen Geschmack trug, sehr alt geworden zu sein, denn die gemeinsamen Erinnerungen waren schal, staubig und sie wirkten grotesk, geradezu fratzenhaft in diesem ICE nach Bielefeld. Dieser Umstand brachte uns aber glücklicherweise auf Rainald Grebe und dann auf jene andere Liedzeile: „Du bist der Ausstieg aus der Spaßgesellschaft“. Wir hatten ein Gesprächthema: die allgemeine Lage in Kunst und Kultur. Spannend und unverbindlich genug um bis zum Ziel nicht aus Verzweiflung, den alten Freund oder sich selbst, aus dem Zug zu werfen.
Er erzählte mir, dass er kürzlich eine Freundin aus dem Süddeutschen Raum getroffen habe und mit ihr bei einer Lesung eines dort bekannten Künstlers war. Die Lesung sei aber gar keine Lesung gewesen, sondern eine grandiose Performance.
„Als der mit einem Male im Zuschauerraum stand, strahlte der gleich eine Präsenz aus: sagenhaft. Der hätte gar nicht auf die Bühne gemusst, aber als er die im wahrsten Sinne des Wortes erklommen hatte, passierte eine halbe Stunde lang, da kommst du nie drauf“, erzählte mein Freund voller Begeisterung.
„Er schwieg?“, fragte ich ironisch dazwischen.
„Zu abgeschmackt, mein Bester. Er fing an seinen Zettel zu suchen.“
„Seinen Zettel?“
„Genau. Sein Zettel auf dem angeblich die Texte, das Programm sei. Innerhalb einer halben Stunde hatte er das Publikum vollkommen verunsichert und seinen eigenen Kunstraum geschaffen. Als erstes verschwand das Programm und obwohl er auf einer Bühne stand, ließ er auch die verschwinden.
Mich hat das unheimlich beeindruckt, wie leicht er die Patterns von vierzig, fünfzig Menschen, vollkommen aufgelöst hat. Totale Verunsicherung ohne etwas anderes zu tun, als zu suchen. Er hat nicht zum Publikum gesprochen. Er hat sich nicht gemein gemacht, aber du hast nichts von dieser affektierten Künstlerhybris gespürt. Der Kerl ist echt. Das war für mich ein Caspar Hauser Erlebnis.“
„So Basic?“, fragte ich skeptisch.
„Absolut. Straight und strictly natural, mein Lieber. Ab und zu stammelte er Halbsätze vor sich hin, manchmal nur Buchstaben, oft das "i", aber aus diesen Wortfraktalen hat jeder sich – wie Lego –„
„Erinnert mich an das Lied: Gehirnlego“, unterbrach ich ihn
„Besser. Blixa Bargeld ist ein alter Mann, der nichts mehr neu erfinden kann.“, antwortete er lächelnd.
„Es erinnert mich aber doch an Lego, weil er anscheinend nichts abbilden will, sondern eine Dekuvrierung der Bühne und des Künstlers vollzieht, indem er nur die Bausteine liefert aus dem jeder sein individuelles, originäres Kunstwerk zusammensetzt, vorausgesetzt der Zuschauer ist bereit nicht nur Kulturmastschwein zu sein, und zu futtern was der Bauer in die Spreu streut, sondern endlich – zweihundert Jahre nach Kant; sapere aude! – auch im Kulturbetrieb ein aufgeklärter Mensch zu sein. Interessantes Konzept.“
„Unbedingt. Aber - entre nous im Foyer habe ich die Leute einen Stuss schwätzen hören. Nichts verstanden. Höre, mein Lieber, die Kevins und Manolitos werden uns bald regieren und – wie hast du es formuliert? – Kulturmastbetriebe für Pigs in Szene setzen. Das ist richtig.
Aber deine Lego Metapher geht trotzdem fehl, denn die Bausteine, die du – reg Dich jetzt nicht auf – in abendländischer Erwartung, dass ein Anfang auch ein Ende haben muss, ein System immer erkennbar und mit Fuzzy Logic auch das Chaos kartiert werden kann, wird von diesem Jojo vollkommen konterkariert. Löse dich von Deinem Leg-Denken.“
Während er mir dies ins Gebetbuch schrieb – wir saßen uns gegenüber – hatte er sich wie ein Verschwörer mehr und mehr vorgebeugt, seine Stimme gesenkt und als er geendet hatte sich ruckartig und triumphierend mit einem maliziösen Lächeln zurückgelehnt und leicht nach links geschielt, so als säße dort ein Publikum, dass seinem Intellekt huldigen müsste. Dann griff er in seine Sakkotasche und überreichte mir den Flyer zum Programm dieses Künstlers: „Jojo – Inkarnation der Anarchie.“
Ich schmunzelte und sagte nichts dazu. Aber weil er mich zögernd sah, bemerkte er, dass die Werbung ein Freundeskreis finanziert hätte. Aber ich schmunzelte, weil mir für einen kurzen Moment alles lächerlich erschien.
Es war der Moment wo mir das Buzzword-Bingo eingefallen und ich die dritte Programm Metapher vor Augen hatte und vor mir saß in toto die Film-Amerikanerin, die soeben triumphierend Mr. Tod davon in Kenntnis gesetzt hatte, dass sie nicht tot sein könne, weil sie nichts von der vergifteten Lachsschaumspeise gegessen hätte. Das war vielleicht korrekt, aber wer hat sich als der Mächtigere herauskristallisiert: Mr.Tod oder die Amerikanerin?
Ich hätte brüllen können vor Lachen und Verzweiflung, aber der Zugführer rettete mich und gab bekannt, dass Bielefeld in wenigen Minuten erreicht werde. So als hätte Dr. Pawlow die Klingel geläutet, begannen die Reisenden diverse Automatismen durchzuführen: Müll einsammeln, Sachen ordnen, Mantel anziehen und so weiter. Es kommt zwar eine gewisse Hektik auf, aber ich erlebte sie nur als immer schlimmer werdende Erstarrung in Routine.
Wenige Augenblicke später standen wir marschbereit an der Waggontür. Wir tauschten jetzt wirklich nur noch Wortfetzen allgemeiner Art aus und endlich stoppte der Zug. Ich drückte, denn ich stand näher zum Ausstieg, auf den grün gewordenen Ausstiegsknopf, die Tür glitt auf, ich drehte mich noch kurz nach rechts und erschreckte mich wie nie zuvor.
Ich wollte das erlernte „Auf Wiedersehen, bis Bald und mach’s gut“ loswerden, erwartete ein „Ich seh’ Dich, mein Lieber“ von ihm, aber er war nicht mehr da, beziehungsweise da stand nur noch etwas, was wie er aussah, aber keine Seele mehr hatte. Ich sah mich einer Figur wie aus dem Wachfigurenkabinett gegenüber. Aber es war kein Wachs. Es war etwas anderes. Die Gesichtszüge waren erstarrt in einem ironischen Grinsen. Ich glaube, ich atmete heftig und ich glaube ich habe auch geschrieen. Meine Stimme hallte, aber nicht wieder. Ich spürte sogleich mich hört hier keiner und ich war nicht mehr allzu überrascht, dass nicht nur mein Freund, sondern alles andere auch erstarrt war.
Langsam stieg ich aus dem ICE, der nur ein Abbild eines ICEs war, und bemerkte, dass mein Freund weiterhin auf die Stelle blickte, wo ich eben noch gestanden hatte. Hinter ihm standen weitere Figuren, ebenso starr und in ein nirgendwo blickend.
So bewusst habe ich Luft geholt, dass ich gewahr wurde, wie aufgeregt ich war und wie schwer es mir fiel nicht in Panik auszubrechen. Die ganze Welt hatte sich in die Idylle einer Modelbahnanlage verwandelt. Alle auf dem Bahnsteig, alle im Zug, einfach alles. Es war sehr sauber, sehr aufgeräumt und blank gewischt.
Ich fühlte meinen Puls. Ich zählte die Schläge und beschwor mich: Du lebst! Dabei wandelte ich in der Optik des alten, schönen im Jugendstil gebauten Bahnhofes Bielefelds umher. Er war sauberer und klarer als ich ihn in Erinnerung hatte, aber noch immer verspürte ich keinen Widerhall und Sandstein fasste sich wie Plastik an. Kein Geräusch berührte meine Ohren. Nur ein dumpfes, tiefes Rauschen konnte ich wahrnehmen, so als tauchte ich oder trüge Ohrstöpsel.
Die Figuren: alte Tanten, Hoheitspersonal, Geschäftreisende, verbitterte Lehrer, naive Kerle, gefährliche Mädchen, sie waren alle da, aber alle kalt und steif. Und nicht aus Wachs sondern aus Plastik. Ja, ich habe sie berührt, angefasst und meine Lippen bewegt und war mir ganz sicher, dass alles aus Plastik war. Der Bahnhof, der Zug, die Menschen. Unwillkürlich musste ich grinsen, als ich in Erwägung zog, dass möglicherweise nur ich falsch und alle anderen gerade mich bestaunten. Aber zum Glück war ihr Blick starr und wanderte nicht mit meinen Bewegungen mit.
Modellbahnwelt, das war mein Schlüssel. Faller und Märklin. Denn so, bildete ich mir ein, musste sich eine Miniaturwelt anfühlen. Alles sauber, alles starr. Sauber, weil der Müll sich nicht vermehrt sondern festgeklebt ist. Wie irre grinste ich, weil ich versuchte, diesen Schecken in ein System zu bringen, ein System dass ich kenne oder durchschaue, weil ich überleben wollte. Ich hatte verschissene Angst. Vor allem, weil ich nichts hörte, so als könnte ich meine Gedanken nur lesen und nicht hören was ich dachte. Ohne Pause ratterte in Großbuchstaben auf der Innenseite meines Frontallappen Botschaften entlang, In diesem Moment wünschte ich mir, ich könnte meine Gedanken einfach zerfetzen, auseinander reißen, weil meine Gedanken unaufhörlich die Bielefelder Bahnhofswelt reflektierten und das machte alles noch entsetzlicher.
Von Panik ergriffen, stürzte ich durch den Bahnhof, überlegte, meinen Koffer fallen zu lassen, aber hielt ihn dann doch fest, weil mein innerer Gedankenticker behauptete, ich solle ihn nicht fallen lassen, denn ansonsten würde ich mich endgültig verlieren, denn der Koffer sei eine Metapher für mich.
Das war ein schöner Blödsinn, einerseits, aber es war auch eine Überlebensstrategie und ich sehnte mich nach Überlebensstrategien, egal wie hergesucht sie auch erschienen. Und da ich nun einmal ein solchen Gedanken gefasst hatte, zwang ich mich den Koffer weiterzuschleppen und ich sagte mir auch, dass der Bahnhof schlechthin Symbol für eine Miniaturwelt sei, und dass viele Geschichten am Bahnhof beginnen oder enden und ich nur den Bahnhof verlassen müsste, um mein ostwestfälisches Leben wieder zu entdecken, um wie ein Fisch darin wieder eintauchen zu können. Voller Hoffnung stieß ich die verglasten Türen des Haupteingangs auf und hoffte wieder vollständige Lebendigkeit zu spüren.
Als ich die Türflügel aufgestoßen und nach draußen gestürmt war, befand ich mich auf der Bahnhofstreppe und schaute hinweg über eine asphaltierte Fläche auf ein weißes Gebäudeensemble. Für einen Moment war ich zu Hause, aber es war auch alles falsch. Denn es bewegte sich nichts, kein Auto, kein Mensch, kein Luftzug. Alles schien mir ein Fake zu sein. Alles. Bis auf die defekte Werbetafel, die über einer der Türen, des weißen Gebäudes gegenüber hing und deren Elektrobuchstaben unkoordiniert aufflackerten. Mal leuchtete ein B, U, A, G oder auch mal ein R und ein weiterer Buchstabe regellos auf.
Langsam stieg ich die Treppen vom Hauptbahnhof hinab und bedachte den Plastik gewordenen Reisenden, der mit fliegendem Schritt und Schlips die Treppen hinauf eilte, mit einem müden Blick. Antworten, so war ich überzeugt, würde es nur hinter der Tür mit der fehlerhaft leuchtenden Elektrofassade geben.
Als ich die Tür unter der Werbeschrift aufgemacht hatte, schlug mir von innen ein muffiger Duft entgegen. Ich stand in einem Foyer einer Kleinkunstbühne. Der Boden war mit rotem Teppich ausgeschlagen und an den Wänden hingen schwarzweiß Photographien der aufgetretenen Künstler samt ihrer Unterschrift. Ob der stummen Atmosphäre fühlte ich mich aber wie in einem Sarkophag. Ich schritt zum Zuschauerraum, dessen Eingänge alle geschlossen waren, so als finde eine Vorstellung statt. Natürlich fand keine statt, aber er war voll besetzt mit solchen Figuren wie ich sie schon vom Bahnsteig kannte. Waren sie dort erstarrt in Bewegung, so waren sie es hier in Vergnügung.
Ich wollte auch diese Exkursion als Fehlschlag verbuchen, da gewahrte ich einen alten Mann, der drei, vier Versionen ein und derselben Figur mal hierhin, mal dorthin auf der Bühne verschob und daran sichtlich gefallen hatte. Ich getraute mich nicht, ihn anzusprechen, sondern beobachtete ihn nur. Er trug eine Brille, hatte weißes Haar, ein filigranes Gesicht und trotz allem einen deutlichen Bauchansatz.
Zufrieden und mit großem Vergnügen webte der Alte an einem seiner Bühnendarsteller, die alle sehr nach JoJo aussahen, einen Draht an den Schritt, dass es so aussah, als ob der auf das Publikum pisse. Das Vergnügen daran, schien mir kindlich zu sein.
Als ich schon fast an der Bühne stand, bemerkte mich der Alte, aber er schaute nur kurz auf und ließ sich in seinem Tun nicht irritieren. Sehr bedrohlich oder gewichtig erschien er mir nicht und so fragte ich ihn leicht genervt, ob er(!) sich diese Miniaturwunderwelt ausgedacht hätte.
Er antwortete ohne mich anzusehen, dass er nur bearbeite was er vorgefunden habe und fuchtelte mit seiner Pattex Flasche in Richtung Publikum und Künstler. Dann lächelte er, und meinte ich solle doch froh sein, dass ich bewegt und nicht geklebt sei und tat dann so als ob er ernst werde, hielt inne, schob seine Brille herunter, inspizierte mich spöttisch interessiert von oben nach unten und bastelte weiter.
Fatzke, dachte ich und bemerkte kurz zu seinem Tun: „Das ist albern.“. Ich hatte die Skurrilität der Situation vollkommen verdrängt.
„Warum?“, fragte er wie beiläufig und ließ sich nicht in seinem Tun beeinflussen.
„Haben sie sich ihr Publikum angesehen, alter Mann?“
Er schaute auf, blickte von den Brettern herab, setzte sich seine Brille zu recht und konstatierte: „Begeistert, wie immer, findest Du nicht?“
„Wie ich es finde? Ich finde sie sind tot. Plastik. Dieses Theater hier ist eine Farce. Eine groteske Farce...“ und ich musste mich bremsen, dass es wohl Bielefeld in Potenz sei einen Jojo auf ein festgeklebtes Plastikfigurenkabinett pissen zu lassen.
„Na, na.“, beschwichtigte er, „nicht so laut. Ich bin mir sicher kleiner Bühnenstürmer, Du wirst Dich einleben. Vertreib Deinen Zorn und ersetze ihn durch Ironie.“, dann atmete er tief durch, blickte in ein Nirgendwo und ergänzte: „Du musst die Welt nehmen wie sie ist, du kannst sie nicht ändern. Nur ein bisschen verrücken – gutes Wort „verrücken“. Mit kleben, fixieren, binden, verdichten, festzurren hältst Du die Welt nur ganz kurz fest – aber Du änderst nie niemals nie nicht ihre Trägheit. Jeder fällt in seine Rolle.“
„Trotzdem klebst Du sie fest? Klebst sie fest, obwohl sie von alleine in eine Rolle fallen?“
„Ich verrücke nur.“
„Sie fallen immer auf die Schnauze, aber sie fallen jedes mal anders?“
“Ich bin nicht Gott, ich kann nicht alles ändern. Ich verschaffe mir nur Abwechslung.“
Noch eine Weile beobachtete ich ihn, wie er mit seinen Figuren spielte, aber je länger ich seine Bemühungen betrachtete, umso langweiliger fand ich es. Grußlos verabschiedete ich mich aus dem Theater und versuchte mich, aufs gerate wohl in dieser falschen und doch richtigen Kleinstadt heimisch zu fühlen. Bis auf das Theater erkannte ich alles – wenn auch leicht versetzt – wieder.
Die Zeiger auf meiner Armbanduhr bewegten sich nicht und auch der Sonnenstand blieb immer gleich, doch fürchtete ich schon, zu spät zur Redaktion zu kommen umso mehr als ich gewahrte, dass ich im Kreis zu laufen schien: vom Bahnhof, zum Theater und zurück und vom Bahnhof zum Theater. Ich kam auch mit großen Schritten nicht vom Fleck.
Ich war verloren in dieser Miniaturwunderwelt samt Kulturprogramm und ich war erleichtert, so traurig es auch war, als eine große Hand mich heute aufnahm und Klebstoff unter meine Füße brachte und mich endlich hinter das Fenster meiner Stube, schräg gegenüber vom Theater platzierte und ich meinen Rhythmus, mein Leben, meine Freunde und arte im Bielefelder Wunderland wiederfand.
Ach ja, die Buchstaben B, U, A, G und auch mal ein R funktionieren noch nicht. Es ist auch egal, denn es sind nur flackernde Buchstaben in Bielefeld, ihr Licht reicht nicht darüber hinaus.
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