#1

Gemütliches Beisammensein

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 19.09.2008 08:27
von Jule (gelöscht)
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Jaaaaa! Er lebt noch! Er lebt noch! Er lebt noch!

Beim zweiten „Er lebt noch!“ klatschen etwa fünfunddreißig kompakte Hintern zurück auf die Stühle, um bei „Jaaaaa!“ wieder in die Höhe gewuchtet zu werden. Immer und immer wieder. So muss das Fegefeuer sein. Holzmichel bis zum Jüngsten Gericht und kein Entrinnen.

Raus hier. Ein kleiner Dicker schneidet mir den Fluchtweg ab, versucht einen verführerischen Augenaufschlag und fragt im breitesten Sächsisch, ob er mich verwöhnen dürfe. Ich lehne dankend aber bestimmt ab und entkomme. Draußen regnet es. Keine Kneipe weit und breit, nicht mal eine Imbissbude. Dafür ein Wald, ein See, aus. Das hat sich der Veranstalter fein ausgedacht.

Also wieder rein. Kein Holzmichel mehr. Es gibt wohl doch einen Gott. Dafür setzt jetzt ein ohrenbetäubendes Getrommel ein, und ich werde Zeuge eines mir bisher unbekannten Rituals. Die Damen, an denen im übrigen ein beträchtlicher Überschuss herrscht, dreschen mit „Kleiner Feigling“ auf die Tische ein. Immer schneller, immer lauter. Dazu kreischen sie. Auf dem Höhepunkt des Geschehens legen sie den Kopf in den Nacken, klemmen die Schnapsfläschchen zwischen die Zähne und leeren sie in einem Zug, um sie alsdann zu formschönen Türmchen aufzuhäufen. Mein Vorsatz, etwas gesellschaftlichen Elan zu zeigen, schmilzt wie Schnee in der Sonne.

Mit meiner Freundin, bis vor wenigen Minuten die einzige Verbündete in diesem Vorhof zur Hölle, ist auch nichts mehr anzufangen. Sie hat einen Polizisten in Frührente aufgetan, dem sie pausenlos bestätigt, wie unglaublich süß er sei. Ich hadere mit meinem Schicksal, meinen Eltern, meinen Genen: Warum ist es MIR nie vergönnt, mich zu betrinken, gerade wenn es so bitter nötig wäre!

Jemand tippt mir auf die rechte Schulter. Ich drehe mich um, aber natürlich steht er links von mir. Ha ha. Der Veranstalter erweist mir die Ehre, mich um den nächsten Tanz zu bitten. Er ist zwei Meter groß, und seine Freunde nennen ihn Handtuch. Eben wegen jenes Handtuchs, das er, aufgrund einer Überfunktion der Schweißdrüsen, Tag und Nacht um die Schultern gelegt hat. Wir quälen uns im Discofox-Schritt durch „Hölle Hölle Hölle“, und ich will mich schon artig bedanken, als er mir noch mal auf die (linke) Schulter tippt. Ich schaue zu ihm hoch, und da passiert es. Er drückt mir einen klatschnassen Kuss mitten auf den Mund. Jetzt wäre es dann auch bei mir an der Zeit für einen „Kleinen Feigling“.

Zutiefst deprimiert lehne ich am Tresen und sehe dem makabren Treiben zu. Mein Kopf dröhnt vom Wummern der Lautsprecher, mein Magen rebelliert, ich will nach hause. Die Leute werfen mir misstrauische Blicke zu. Ja, Ihr habt ja Recht. Ich bin ein Spielverderber, ein Griesgram, ein Partyschreck ohne einen Funken Humor. Und sollte einer von Euch jetzt versuchen, mich in die Polonaise Blankenese zu integrieren, nehme ich den Discjockey als Geisel und laufe Amok. Also Vorsicht, Leute.

Morgen werde ich dem Freund, der genau wusste, was auf mich zukommen würde, und mich trotzdem nicht vorgewarnt hat, nach Strich und Faden die Leviten lesen. Aber zuerst spreche ich mal den Menschen dort ganz hinten in der Ecke an, dessen Augen genau so entsetzt flackern wie meine.
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#2

Gemütliches Beisammensein

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 19.09.2008 09:53
von Pog Mo Thon (gelöscht)
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Hallo Jule,

ich hatte meinen Spaß beim Lesen, so wie beim späteren Erzählen solcher Schauergeschichten das Glück der Davongekommenen ja auch nicht klein ist. Ich fühlte mich jedenfalls an Selbsterlebtes erinnert, fand mir aus der Seele gesprochen und den Schluss wähnte ich sogar ein wenig in die Richtung, dass, was auch immer Schreckliches passiert, wenn man nur halbwegs unverletzt entronnen ist, einem doch die schönsten Geschichten erhalten bleiben. Was wären wir also ohne solche Katastrophen?

Schön erzählt. Ob und was es da handwerklich zu beckmessern gäbe, müssen Berufenere entscheiden. Für mich ist immer nur wichtig, ob ich gut unterhalten wurde. Das erkenne ich meistens schon daran, ob ich eine Geschichte überhaupt durchlese. Hier kann ich melden: Ja, habe ich und ja, wurde ich.

Beste Grüße
Mattes
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#3

Gemütliches Beisammensein

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 19.09.2008 12:28
von Joame Plebis | 3.690 Beiträge | 3826 Punkte
Guten Tag, Jule!

Eine gut entworfene Beschreibung des ungestümen und tosenden Treibens, das ich oft beobachtete aber stets mied. Jetzt genieße ich die Stille, die wieder einkehrte, als ich mein Lesen beendete. Wenn nur die leiseste Ahnung auf ähnliche Szenen bestünde, könnte mich niemand überreden, dabei mitzumachen.
Lebendig und bunt aufgezeichnet; sage ja nicht, Du warst nicht dabei!

Gruß
Joame
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#4

Gemütliches Beisammensein

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 20.09.2008 13:07
von Jule (gelöscht)
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Lieber Mattes, liebe/r Joame,

freue mich sehr über Eure Antworten. Und so lobende noch dazu! Ganz lieben Dank.

Joame, selbstverständlich war ich dabei und habe jede Sekunde genau so - GENAU SO - erleben dürfen/müssen/sollen. Du glaubst doch nicht, dass man so etwas erfinden könnte...

Danke schön noch mal und liebe, heute etwas müde Grüße

Jule
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