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Esterweger Kladde
in Düsteres und Trübsinniges 29.10.2018 23:05von Artbeck Feierabend • | 119 Beiträge | 72 Punkte
Esterweger Kladde
Aechter uusen Huuse, da stait’n Kabuuse. Da schiet’t se in, da mieget se in,
do kwamm de olde Mann un stüppede sien Broot darin.
Die Klinge, die Klinge! ich verstecke sie unter der Zunge/süßer die Glocken nie - /dort!
ein kariertes Buch - das Buch schnell ins gestreifte Hemd gesteckt, dann leise umgekehrt/
vielleicht, vielleicht doch fort, fort von hier/w e r j e d e n T a g n u r K u c h e n i ß t/
in düstre Ecken hock ich mich - zerschunden/u n d K e k s u n d S c h o k o l a d e/
mache Muster, Schnittmuster, schneide so hinein - so!/des Winterhagels Wut prallt auf die Baracken/Esterwegen, von wegen, Esterwegen!/Wilm - er schnitt mir das Haar doch so gerne/
das Personal brüllt/eine weiße Raute fällt/fein und schmal wie der Halbmond meines Nagels/
Schnitt für Schnitt und noch eine, noch eine - eine noch!/ich kreiere Ornamente, schneide kristalline Schneestrukturen, gezackte Tiere, Spitzendeckenmuster/d e r w e i ß j a n i c h t/ ritze Rhombenkettenpläne, rette mich in Fluchtpunktperspektiven/w a n n S o n n t a g i s t/
stilisiere Schnucken auf der Heide, klebe hinter jeder Seite Seidenbuntpapier/es schimmert
grün - ist die Hoffnung/winzig kleine Kirchenfenster in Rot und Grün und Gelb und Blau - bellender Köter!/die Kladde wird mir zur Kathedrale/Kindersprüche in die Mitte - ins Gesicht spuck ich sie dir!/u n d d a s i s t w i r k l i c h s c h a d e.
Die Klinge frißt sich langsam durch das Buch und jede Nacht hat hundert Stunden/
für dich und deines Bruders Brut muß es nun reichen.
…
„Herr Obersturmführer, das bescheidene Poesiealbum ist für Ihre lieben Nichten
und Neffen. Es fehlen hier nur - verzeihen Sie mir - die glänzenden Oblaten.“
RE: Esterweger Kladde
in Düsteres und Trübsinniges 30.10.2018 07:38von gugol • | 248 Beiträge | 130 Punkte
Beeindruckend, wie du hier mit Worten eine Szene malst. Die Scherenschnitte entstanden direkt vor meinem inneren Auge. Als Nicht-Deutsche musste ich rasch googeln, was es mit Esterwegen auf sich hat, ich denke die Szene spielt sich im dortigen KZ ab (?). Jedenfalls wäre es passend - Nachbildung eines Stücks Normalität und heiler Welt, wo es niemals Sonntag wird.
Die Darstellung verlangt dem Leser einiges ab, aber das Gedicht im Gedicht ist echt gut gemacht und an der Sprache fände ich kein Haar in der Suppe - tolle Wortspielereien. Sprachlich etwas vom Besten, was ich bislang hier gelesen habe. LG gugol
RE: Esterweger Kladde
in Düsteres und Trübsinniges 03.11.2018 05:30von mcberry • Administrator | 3.230 Beiträge | 3490 Punkte
Artbeck,
ein Text, der so viele Kommentare und so heftige Reaktionen auslöst, hat wahrscheinlich irgendwas.
Meiner Lesart entsprechend die Gedankenfetzen eines KZ Insassen oder geschundenen Gefangenen
einer Militärjunta, der sich genötigt fühlt, seinen Peinigern zu Diensten zu sein. Sich selbst nicht mehr
treu und innerlich zerrissen, verliert er den Kontext seines Lebens und liefert keinen. Folglich wirken
die Zeilen wie aus jedem Zusammenhang gerissen, was die Situation des Protagonisten widerspiegelt,
aber die Auffassung erschwert.
Daran Anstoß zu nehmen sehe ich wenig Ursache. HG - mcberry
RE: Esterweger Kladde
in Düsteres und Trübsinniges 03.11.2018 07:15von gugol • | 248 Beiträge | 130 Punkte
Warum denn wirr/Unsinn? Warum "aus jedem Zusammenhang gerissen"? Abgesehen davon, dass dem Gedicht die Zeilenumbrüche fehlen bzw. durch / ersetzt sind, ist da mMn wenig wirr, sondern es handelt sich um eine gekonnt erzählte, sehr vielschichtige Geschichte.
Ein KZ-Häftling findet oder besitzt eine (Rasier)klinge, die er unter der Zunge versteckt, was natürlich gefährlich ist, durch das Wortspiel mit "klinge" im Heilewelt-Weihnachtslied aber konterkariert wird.
Er findet auch ein kariertes Heft, das er unter seinem gestreiften Sträflingshemd versteckt. Mit den beiden Dingen macht er sich davon - in der Wunschvorstellung raus aus dem KZ, real nur in eine einsame Ecke. Dort beginnt er Scherenschnitte zu gestalten, erst grafische Muster (auch hier wieder sein Traum von Freiheit in Wortspielereien wie z.B. "Flucht-punkt-perspektive"); später Heileweltszenen mit den Schnucken auf der Heide, Kirchenfenstern mit grün als Symbol der Hoffnung hinterlegt usw. Das Gedicht ist voll solcher Hinweise. Neben dem Häftling geht das gewohnte Lagerleben mit dem Geschrei der Aufseher und ihren bellenden Hunden seinen Gang, er nimmt es jedoch nur als eine Art Kulisse wahr, ganz in seine Arbeit vertieft. Aber am Ende blitzt doch seine Wut auf den ganzen Laden da durch. Je öfter ich den Text lese, desto mehr versteckte Symbole und Hinweise kommen zum Vorschein.
Und in das alles ist gekonnt mit S p e r r s c h r i f t (nennt man doch so, nicht?) dieser (Kinder)Spruch von Wilhelm Busch eingeflochten, der im hiesigen Kontext doch recht zynisch wirkt, auf den aber wiederum das Gedicht selbst hinweist ("Kindersprüche in die Mitte").
Gerne habe ich hierfür nicht alle Nadeln an der Tanne, auch wenn ich es im Grunde schade finde, ein Gedicht dermassen zu zerreden. Aber die egozentrische Haltung: "Wer mein geniales Zeug nicht versteht, ist einfach zu blöd. Wer so schreibt, dass ich es nicht verstehe, ist einfach unfähig", hab ich langsam satt und sie scheint in letzter Zeit hier zu grassieren. LG gugol
RE: Esterweger Kladde
in Düsteres und Trübsinniges 04.11.2018 17:23von Artbeck Feierabend • | 119 Beiträge | 72 Punkte
Hallo, mcberry!
Vielen Dank für deine Auseinandersetzung mit diesem Text!
In der Tat geht es um die Gedankenströme eines KZ-Insassen, der in seiner Verzweiflung in der Gestaltung eines Albums einen Rettungsanker sieht - zum einen, dass er sich durch die Beschäftigung vom Wahnsinn nicht völlig fortspülen lässt, zum anderen, dass er versucht, bei einem Wärter zu punkten, indem er es ihm schenkt.
Viele Grüße,
Artbeck
RE: Esterweger Kladde
in Düsteres und Trübsinniges 04.11.2018 17:44von Artbeck Feierabend • | 119 Beiträge | 72 Punkte
Hallo, gugol!
Es war alles genauso intendiert, wie du es interpretiert hast. Über deine genaue Deutung freue ich mich wirklich sehr - vielen Dank dafür!
Ich habe einmal eine solche aufwändig und liebevoll gestaltete Kladde im Original in den Händen gehalten und mich gefragt, was den Insassen bewegt haben muss, so etwas in einer solch grausamen Umgebung zu (er)schaffen. Davon war ich sehr ergriffen.
Der vorliegende Text ist nur der Versuch, sich ansatzweise (!) in die Situation des Lagerinsassen hineinzuversetzen.
Hier noch ein Link für Interessierte:
Gedenkstätte Esterwegen
Viele Grüße aus der Friedensstadt Osnabrück!
Artbeck
RE: Esterweger Kladde
in Düsteres und Trübsinniges 04.11.2018 17:52von Artbeck Feierabend • | 119 Beiträge | 72 Punkte
RE: Esterweger Kladde
in Düsteres und Trübsinniges 04.11.2018 18:08von Artbeck Feierabend • | 119 Beiträge | 72 Punkte
Hallo, TMP!
Zitat von TheMonkeyPaw im Beitrag #6
Entweder der Text ist eine Kunstrichtung die ich nicht kenne? Oder er ist einfach nichts.
[...] Vollkommener Unsinn und wer das bitte interpretieren will hat nicht alle Nadeln an der Tanne
Ich nenne das Collage.
- "Nicht alle Nadeln an der Tanne" - das klingt lustig. Ist ab sofort in meinem aktiven Wortschatz aufgenommen.
Bei uns sagt man auch einen an der Waffel haben oder nicht alle Latten am Zaun. "Fledermäuse im Glockenturm" ist auch nicht schlecht...
Gruß,
Artbeck
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