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Picaflores und Patienten
in Gesellschaft 28.09.2017 20:45von Artbeck Feierabend • | 119 Beiträge | 72 Punkte
Picaflores und Patienten
I. Patienten
„Wer Visionen hat“, so lautet lapidar ein Rat,
„der soll zum Arzt gehen.“ – doch in der Praxis gähnt die Leere.
Die, die man dort hinschickt,
haben da nichts verloren:
Querdenkende Leerläufer, kreative Schultrödler,
die beim Dösen dauernd eins auf den Deckel kriegen,
Pioniere mit Muße und Mut zum entschleunigten Träumen,
Spinner und Phantasten halt - solche, wie die von damals,
die vom Fliegen und Wahlrecht für Frauen fabulierten.
Potentielle Patienten, die dort hingehen müssten,
schickt man gar nicht erst hin:
Ultralauflebenszielfreaks, Bausparneoromantiker,
die beim ersten Küssen mit ihrer neuen Flamme
heimlich Eheverträge im Hinterkopf skizzieren,
auf ihren hippen Lippen ein ewiges Geflüster:
"Was bringt mir dies?
Was bringt mir das?“
Besitzer von Fitnessuhren, die immer fetter werden,
tief verschollen im Urwald eigener Erwartungen,
greifen zur Beruhigungsbrille gegen den zu klaren Blick
auf ihre pinken Lebensziele, propagiert von
cleveren Kommerzvisionären.
Labilität, frustriert-ekstatisch: bipolar.
Eines Tages wachst du auf und bist allein unter Narren,
die sich kaputtlachen, wenn du hinfällst und ein Huhn kackt.
Man badet in Maden, statt sich mit den Alten zu beraten.
„Wollt ihr wirklich diese Rose?“
Oma und Opa könnten euch in eine stabile Seitenlage bringen,
euch ein Lied davon singen, wie sie war:
die Entäußerung eigener Visionen
an semikomplexe Quacksalber,
falsche Heroen und Scharfmacher
zwischen Orient und Okzident.
II. Picaflores
Gestern Nacht zog mich ein Regenbogen in den feuchten Nebelwald.
Dort wurde ich zum Picaflor und schwirrte übers‘ Blütenmeer,
von Feuerland, Brasilien bis nach Südalaska,
ein Kosmopolit im Kaleidoskop der Diversität,
verewigt in den Zeichnungen der Nasca-Wüste,
ein winziger Blütenpicker mit einem Riesenherzen,
der die Blumen küsste, bestäubte und dabei Nektar tankte,
begleitet von einem schimmernden Heer aus Bienenelfen,
das mir die raubenden Vögel von meinen Jungen verscheuchte.
Ich weiß noch, wie sich Waterton bei mir bedankte.
Ich umsauste ihn wie ein pfeilgewordener Gedanke,
und dem Igor wurde ich zur Sikorsky.
Heute Nacht brennen Brasiliens Regenwälder.
Ich fülle meinen Schnabel mit Wasser
und werde das Feuer
Tropfen für Tropfen
löschen.
RE: Picaflores und Patienten
in Gesellschaft 18.10.2017 23:30von Artbeck Feierabend • | 119 Beiträge | 72 Punkte
Guten Abend, Alba!
Das ist gar nicht so einfach, dir eine Antwort darauf zu geben.
Gedacht war, eine Art Gegenentwurf zum ersten, kritischen und pessimistisch gestimmten Teil abzubilden. Ich fand es wichtig - nach dem Lamentieren, was ja immer einfacher ist... - als Kontrast mit Traumbildern ein optimistisches Gefühl des Aufbruchs, der Schaffenskraft und des Veränderungswillens hervorzurufen, auch wenn die Umstände noch so widrig oder frustrierend sein mögen oder man sich nur als kleines Licht fühlt. Es sollte sich auszahlen, eine Idee mutig zu verfolgen...
Vielleicht schwächen sich die beiden Teile aber auch in ihrer Gegenüberstellung - Ich werde darüber noch in Ruhe nachdenken.
Vielen Dank, Alba, für deine Auseinandersetzung mit dem Text und deinen Denkanstoß!
Gruß,
Artbeck
RE: Picaflores und Patienten
in Gesellschaft 21.10.2017 10:07von Alcedo • Mitglied | 2.708 Beiträge | 2838 Punkte
Art, du bist der talentierteste, vielseitigste und geschickteste Collagierer den ich kenne.
mit solchen Collagen, wie auch mit der vorliegenden, zapfst du mein Unterbewusstsein an, sie wirkt mir wie ein Aderlass gegen dickflüssige Neuronen. aber nicht auf unangenehme Art, wie es mir zuweilen bei der Rezeption von parabelhafter Lyrik oder Prosa geschieht ( zum Beispiel bei Kafkas Hungerkünstler oder dessen Wunsch Indianer zu sein, oder Dalís Schwäne spiegeln Elefanten). nein, Art, bei der Lektüre dieser Lyrik hier, geschieht etwas fabelhaft positives: ich empfinde danach, ich empfand sie sofort als Bereicherung und das wohlige Gefühl stellt sich ein, gute Literatur konsumiert zu haben.
freilich, ob das Ganze so lang sein soll, sein muss, um dieses Ergebnis zu erzielen, weiß ich nicht. ich lerne da von dir, oder versuche dies zumindest: ich staune, wie du das Klischee der rosaroten Brille mit einer Mixtur schnoddriger Helmut Schmidt-Schnauze und semikomplexem Quacksalbertum zwischen Orient und Okzident aufmischt & ich stelle erleichtert fest, dass ich für die Gefühlsauffrischung (nach längerer Zeit: Wochen, Monate) lediglich die letzte Passage erneut lesen muss um das Wohlige upzudaten.
die letzen fünf Zeilen brauche ich hierfür, für bis zu einer Woche seit dem letzen Lesekontakt
und ab „Gestern Nacht“ setzte ich neu an, als ich das Ganze nach Monaten erneut vor mir hatte.
alles las ich nochmals für dieses Feedback und muss dazu sagen, dass ich mich zwischenzeitlich mit Boris Sidis beschäftigt habe, mit dessen Theorie des Subwaking Self das Individuum betreffend, sowie auch in der Masse auftretend, etwa bei einem Mob mit einem einzelnen suggestiven „Anführer“.
jetzt schaue ich mir diese Lettern aus dem Topic nochmal an und versuche den Suggestionen des Zauberers zu entgehen und verfolge nicht die erhobene Hand mit dem Tischtennisball, die von seinem stechenden Blick, wie vom gesamten Publikum angestiert wird, sondern die andere, die das von niemandem sonst, als von mir und dem taktilen Zauberer beachtet, das leere Glas auf dem Pult rasch, unauffällig & geschickt mit Wasser füllt und der überraschte Aufschrei der Menge erschreckt mich bei meiner Trance des Marginalen, als das gefüllte Wasserglas plötzlich im Mittelpunkt steht und durstig vom Zauberer trinkend geleert wird, während ich die subtile Vorbereitung des nächsten Tricks verpasse.
die Picaflores sind mir hier das Wasserglas und die, per Schmidt-Schnauze definierten Visionäre, der Ball. das lyrische Ich ist der Zauberer und ich, Leser, verfolge gebannt Marginales und Zentrales und versuche mir mit dem Hubschrauberkonstrukteur Sikorsky, hoch über den fremden Strukturen im Wüstenboden, die andere für Alien-Landebahnen halten, ein Bild zu machen.
weiß jetzt noch immer nicht, wer Waterton war. für mich bleibt jetzt nur der River, der Waterton-River, der seine Fließrichtung mit den nordwärts schwärmenden Kolibris abstimmt.
und ja, die Vision der letzten fünf Zeilen war mir von Anfang an das Highlight gewesen, bei dieser, deiner Komposition. ich habe sie jetzt bestimmt fünfundzwanzig mal gelesen und auch Al Purdys Elfenbeingedanken assoziiert. diese Vision hat was berauschendes, was einnehmend schlichtes, bestechend simples im Klanggebilde und im Verständnis: Gutta cavat lapidem.
Tropfen für Tropfen
XxxXx (rhythmisches Auslaufen ist das, herrliche Untermalung!)
löschen.
Xx (wunderschön)
der stete Tropfen aus dem Vogelschnabel vermag die Abholzungsorgien zu stoppen. dieser kleinste der kleinen Aves, dieser Nachfahre der Raptoren, vermag es nicht nur meinem / unserem schlechten Gewissen Linderung zu verschaffen, sondern besitzt sogar das Vermögen, Pandoras Büchse erneut zu öffnen und Hoffnung als letzte positive, nicht negative, Gabe, der Menschheit - nein, weil zu hochgestochen - dem Leser, zu vermachen.
Gruß
Alcedo
http://www.sidis.net/psintro.htm
https://de.wikipedia.org/wiki/Igor_Iwanowitsch_Sikorski
Klagelied für die Dorsets//Lament for the Dorsets//Al Purdy
RE: Picaflores und Patienten
in Gesellschaft 26.10.2017 17:03von Artbeck Feierabend • | 119 Beiträge | 72 Punkte
Hallo, Alcedo!
Saapi - bin ganz vonn Socken! Herzlichen Dank für deine differenzierte, wertschätzende Rückmeldung, die genaue Auseinandersetzung mit dem Text – und dein Lob! Freut mich ungemein!
Immer wieder interessant, welche Assoziationen, Verknüpfungen und Querverbindungen beim Lesen (ganz individuell) gemacht werden. Deine Bezüge zur Psychologie des Unterbewusstseins (bin da in dieser Materie eher noch unbedarft …) und die Analogie des suggestiv vorgehenden Zauberers („Marginales“ versus „Zentrales“) gefallen mir sehr und sie bieten viele Impulse für die Leseweise des Gedichts. Danke dafür, Alcedo!
Den Psychologen Boris Sidis kannte ich bisher noch nicht. Besonders bemerkenswert fand ich auf den ersten Blick seine damalige Theorie, dass der Erste Weltkrieg als eine „soziale Krankheit“ bekämpft werden müsse – und dass es einen auf Tatsachen basierenden Roman gibt, der das Schicksal seines Sohnes William James und die „Sidis-Erziehungsmethode“ durchleuchtet (Klaus Cäsar Zehrer: Das Genie - hast du den Roman vielleicht schon mal gelesen?).
Charles Waterton war ein britischer Naturforscher des 19. Jahrhunderts, wohl sehr exzentrisch und verrückt, hauptsächlich in Süd- und Nordamerika aktiv, u. a. Erfinder des Vogelnistkastens. Er war vernarrt in Kolibris, hielt sie für die wahren Paradiesvögel, fühlte sich von ihnen inspiriert und verglich ihr Flugverhalten mit der „Schnelligkeit eines Gedankens“ (Brehms Tierleben). Waterton war aber auch einer der ersten, die sich für den Schutz der Umwelt engagierten.
Gruß,
Artbeck
https://maricopa1.wordpress.com/2014/02/...rton-1782-1865/
http://gutenberg.spiegel.de/buch/-7685/3
RE: Picaflores und Patienten
in Gesellschaft 30.10.2017 12:43von Alcedo • Mitglied | 2.708 Beiträge | 2838 Punkte
hallo Art
Vielen Dank zu den Erläuterungen, zu Charles Waterton. da klaffte bei mir eine Bildungslücke. hatte bislang nichts von ihm gewusst. sein Nondescript ließ mich schmunzeln. künstliche Nistkästen betreffend, hatte ich bisher den da als Pionier gesehen „der deutsche Pfarrer Hofinger im Jahre 1824“: http://www.nistkastenmuseum.de/Geschichte/geschichte.html
Waterton lebte ja noch früher: https://wikipedia.org/wiki/Charles_Waterton
und da steht nun tatsächlich, dass er den Nistkasten erfunden hätte.
nunja, Starenkästen in verschiedensten Formen, aus Ton oder Holz gab es sicher noch früher. da stand aber nicht der Vogelschutz im Vordergrund, sondern der Proteinbedarf der Aufsteller.
ja, einen Weltkrieg als soziale Krankheit, hatte vor Boris Sidis auch noch keiner gesehen. noch bemerkenswerter fand ich die Hypothese seines Sohnes, William James Sidis, der Kriege und Revolutionen weltweit mit dem ca.11-jährigen Sonnenfleckenzyklus in Verbindung brachte.
ja, Zehrers Roman habe ich bereits gelesen. kann ihn sehr empfehlen.
Morten Brask (ein Däne) hatte unabhängig von Zehrer (sie wussten, wie es scheint, auch nichts voneinander) zum gleichen Thema recherchiert. sein Roman (ebenfalls ein Erstling) erschien bereits im Januar 2017 in deutscher Übersetzung. bin gerade am überlegen, ob ich mir den jetzt zulegen soll.
https://www.hanser-literaturverlage.de/b...-3-312-01013-4/
https://www.thunertagblatt.ch/kultur/bue.../story/22956139
Gruß
Alcedo
https://it.wikipedia.org/wiki/Charles_Waterton
http://hoaxes.org/archive/permalink/char...ons_nondescript
http://www.spektrum.de/lexikon/physik/so...kenzyklus/13450
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