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gedanken jagt
findet die worte
nicht die gefühle
nicht ums verrecken
die pfeile voll federn
nicht die treffer
nicht einmal ins zentrum
findet mich nicht
verfehlt mich nie
trefft mich ins schwarze
luft zerschossen
fühler zerrissen
fächer zerfasert
vertrieben vom feld
verjagt von den hunden
vergrault vom gestank
aufgebrochen die seiten
mit dem hirschfänger
bis zum gekröse
schön - nein
nicht - mein
waldwärts
führt die fährte
rennt schneller
als das wild
RE: gedanken jagt
in Diverse 29.01.2017 00:28von Artbeck Feierabend • | 119 Beiträge | 72 Punkte
Guten Abend, Hannes!
Assoziative Kritik an der Kritik, die als verletzend empfunden werden kann – Wo liegen die Grenzen? Wie weit darf Kritik und vermeintliche Offenheit gehen? Wie kommt sie beim Autor an? Was macht sie mit ihm? Das sind Fragen, die in diesem Gedicht eindringlich aufgegriffen werden.
Eine Antwort darauf scheint schon die vorherrschende Diktion zu geben: Es dominieren Wortfelder der Jagd, des Kampfes, des Auswaidens und Zerpflückens (und nicht etwa, wie das lyrische Ich es sich wünschen mag, die eines anregenden Gedankenaustausches, eines erfrischenden literarischen Diskurses ...).
Worte aus der Feder werden zu gefiederten Pfeilen, die nicht (nur) treffen, sondern (auch) betroffen machen und das Interpretieren mutiert, pervertiert zum Aufbrechen der Jagdbeute ( = des vorliegenden Gedichtes). „Aufgebrochen die Seiten“ erhält hier eine doppelte Bedeutung. So wie das Tier mit einem bestimmten Jagdmesser (dem „Hirschfänger“) an der Seite aufgeschnitten wird, so wird auch die Seite mit dem Text seziert (und somit die damit verbundenen Gedanken – „luft“, Gefühle – „fühler“, Träume – „fächer“ „zerschossen“, „zerrissen“, „zerfasert“).
Diese offensichtlich gemachten Erfahrungen einer als unangemessenen empfundenen Form der Kritik lassen das lyrische Ich […] nicht kalt („schön – nein/nicht – mein“, „vertrieben vom Feld“), dennoch oder gerade deswegen entscheidet es sich für eine Form der literarischen Contenance, indem es eben abstrakte, verfremdete Bilder der Jagd wählt, um seiner Befremdung Ausdruck zu verleihen und eine Grenze zu ziehen– und davor ziehe ich meinen Hut.
Das Gedicht ist so kompakt geschrieben, dass sich noch viele solcher Beispiele hier zitieren ließen. Vieles bleibt für mich natürlich rätselhaft, aber das genau macht mich nachdenklich … und deshalb sollte ich vielleicht an dieser Stelle auch schon damit aufhören, zu zerfasern ….
Gruß,
Artbeck
RE: gedanken jagt
in Diverse 29.01.2017 06:47von Alcedo • Mitglied | 2.708 Beiträge | 2838 Punkte
hallo Hannes
bei der Lektüre musste ich an Trakls „Im Winter“ denken, an die darin enthaltenen starken expressionistischen Allusionen, betreffend Jagd samt Kollateralschaden und vor allem an die waidwunde Wildzeile:
„Ein Wild verblutet sanft am Rain“.
deine, diesmal für mich nachvollziehbaren, Intentionen lassen Einblicke in deine Arbeitsweise zu. ich lese und verstehe. ich lese und lerne. mir gefällt was ich lese. ich lese. am stärksten empfand ich die Hirschfänger-Strophe. die schonungslose Offenheit und Ehrlichkeit von Zeilen wie „trefft mich ins Schwarze“, „findet die worte/findet mich nicht“, zollen mir Respekt ab. das ist und bleibt für mich Lyrik wie ich sie schätze und liebe, ganz und gar, von Lyrikern die unumwunden und kompromisslos „Ich“ sagen und meinen. und ich kann mir nicht helfen, wieder assoziiere ich einen Großen, einen Unsterblichen, Hölderlin, dessen folgende anrührende Zeile ich in der Ode „Mein Eigentum“ fand:
Zitat
Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl!
du, Lyriker, wirst jetzt auch dieses Lob verkraften müssen. und dieses eindeutige Statement:
für hannes.der.
ja.
Alcedo
Guten Tag, Artbeck,
Du hast viele meiner Intentionen bei diesem Gedicht sehr einfühlsam herausgearbeitet. Vieles ist aus dem Bauch entstanden, aber nach einer längeren Bedenkzeit. Die hat dem Text vermutlich gutgetan... Verfremdung ist - wie so oft - ein wesentliches Mittel, man könnte es auch Übertragung nennen, in eine neue Ecke stellen, mit anderen Augen betrachten.
Hätte es nicht den Bezug zu dem anderen Gedicht gegeben, frage ich mich, wäre es dann so verstanden worden? Ich vermute nein. Denn dann wäre es ein 'Jagdgedicht mit versteckter Betroffenheit', und es hätte wohl wenig von dem vermittelt, was hier - aufgrund der Vorgeschichte - lesbar wurde.
Danke Dir für Deine Gedanken - gerne wieder :)
Grüße
Hannes
Hallo Alcedo,
uff, Trakl und Hölderlin, alles in diesen jagenden Zeilengedanken... Das ist starker Tobak ;) Danke auf jeden Fall dafür, aber ich glaube nicht, dass ich in solchen Höhen mitspielen kann.
Expressionistischer Gesang als freundliches Asyl ... das ist seltsamerweise eine irgendwie passende Zusammenfassung der Stimmung, die ich beim Schreiben empfand...
Es ist wahr und auch gut so, dass hier eine persönliche Botschaft durchkommt, dass so die Worte - stärker als meist sonst - überzeugen, weil es einen Hintergrund gibt, der nachvollziehbar ist.... mit dem Vorwissen.
Es war gut, dass ich dieses Gedicht hier ins Forum gebracht habe, worüber ich lange nachgedacht habe. Allein wegen dieser mich wärmenden Kommentare. :)
Danke auch Dir für Deine Gedanken - auch auf die Gefahr hin, dass ich sie nicht verkrafte
Grüße
Hannes
Über Kleinschreibung, die mir nicht sonderlich zusagt und fehlende Interpunktion, der eine wesentliche Funktion des Ausdruckes zukommt, brauche ich vermutlich nicht meine Ansicht darzulegen, die Du kennen dürftest.
Mir scheint es mehr als der Aufschrei eines Verletzten zu sein, mit hier selten gesehenen bildhaften Vergleichen aus der Jagd. Da könnte man glatt ein Gedicht daraus machen.
Freundlichen Gruß
Joame
Lieber Joame, sagen wir mal so: Interpunktion und Grossschreibung auf der einen und Kleinschreibung ohne Interpunktion auf anderen Seite können beide als Stilmittel eingesetzt werden, mit unterschiedlichen Auswirkungen. Hier bringt die Kleinschreibung ohne Interpunktion das Jagende als Grundstimung m. E. gut zum Ausdruck. Die Gedanken jagen - warum und was, das zu erschließen, ist das Thema des Gedichts. Die Bilder sind eher hart und ausdrucksstark zu lesen. Wenn Du zu diesem Thema ein eigenes Gedicht draus machen willst, nur zu. ;)
Freundliche Grüße
Hannes
Lieber Hannes!
Deine Antwort nehme ich gerne zur Kenntnis, nur das mit dem Stilmittel ohne Interpunktion mag andere überzeugen, mich nicht. Das begründe ich unter anderem damit: wo statt Interpunktion ein Nichts ist, was wäre dann dieses Nichts als Stilmittel.
Auch die Kleinschreibung mag recht praktisch sein, vielen Lesern aber durchaus eine Erschwernis des Lesens, wo doch die gesamte Konzentration beim Inhalt sein sollte.
(Wenn vielleicht auch in diesem Fall die Jagd Thema war und der Hinweis, Kleinschreibung betonte dieses, erwidere ich, dass doch nicht alle Gedichte die Jagd als Thema haben beziehungsweise nicht Geschwindigkeit oder Flüchtigkeit anklingen lassen wollen.)
Danke für Deine Ausführungen.
Mit Gruß
Joame
Hallo Joame, ein Fehlen von Interpunktion und auch Kleinschreibung kann zusätzliche Deutungsmöglichkeiten schaffen, daher sehe ich das als Stilmittel. Weil dann eine Eindeutigkeit nicht durch den Autor erfolgt, mag es sein, dass das Lesen dadurch schwerer fällt, weil Anstrengung von Seiten des Lesers nötig wird. Aber liegt der Reiz der Lyrik nicht gerade darin, dass die Inhalte beim Leser entstehen? Ich gebe allerdings zu, dass zu viele Mehrdeutigkeiten ein Gedicht auch hermetisch werden lassen können. Für mich besteht die Kunst darin, hier den richtigen Ausgleich zu finden.
Herzliche Grüße
Hannes
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