#1

In einem Wiener Café um Neunzehnhundert...

in Liebe und Leidenschaft 29.12.2010 13:07
von otto | 637 Beiträge | 645 Punkte

: Es ist wahrscheinlich das Mißverständnis, das sie mir so reizvoll erscheinen ...
Mizzi? Nein? Nanna? Nicht? Susu?...

: Wenn Sie mich meinen, mein Herr. Doch ich kenne Sie nicht.

: Das eben ist das Mißverständnis, Wehrteste.
Wahrscheinlich sind wir uns vor Jahren begegnet.
Als mich die Langeweile plagte vergaß ich Sie. Die Zeit kennt viele solcher Weilen...
Sie waren nicht schön, aber ihre Natürlichkeit störte mich.
Ich vermutete, dass Sie gerade auf dem Sprung waren zu heiraten.
Waren Sie schwanger? Ihr Leib wölbte sich, als wollte er zu mir sprechen.
Ein Kind hätte Ihnen jenen Reiz der Fremdheit genommen, der mir für einen Augenblick meine
Langeweile nahm.Ich muß Sie wohl vergessen haben... wenn Sie es waren Teuerste...
Wie geht es ihnen?

: Nein, wehrter Herr, so einen kannte ich nie..

: Ach was soll`s. Wieder sind sie reizvoll,
viel zu viel geschminkt.
Sind Sie die Dame, die ich gestern bezahlte?
Ihre Augen glichen Holzkohlen, glanzlos, Entsetzen lag in ihnen, ein erwachsenes Kind irgendwie, nun ja...
Sie sind kinderlos geblieben, nicht wahr?

: ...

: Oh... Ich gestatte mir etwas aus Ihrem Kaffeekännchen einzuschenken.
Der Stuhl war doch nicht reserviert?
Er ist... kalt und schlechter als in der " Melange".
Waren Sie schon mal in der " Melange"? Jede Menge dieser Damen, teuer und jung.
Ständig behauptet die Empfangsdame, dass sie reserviert seien...
Ich beobachte Sie nun seit einer Stunde.
Sie haben den Kaffee kalt werden lassen, das macht ihn nicht besser...
Bei Frauen Ihrer Art bewundere ich, dass Sie meistens das Bestellte kalt werden lassen.
Das ist nicht galant, ist es nicht.
Darf ich Sie in eine meiner kostbarsten Geheimnisse einweihen?
Nein? Wunderbar:
ich verabscheue alles Natürliche.
Die Natur ist ja nur das Muster für die Kunst.
Es ist das Defomierte der Natur, das schön ist.
Kunst ist... absolut schön, wenn sie alles Natürliche zerstört.
Stimmen wir überein? Wie denn auch nicht?
Aber sprechen wir lieber von Ihnen.
In Ihrem Alter kommt nicht mehr viel.
Immerhin, mit ihren bunten Stiften und Cremchen aus Döschen und Düften aus den Flakons haben
Sie sich in die wunderbare Göttin der Sünde verwandelt.
Solche suchen die Männer, deren Ehefrauen von Ihnen reden, als könnten sie mit ihnen konkurieren.
Eine Göttin des rapiden Verfalls sind sie.
Die Offenbarung für den Untergang jeglicher Moral.
Ihr Untergang wird ihre Vollendung sein.
Darf ich dazu meinen angemessenen Beitrag leisten?

: Sie sind ein Dekadent, mein Herr!

: Ja? ... Ach ja. Man bemüht sich so gut es geht. Und je mehr man sich bemüht, um so mehr wird man
mißverstanden.
Sehen Sie durch das Fenster. Es beginnt zu regnen. Ein warmer Regen von laichenden Wolken.
Darf ich Sie zu einem Spaziergang auf den Friedhof einladen?
Ich kenne einen kleinen Pavillon, efeugumrankt. Skarabäen bewacht.

: Was sollte mich dort erfreuen?

: Erfreuen Verehrteste?
Dort gibt es kupferne Bäume, deren Äste sich grünmetallen über den marmonen Engeln herabhängen,
wartend darauf zu brechen, um den Engeln die Flügel abzuschlagen.
Im Moos nehmen Maden mit gläsernen Köpfchen aus rotem Meranoglas ihre Mahlzeiten... alles
mischt sich zu neuer Künstlichkeit.
Es läuft sich fest auf den rostigen Wegen, aus denen gläserne Triebe aufbrechen, zerfließen und
Girlanden um die Grabsteine winden.
Neulich sangen dort gute Freunde von mir Wagnerarien. Meine lieben Tenöre, so nenne ich sie.
Man behauptet, dass Nietzsche dort seine Schrift zur Genealogie der Moral verfasste.
Auch Baudelaire soll an Sonntagen einen Abstecher dorthin gemacht und seine Blumen des Bösen
geschrieben haben, wer weiß das außer dem Meister...
Ich könnte sie einführen in diesen Kreis welkender Verwesungen, die Düfte mit Opium und Moschus
zu einer Melange nächtedauernder Betäubungen mischen. Man sagt, dass Frauen dort schneller altern,
weil sie ständig schneller atmen zwischen den indischen Tempelnovizinnen, weiblichen Derwischen, die
unaufhörlich tanzen in blauem
gestößeltem Elfenbein der Jadeelefanten Srilankas.
Die Männer sinken zwischen ihre Schenkel, schamlos geworden, geleitet von Zwergentänzerinnen, die
die Höhlen der Verkommenheit bei purem Licht zu Geschmeiden formen.
Und rundum sinkt es zu Boden,
und der Gesang der sich mischenden Ekstasen schwillt an und ab, verklingt in den Gräben eines
Abflusses, der direkt zu Euridike in den Hades führt...
Kommen Sie?

: Sie sind ein schwächelnder und kranker Kretin.
Mir steht der Sinn nach Frühling.

: Oh wie häßlich. Sprechen Sie nicht so.
Jeder Neubeginn des Natürlichen ist ein Verbrechen wider die Schönheit.
Ein unverzeihlicher Fehler der heutigen Kunst.
Doch ihre Zeit hat sich ausgelebt.
Nehmen wir Champagner mit auf den Spaziergang.
Herr Ober, bringen Sie Champagner, zwei Gläser und lassen Sie die Rechnung stehen...

zuletzt bearbeitet 30.12.2010 22:44 | nach oben

#2

RE: In einem Wiener Café um Neunzehnhundert...

in Liebe und Leidenschaft 30.12.2010 10:38
von Rubberduck | 558 Beiträge | 558 Punkte

Otto!

Otto, du nimmst mir den Saft aus den Fingern. Wie soll ich mich dieses Themas annehmen in meiner Naivität, wenn du eine solche Inszenierung aus der Hüfte heraus schreibst???

Ich bleibe mal wieder mit offenem Mund staunend stehen, mit welch einer Leichtigkeit du ein solches Thema anpackst! Und ich ..... ich.... lese, recherchiere, versuche. Ja es bleibt bei mir immer nur ein Versuch, aber du tust es einfach.

Ich ziehe meinen Hut, und zerknülle mein stümperhaftes Gedicht, das ich bereits begonnen hatte, über die käufliche Liebe, und kicke es in den Mülleimer.

Liebe Grüße,
ein Fan

zuletzt bearbeitet 30.12.2010 10:38 | nach oben

#3

RE: In einem Wiener Café um Neunzehnhundert...

in Liebe und Leidenschaft 30.12.2010 22:50
von otto | 637 Beiträge | 645 Punkte

Nein Bärbel. Ein Versuch von mir. Eine kleine Theaterszene in einem Kaffeehaus in Wien des ausgehenden 19.Jahrhundert. Décadence, .Wilde, Schnitzler, Zweig, Prag und Wien, die Melange der Reigen ... Dandytum, Zerfall, Melancholie. Ich habe nur versucht
den Zeitgeist dieser Periode zu skizzieren.

Übrigens gehe ich gerne über Friedhöfe. Alleine. Keiner hört einem zu, wenn man mit sich selber spricht...

zuletzt bearbeitet 30.12.2010 22:52 | nach oben


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