#1

Theodor Storm 1817 - 1888

in Rumpelkammer 05.09.2009 16:39
von mcberry • Administrator | 3.230 Beiträge | 3490 Punkte

Meeresstrand 1856

An's Haff nun fliegt die Möwe,
Und Dämm'rung bricht herein;
Über die feuchten Watten
Spiegelt der Abendschein.

Graues Geflügel huschet
neben dem Wasser her;
Wie Träume liegen die Inseln
Im Nebel auf dem Meer.

Ich höre des gärenden Schlammes
geheimnisvollen Ton,
Einsames Vogelrufen -
So war es immer schon

Noch einmal schauert leise
Und schweiget dann der Wind;
Vernehmlich werden die Stimmen
Die über der Tiefe sind.

zuletzt bearbeitet 05.09.2009 16:41 | nach oben

#2

RE: Theodor Storm 1817 - 1888

in Rumpelkammer 05.09.2009 17:03
von mcberry • Administrator | 3.230 Beiträge | 3490 Punkte

Liebe Dichter !

Diese Verse habe ich nicht nur aufgrund ihrer besonderen Schönheit, sondern mit einer Absicht
eingestellt.
Storm weicht von dem oft rigoros abverlangten metrischen Schema lässig ab.
Gerade die doppelten Senkungen zwischen zwei Hebungen lesen sich beschwingt.
Die Zeilen beginnen mal mit Auftakt oder eben auch nicht.
Dennoch vermittelt sich dem Leser nicht das Gefühl, es sollte irgendetwas anders sein als genau so.

Ich denke auch nicht, daß jeder das so hinkriegt. Und Anfänger halten sich bestimmt besser eine
Weile an Regeln. Aber wir müssen das metrische Korsett auch nicht zu fest schnüren.
Viele Grüße mcberry

zuletzt bearbeitet 05.09.2009 17:06 | nach oben

#3

RE: Theodor Storm 1817 - 1888

in Rumpelkammer 03.04.2017 12:29
von munk (gelöscht)
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[Ein Blatt aus sommerlichen Tagen]

Ein Blatt aus sommerlichen Tagen,
Ich nahm es so beim Wandern mit,
Auf daß es einst mir könne sagen,
Wie laut die Nachtigall geschlagen,
Wie grün der Wald, den ich durchschritt.

zuletzt bearbeitet 03.04.2017 12:29 | nach oben

#4

RE: Theodor Storm 1817 - 1888

in Rumpelkammer 03.04.2017 13:03
von munk (gelöscht)
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Theodor Storm „Immensee“

Der Alte

An einem Spätherbstnachmittage ging ein alter wohlgekleideter Mann langsam die Straße hinab. Er schein von einem Spaziergange nach Hause zurückzukehren; denn seine Schnallenschuhe, die einer vorübergegangenen Mode angehörten, waren bestäubt. Den langen Rohrstock mit goldenem Knopf trug er unter dem Arm; mit seinen dunklen Augen, in welche er sich die ganze verlorene Jugend gerettet zu haben schien und welche eigentümlich von den schneeweißen Haaren abstachen, sah er ruhig umher oder in die Stadt hinab, welche im Abendsonnendufte vor ihm lag. – Er schien fast ein Fremder; denn von den Vorübergehenden grüßten ihn nur wenige, obgleich mancher unwillkürlich in diese ernsten Augen zu sehen gezwungen wurde. Endlich stand er vor einem hohen Giebelhause still, sah noch einmal in die Stadt hinaus und trat dann in die Hausdiele. Bei dem Schall der Türglocke wurde drinnen in der Stube von einem Guckfenster, welches nach der Diele hinausging, der grüne Vorhang weggeschoben und das Gesicht einer alten Frau dahinter sichtbar. Der Mann winkte ihr mit seinem Rohrstock. „Noch kein Licht!“ sagte er in ein etwas südlichen Akzent; und die Haushälterin ließ den Vorhang wieder fallen. Der Alte ging nun über die weite Hausdiele, dann durch einen Pesel, wo große Eichschränke mit Porzellanvasen an den Wänden standen; durch die gegenüberstehende Tür trat er in einen kleinen Flur, von wo aus eine enge Treppe zu den oberen Zimmern des Hinterhauses führte. Er stieg sie langsam hinauf, schloß oben eine Türe auf und trat dann in ein mäßig großes Zimmer. Hier war es heimlich und still; die eine Wand war fast mit Repositorien und Bücherschränken bedeckt; an der andern hingen Bilder von Menschen und Gegenden; vor einem Tische mit grüner Decke, auf dem einzelne aufgeschlagene Bücher umherlagen, stand ein schwerfälliger Lehnstuhl mit roten Sammetkissen. – Nachdem der Alte Hut und Stock in die Ecke gestellt hatte, setzte er sich in den Lehnstuhl und schien mit gefalteten Händen von seinem Spaziergange auszuruhen. – Wie er so saß, wurde es allmählich dunkler; endlich fiel ein Mondstrahl durch die Fensterscheiben auf die Gemälde an der Wand, und wie der helle Streif langsam weiterrückte, folgten die Augen des Mannes unwillkürlich. Nun trat er über ein kleines Bild in schlichtem schwarzem Rahmen. „Elisabeth!“ sagte der Alte leise; und wie er das Wort gesprochen, war die Zeit verwandelt – er war in seiner Jugend.

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