Ich fand Tagebücher schon immer reichlich blöd. Selbst, als ich noch ein liebeskummergeplagter Teenager war, konnte ich diesen rosa Plastikbüchern mit messingfarbenen Schlössern, in die man klitzekleine Schlüsselchen friemeln musste, nichts abgewinnen.
Meine Freundinnen zeigten mir stolz ihre Einträge, die von Herzchen (woher nahmen die bloß die Ausdauer, statt eines i-Punktes ein Herz zu malen?), Liebesgedichten in Schönschrift, aufgeklebten, aus der Bravo heraus geschnippelten, Stars und dämlichen Versen wimmelten. Ganz Verwegene gaben ihren Tagebüchern sogar Namen oder begannen jeden Eintrag mit ‚Liebes Tagebuch’. Hallo? Wie doof ist das denn!
Etwas später lasen wir in der Schule das Tagebuch der Anne Frank. Danach hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass ich Leute, die ihren Tagebüchern Namen gaben, für bescheuert hielt, doch selbst dieses Zeugnis einer dunklen Zeit änderte an meiner Einstellung bezüglich Tagebüchern nichts, verleitete aber den Rest meiner Mitschülerinnen dazu, erst recht oder wenigstens ab dem Zeitpunkt ein Tagebuch zu führen.
Irgendwann, es muss wohl zu meinem 14. Geburtstag gewesen sein, schenkte mir meine Patin ein Tagebuch. Gottlob war es nicht rosa, hatte aber auch dieses Messingschloss und zwei kleine Schlüsselchen, die an einer goldenen Kordel baumelten. Den ersten verlor ich bereits beim Auspacken beziehungsweise fiel er zu Boden. Und, da wir mein Wiegenfest mit einem Picknick im Wald feierten, blieb er verschollen. Waldboden und goldene Schlüsselchen vertragen sich nicht besonders. Meine Patentante riet mir, den zweiten doch mit einer Kette um den Hals zu tragen. Doch zum Glück bin ich gegen Nickel allergisch und mir blieb diese Schmach erspart. Sie zückte auch sofort einen Kugelschreiber, damit ich mein Tagebuch gleich einweihen konnte und nötigte mir sozusagen den ersten Eintrag ab. So saß ich also auf einem Baumstrunk, ließ meine Wurst verkohlen und zermarterte mir das Hirn, was ich denn in dieses jungfräuliche Notizbuch schreiben sollte. Links und rechts von mir standen meine Freundinnen, gaben mir gutgemeinte Ratschläge, da sie ja bereits auf jahrelange Tagebuch-Erfahrungen zurückblicken konnten, und ich wurde immer nervöser.
„Du schreibst doch so gerne“, sagte meine Mutter, „also schreib doch einfach was.“ Sie lächelte mir aufmunternd zu, runzelte aber bereits leicht die Stirn, da sie vor meiner Patentante mit meinen gut benoteten Schulaufsätzen immer angegeben hatte. Meine Patin hatte nämlich zwei Jungen und die waren in Deutsch absolute Pfeifen. Mir fiel und fiel nichts ein. Vermutlich hatte ich zu dem Zeitpunkt bereits meine erste Schreibblockade, obwohl ich ansonsten nicht unbedingt als frühreif galt. Irgendwann schrieb ich, mit schweißigen Händen und unter den neugierigen Blicken der Umstehenden oben rechts das Datum hin. Das war nicht schwer, es war schließlich mein Geburtstag, aber mehr fiel mir beim besten Willen nicht ein; und, begleitet von einem Augenrollen seitens meiner Mutter, einem maliziösen Lächeln von meiner Patin und dem Gekichere meiner Freundin, stammelte ich etwas von ‚heute Abend dann’ und verstaute das Heft im Picknickkorb.
Als ich von zu Hause auszog, fand ich das Ding unter meinen alten Schulbüchern. Noch immer prangte lediglich das Datum als einziger Eintrag auf der ersten Seite und mir schoss damals kurz der Gedanke durch den Kopf: Vielleicht hätte ich ja doch ... und wäre doch später amüsant ... Aber der Gedanke war wirklich nur sehr kurz und verflüchtigte sich recht schnell.
Kürzlich erhielt ich eine virtuelle Einladung zu einer Internetseite. Eine Kollegin lud mich ein, mir dort ein Profil zu erstellen und Einträge zu verfassen. In der beigefügten Nachricht stand: „Du schreibst doch, oder? Ich dachte gleich an dich. Mach doch mit. Das ist ganz toll! Als würde man Tagebuch schreiben!“
Es fehlten nur noch die Herzchen auf den i-Punkten.