#1

Verdammtes Unbunt

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 31.07.2009 14:01
von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte

Wie er die Maschinerie hasst, zu der sein Leben werden kann, eingezwängt zwischen eigenen Ansprüchen und den Erwartungen der andern.
Es fühlt sich an, als schnauft er auf rostigen Geleisen einen ständig wachsenden Berg hinauf.

Vorgestern war noch alles gut, erinnert er sich.
Jedes Wort war mit Musikalität durchwirkt, jeder Satz ein lustiges Liedchen.
Nach einem langen Lauf legte er sich auf sein Bett und sah den Worten so lange beim Tanzen zu, bis die Buchstaben ihre Bedeutung und Form verloren, um dann ineinander zu fließen, bunt wie ein Spektrum aller Schmetterlingsfarben.
Nach diesem Erlebnis wusste er: Kein Schatten holte ihn jemals wieder ein!
Nicht nachdem er die Quelle aller Farben gesehen hatte.

Natürlich täuschte er sich. Nach den gauklerischen Farbspielen umklammerte der Würgegriff des Alltags nur umso fester die Kehle und ließ nur noch wenige Worte entkommen, die nicht zueinander passten.
Das Essen schmeckte vergiftet, der morgendliche Lauf erfrischte nicht mehr, sondern ermüdete.

Letzte Nacht wurde er von seiner Atemlosigkeit gehetzt, bis er sich in einer fremden Umgebung wiederfand.
Wenige Sekunden später bemerkte er, dass er vor seiner Haustür stand und spürte die Rattenzähne des Wahnsinns an der Vernunft nagen.
In seiner Wohnung klinkte er seinen Wahn in ein Word-Dokument und schrieb sich in die Tiefe hinein und wieder hinaus. Irgendwann waren alle bösen Geister in Buchstaben gebannt, er schlief ein.

Als er an diesem Morgen erwacht, startet er den Computer in der Hoffnung auf ein paar gelungene Worte, dumpf erinnert er sich an das Gefühl ein großes Gedicht geschrieben zu haben. Doch sind es nur große Worte, die sich beim gedanklichen Abklopfen als hohl erweisen.
Beginnende Geisteskrankheit hätte er hinnehmen können, aber vor Phrasendrescherei fürchtet er sich. Von dem Gedicht angewidert, schlägt er auf den altmodischen Röhrenbildschirm bis der in einem jämmerlich kleinen Blitz implodiert.

Wenig später wird es Zeit, loszugehen. Er setzt einen Fuß vor den anderen, bis er auf dem realen Bahnsteig ankommt. Dort steht er jeden Morgen und wartet auf den Zug, der ihn zur Arbeit bzw. in hinreichende Nähe deportiert. Arbeitsstelle: Eine Buchhandlung, der zentrale Punkt in seinem Leben. Wenn es gut läuft, ein Tanzsaal, an schattigen Tagen wie diesem ein steinerner Käfig.

Manchmal träumt er wie es wäre: Einfach im Zug sitzen bleiben, nicht am Bahnhof raus, wo er jeden Morgen aussteigt, von wo er sich auf den immer gleichen Fußweg zur Arbeit macht.
Wohin der Zug weiter fährt, das weiß er nicht. Das will er nicht wissen, um darüber spekulieren zu können: Sich mögliche Zielbahnhöfe erträumend.
Vielleicht ratterte der Zug wie eine schwergewichtige Gleisfee auf dem Weg vom Hauptbahnhof aus in den Nordosten einfach in derselben Richtung weiter, bis an die Ostsee, wo er einen Tag am ewig wandelbaren Meer verbringen könnte.
Oder was ihm endorphingeschwängerte Tage vorgaukelten: Die Geleise machten eine Biegung, führten nach Südosten weiter: An Prag vorbei, den Balkan hinunter, einen Tag später stiege er in Istanbul aus, dem byzantinischem Konstantinopel, wo er über Basare schlenderte, ehrwürdigen Männern an ihren weißen Bärten zöge und ein paar Gramm türkischer Opiumproduktion paffte.

Ja, wieso eigentlich nicht? Wieso nicht einmal weiter fahren – Istanbul wartete schon auf ihn. Nur weg von dieser inspirationsfressenden Alltagsmaschinerie. Was denkbar ist, muss auch möglich sein! (Er hatte es stets vermieden, seine Blauäugigkeit zu verlieren, indem er seine Träume nie in die Tat umzusetzen versuchte.)

Schon ist es soweit, der Zug fährt ein, er setzt sich hinein. Wenige Minuten später signalisiert ein Schaffner freie Fahrt. Der übliche Weg vorbei an vier Unterwegsbahnhöfen. Sein Blick fliegt mit der Geschwindigkeit des Zuges über die allzu bekannten Landmarken, deren Betrachtung seinen Geist leert, wie es das Abfühlen der kleinen Knubbel auf dem Rosenkranz bewirkt oder das gleichförmige Gebrabbel von Mantras.

Der Zug quietscht in den Bahnhof ein, an dem er aussteigen müsste.
Und er stampft weiter, wie jeden Morgen, aber dieses mal mit dem Dichter als Passagier, wie nie zuvor. Die Grenze des Unbekannten, die bisher nur in der Vorstellungskraft überschritten wurde, verschiebt sich mit jeder Minute weiter nach hinten.

Die Expedition ins Unbekannte dauert sieben Minuten und sechzehn Sekunden. Dann fährt der Zug in einen schäbigen Provinzbahnhof ein, den der Schaffner als Endhaltestelle ausgibt und wo er die Fahrgäste auffordert auszusteigen.

Der Passagier steigt aus. Kurz danach pfeift der Schaffner die Abfahrt des Zuges des gegenüberliegenden Gleises an. Der potentielle Arbeiter durchschlüpft die Zugtüren, kurz bevor sich das stählerne Biest in Bewegung setzt. Er fährt wieder! Zurück.

Ungefähr acht Minuten (die Rückfahrt dauert länger, weil dieser Zugführer von einem Zugunglück träumte, wovon er niemandem erzählte, weswegen er aber seine Geschwindigkeit um wenige Km/h reduzierte, was er selbst nicht bemerkte) nachdem sie losfuhren, halten sie bei der Haltestelle in der Nähe seiner Arbeit.
Jetzt steigt der junge Arbeiter aus (nur ein Spatz bemerkt, dass er aus einer Richtung kommt, aus der er nie zuvor kam und macht tschilpend darauf aufmerksam) und geht eilig zu seinem Job. Er macht sich auf Ärger gefasst, aber es ist schlimmer: Niemand bemerkte sein Fehlen.

zuletzt bearbeitet 30.08.2009 11:26 | nach oben

#2

RE: Verdammtes Unbunt

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 01.09.2009 00:32
von wipfel (gelöscht)
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Hi Kjub,

tja, es ist wohl ein Kennzeichen des Forums, dass die Lyrik im Vordergrund stht - und Texte wie der deinige unbeachtet bleiben. Seis drum. Was mir an deinem Text gefällt, ist die Erzählstruktur, die Bilder die du erzeugst. Was ich Dir raten würde: Streichen, streichen, streichen. Du musst nicht alles erklären, hast es mit mündigen Lesern zu tun. Jeden Satz nochmal anschauen: stimmt das Bild? usw... Die Arbeit lohnt sich, davon bin ich überzeugt.

In Antwort auf:
bis die Buchstaben ihre Bedeutung und Form verloren, um dann ineinander zu fließen



bis die Buchstaben ihre BedeutungEN(?) und FormEN verloren, um dann ineinander zu fließen

Grüße von wipfel

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#3

RE: Verdammtes Unbunt

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 03.09.2009 19:18
von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte

hi wipfel, ich bekam hier effektive externe augen für das tuning einer anderen geschichte, es ist also nicht only-lyrics-virtuality hier. den ratschlag des streichens hörte ich häufiger in letzter zeit, ich nehme ihn zu herzen. auch show, don't tell wurde geäußert. wie dus eigentlich beides schon sagst. deinen konkreten vorschlag behalte ich im auge, im moment gefällt er mir nicht, ich kann den satz auch gut so denken, wie er momentan ist, aber vielleicht denke ich später anders. danke für die rückmeldung.
grüßend,
kjub

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