#1

Alfred Lichtenstein (1889 - 1914)

in Rumpelkammer 28.06.2009 10:44
von Simone • Mitglied | 1.674 Beiträge | 1674 Punkte


Der Sturm


Im Windbrand steht die Welt. Die Städte knistern.
Halloh, der Sturm, der große Sturm ist da.
Ein kleines Mädchen fliegt von den Geschwistern.
Ein junges Auto flieht nach Ithaka.

Ein Weg hat seine Richtung ganz verloren.
Die Sterne sind dem Himmel ausgekratzt.
Ein Irrenhäusler wird zu früh geboren.
In San Franzisko ist der Mond geplatzt.


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#2

RE: Alfred Lichtenstein (1889 - 1914)

in Rumpelkammer 28.06.2009 10:48
von Simone • Mitglied | 1.674 Beiträge | 1674 Punkte


Gesänge an Berlin


O du Berlin, du bunter Stein, du Biest.
Du wirfst mich mit Laternen wie mit Kletten.
Ach, wenn man nachts durch deine Lichter fließt
Den Weibern nach, den seidenen, den fetten.

So taumelnd wird man von den Augenspielen.
Den Himmel süßt der kleine Mondbonbon.
Wenn schon die Tage auf die Türme fielen,
Glüht noch der Kopf, ein roter Lampion.


Bald muß ich dich verlassen, mein Berlin.
Muß wieder in die öden Städte ziehn.
Bald werde ich auf fernen Hügeln sitzen.
In dicke Wälder deinen Namen ritzen.

Leb wohl, Berlin, mit deinen frechen Feuern.
Lebt wohl, ihr Straßen voll von Abenteuern.
Wer hat wie ich von eurem Schmerz gewußt.
Kaschemmen, ihr, ich drück euch an die Brust.


In Wiesen und in frommen Winden mögen
Friedliche heitre Menschen selig gleiten.
Wir aber, morsch und längst vergiftet, lögen
Uns selbst was vor beim In-die-Himmel-Schreiten.

In fremden Städten treib ich ohne Ruder.
Hohl sind die fremden Tage und wie Kreide.
Du, mein Berlin, du Opiumrausch, du Luder.
Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide.



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#3

RE: Alfred Lichtenstein (1889 - 1914)

in Rumpelkammer 01.07.2009 23:15
von Simone • Mitglied | 1.674 Beiträge | 1674 Punkte


Punkt


Die wüsten Straßen fließen lichterloh
durch den erloschnen Kopf. Und tun mir weh.
Ich fühle deutlich, daß ich bald vergeh -
Dornrosen meines Fleisches, stecht nicht so.

Die Nacht verschimmelt. Giftlaternenschein
Hat, kriechend, sie mit grünem Dreck beschmiert.
Das Herz ist wie ein Sack. Das Blut erfriert.
Die Welt fällt um. Die Augen stürzen ein.



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#4

RE: Alfred Lichtenstein (1889 - 1914)

in Rumpelkammer 29.07.2009 21:25
von Simone • Mitglied | 1.674 Beiträge | 1674 Punkte


Die Fahrt nach der Irrenanstalt I


Auf lauten Linien fallen fette Bahnen
Vorbei an Häusern, die wie Särge sind.
An Ecken kauern Karren mit Bananen.
Nur wenig Mist erfreut ein hartes Kind.

Die Menschenbiester gleiten ganz verloren
Im Bild der Straße, elend grau und grell.
Arbeiter fließen von verkommnen Toren.
Ein müder Mensch geht still in ein Rondell.

Ein Leichenwagen kriecht, voran zwei Rappen,
Weich wie ein Wurm und schwach die Straße hin.
Und über allem hängt ein alter Lappen –
Der Himmel ... heidenhaft und ohne Sinn.



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