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Toolbox [Prosa des Zeitraumes Januar-März 2009]
Toolbox [Prosa des Zeitraumes Januar-März 2009]
in Ausgezeichnete Prosa 18.03.2009 10:31von Brotnic2um • Mitglied | 645 Beiträge | 645 Punkte
Ich bin jetzt siebenundfünfzig Stunden wach. Ich werde Ihnen alles erzählen und Sie werden glauben, ich halluziniere oder sei durchgedreht. Aber es ist meine Wahrheit. Es ist das, was ich erlebt habe. Still! Ich glaube er kommt. War da nicht ein Geräusch? Ich könnte ja durch den Spion sehen? Geht nicht. Gestern habe ich die Wohnungstür komplett vernagelt. Mist. Aber es ist besser so. Es ist besser zu wissen, dass seine Schlüssel nicht ausreichen hier hereinzukommen. In meine Wohnung wird er sich nicht schleichen können. Hier nicht!
Er ist einer von der leisen, unauffälligen Sorte: älterer Herr, Schiebermütze, grauer Handwerkerkittel und – wie zum Hohn – hat er immer einen kreisch roten Werkzeugkoffer dabei. Still! Nein. Fehlalarm. Wie lange ist es her, dass ich Mr. Toolbox das erste Mal bemerkt habe? Drei Jahre? Nein. Drei Monate? Drei Wochen? Auf jeden Fall ist es länger her als dreißig Stunden.
Ich hatte am Schreibtisch in der Kanzlei gesessen und wie so oft eine Nachbarschaftsklage studiert. Es war mir zunehmend schwergefallen, mich auf die Buchstaben zu konzentrieren. Ich ertappte mich dabei, wie ich Sätze las, die nirgendwo standen. Mein Handy piepte. Der Ton riss mich aus der Versunkenheit meiner Arbeit heraus. Es war eine Erinnerung. Zwanzig Uhr. Isabel. Weihnachtsmarkt.
Bei einem Speed-Dating hatte ich Isa kennengelernt. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich ihr oder den anderen Kandidatinnen erzählt hatte. Vielleicht, dass mein Ururgroßvater Schamane war und mit einem Einbaum zweihundert Jahre nach Kolumbus die alte Welt entdeckt hat? Mit Sicherheit hatte ich diese Story erzählt und Isabel musste sie geglaubt haben, denn sonst hätte sie sich nicht mit mir zu einem samstäglichen Date auf den jüngst gestarteten Weihnachtsmärkten verabredet. Dieses Date wollte ich nicht verpassen. Ich hatte mein Handy unmittelbar nach unserer Verabredung, so programmiert, dass es mich von da an, jeden Tag erinnere, dass ich ein Treffen mit Isabel auf dem Weihnachtsmarkt habe.
Da ich zerstreut bin und gerne mal mich selbst vergesse, versuchte ich mich mittels dieses elektronischen Helferleins auf Spur zu halten. Meine neunmalkluge Tante Rosa sagte immer, wenn etwas schief ging: „Und wer ist schuld?“, und bevor Friedbert, ihr Mann, oder sonst jemand antworten konnte, schloss sie selbst: „Die Schneiderfrau.“ Die sei so neugierig gewesen, führte Tantchen aus, dass sie Erbsen gestreut hat, um den fleißigen und rechtschaffenen Heinzelmännchen auf die Fährte zu kommen. Aber die hätten das gemerkt und seien danach nie wieder gekommen. Wer wolle sich auch ertappen lassen?
Nach dem kurzen Schreck, den der Erinnerungston meines Telefons ausgelöst hatte und dem Gedanken, dass ich heute, in viel zu knapper Zeit, Isabel treffen würde, beruhigte ich mich wieder. Am heutigen Tage sollte das Treffen ja gar nicht stattfinden. Trotzdem beschloss ich für heute, die Arbeit ruhen zu lassen. Kein Einspruch, keine Schrift oder Petition musste zwingend und auf dem letzten Drücker fristgerecht in den Gerichtsbriefkasten eingeworfen, kein Schreiben noch unbedingt bis morgen früh eingesprochen sein, damit meine Frau Koch aus dem Sekretariat es tippen konnte. Ich gähnte. Es war jetzt weit nach sechs und ich hatte keine Lust mehr. Für einen Moment surfte ich noch durch das Internet und verzog die Miene wegen des marktschreierischen Schreckens-, Mord- und Ekeljournalismus, den auch seriöse Zeitungen mittlerweile pflegen. Blutige Bilder, nackte Frauen, Sex and Crime und eine Portion Angst und Schrecken, das sind die Zutaten des Groschenromans und des modernen, investigativen Journalismus. Alles ist eine Katastrophe, wenn nicht der Untergang des Abendlandes. Ob die tote Frau in der Wanne, der Benzinpreis, das Fernsehen oder der nächste Terroranschlag. Widerlich. Bevor ich meinen PC herunterfuhr, las ich noch eine Mail von Frau Koch. Sie erinnerte mich, dass jemand vom Sicherheitsservice des Hauses heute wiederholt nach einem Termin gefragt hätte.
Alle im Viertel waren ein wenig nervös geworden, wegen der einen Geschichte, als ein Spezialteam ins Haus gekommen war. Ein Mieter hatte wegen eines verdächtigen Geruches Alarm geschlagen. Am Ende war es ein chemisches Schulexperiment zweier Jungen gewesen. Die vom Haussicherheitsservice sollen sich mal nicht so haben, dachte ich, sammelte meine Utensilien ein, löschte die Lichter, verließ die Kanzlei und wollte zuschließen. Ein Jugendfreund, der jetzt bei der Staatsanwaltschaft ist, hat mich schon zu Schulzeiten damit aufgezogen, dass ich ein Klöterer sei. Damit meinte er meinen Schlüsselbund, der an meinem Gürtel „herumklötere“. Ich tat und tue mich immer noch schwer, Schlüssel wegzuwerfen. Mit der Zeit ist das Bund dicker geworden. Mit der Zeit habe ich Schlüssel am Ring gefunden, deren Schloss ich längst vergessen hatte. Fahrrad? Minitresor? Computer? Dummfug? Schlüssel gibt es ja für alles und ich weiß, dass es meistens lächerliche Sicherheitsbärte sind, die man so mitschleppt. Aber wegwerfen? Könnt’ ja was sein? Während ich meine Schlüssel unschlüssig durchfingerte, schaltete die Automatik der Flurbeleuchtung das Licht wieder aus. Schlagartig war es dunkel im Treppenhaus. Im gleichen Augenblick spürte ich in meinem Rücken Schritte. Ganz leicht. Federnd. Ich bekam eine Gänsehaut. Ich hasse das Gefühl, alleine und einer unbekannten Bedrohung ausgesetzt zu sein. Das hängt mit einem Traum zusammen, den ich als Kind hatte.
Schon als Kind hatte ich einen Traum, der mir weismachte, dass ich aufgewacht sei.
Damals träumte ich, dass ich wach werde und meine Kinderzimmertür aufschwingt. Ein Fremder erscheint im Rahmen und hinter ihm ist nur eine gähnende Leere. Er kommt wortlos zu mir an mein Bett. Und ohne dass ich mich wehren kann, hebt er mich heraus und trägt mich fort aus meinem Kinderzimmer.
Obwohl ich wusste, dass es ein Traum ist und mir ein Traum nichts anhaben konnte, fürchtete ich mich Nacht für Nacht. Viele Male stahl er mich aus meinem Bett und jedes Mal dachte ich, es sei endgültig vorbei. Obwohl ich meinte, laut zu schreien und meine Familie aufwachen müsste, trug er mich wortlos durch die Tür in sein schwarzes Nichts. Jedes Mal, wenn ich dann mit rasendem Herz aufwachte, setzte ich mich auf die Bettkante, stellte meine Füße auf den Boden und vergewisserte mich, dass ich noch am Leben war. Und dann ärgerte ich mich, dass der Traum immer noch Macht über mich hatte.
Irgendwann, als ich mal wieder auf der Bettkante saß und mich von meinem Alb zu befreien suchte, gewahrte ich den Teppich unter meinen Fußsohlen, spürte seine Beschaffenheit, den weichen Filz, die Härchen. Es war ein spektakuläres Gefühl und es war der Schlüssel, den fremden Mann zu besiegen. Denn ich konnte mich nicht entsinnen, in meinen Träumen jemals meine Füße oder den Boden unter meinen Füßen verspürt zu haben.
In der nächsten Nacht, als ich wieder wach wurde, die Tür zu meinem Zimmer aufschwang, er in der Tür erschien und langsam auf mich zukam, dachte ich nur an eines: „Wenn du wirklich wach bist, dann stell deine Füße auf den Boden und spüre die Realität. Wenn du wach bist, wird er verschwinden.“ Aber er kam auf mich zu.„Stell sie auf den Boden“, schrie ich mich im Traum an, „Stell sie hin!“ Vollkommen unbeeindruckt, wie in den Nächten zuvor, kam er immer näher. Ich hatte das Gefühl, als würde ich wild strampeln und meine Beine durch die Luft wirbeln und meine Decke abwerfen. Alle meine Bewegungen waren vollkommen unkontrolliert, aber es gab einen Willen und einen Plan, sich dem Schrecken zu entziehen: „Bring sie auf den Boden!“
Als er mein Bett fast erreicht hatte, war es mir endlich gelungen, meine Beine aus dem Bett zu wuchten. Ich spürte den Boden unter meinen Sohlen, spürte das Kratzen des Flors und dann machte ich meine Augen auf. Ich saß halb aufrecht im Bett, die Decke lag am Boden, mein Herz schlug wie wild aber er war verschwunden. Ich hatte wieder die Kontrolle und war wach. Nie wieder schaffte er es, mich aus dem Bett zu holen. Jedes Mal war ich schneller und am Ende so routiniert, dass er allen Schrecken verlor und nie wieder in der Tür erschienen war. Trotzdem blieb dieser Alb immer in meiner Erinnerung und sorgte wahrscheinlich mit dafür, dass ich den Schrecken vor der Dunkelheit, die Gänsehaut beim Betreten eines muffigen Kellers immer behalten habe. Die kindliche Angst, seine Welt mit einem Schlag ans Irrationale verlieren zu können, ist mir bis heute erhalten geblieben.
Weshalb ich auch an dem Abend unfähig gewesen war, mich zu bewegen. Steif wie ein Brett stand ich zitternd vor der Kanzleitür. Ich wagte es nicht zu atmen und spürte, wie der Mann den Treppenabsatz erreichte. Ich spürte seine Körperlichkeit und betete, dass er weiter gehen möge. Dann machte es „Klack!“ und das Licht ging wieder an.
„Viel besser! Im Hellen ist es angenehmer und im Dunklen finden Sie den Schlüssel sowieso nicht. Das ist übrigens ein beachtliches Bund, das Sie da tragen.“ Ich wusste überhaupt nicht, wie mir geschah. Die Stimme war warm, freundlich und sie hatte Witz. Von dieser Stimme hätte ich mich sofort in den Schlaf singen lassen. Trotzdem blieb mein Unbehagen und ich stotterte irgendwas zur Antwort. Offensichtlich war ich immer noch im Bann meiner Angst und hatte keine Kontrolle über meinen Körper.
„Darf ich mal sehen?“, fragte er und sah mich aus stahlblauen Augen an, die unter seiner Schiebermütze hervorblitzten, und ich musste zweimal schauen, damit ich mich versicherte, dass er nicht der bekannte Schauspieler Armin Müller Stahl war. Er war es nicht. Aber er hätte es sein können.
„Zeissikon H007“, sagte er nach einem kurzen Blick auf das Türschloss und zog fast gleichzeitig aus meinem Bund den richtigen Schlüssel heraus. „Das ist der Richtige.“
„Danke“, antwortete ich und fragte spontan: „Wer sind Sie?“
„Ich? Oh. Hier ist meine Karte. Ich muss weiter“, antwortete er leicht irritiert, steckte mir zum H007 Schlüssel seine Karte zwischen die Finger, drehte ab und mit einem „Klack“ ging das Licht wieder aus. Seinen Schritten nachlauschend blieb ich unentschlossen stehen. Dann erst tatschte ich nach dem Lichtknopf. Als das Licht wieder an war, besah ich die Karte. Sie war wirkte merkwürdig. Ich las: „Haben Sie Angst? Dann rufen Sie mich an.“
Darunter stand eine Telefonnummer. „Albern“, dachte ich noch und beschloss wachsam zu bleiben. Ich bin Anwalt, trage Verantwortung, denn mein Beruf funktioniert nur, wenn die Regeln nicht beliebig sind. Mein Freund von der Staatsanwaltschaft hat es während unseres gemeinsamen Studiums so formuliert: „Wir tragen zwar keine Pistolen, aber dafür tragen wir Paragrafen – wir sind Lawman.“ Dabei hatte er mich angezwinkert und spielte auf die Western an, die wir beide uns als Kind so gerne angesehen hatten. Die Rollenverteilung in den Western gefiel uns damals. Der Mann mit dem schwarzen Hut war der Böse, der mit dem Weißen, der Gute. Die Zeiten haben sich geändert. Aber einfach so mit Kennerblick für Schlüssel und einer idiotischen Karte in fremden Häusern herumzuspazieren, finde ich nicht seriös.
Noch in der U-Bahn, eingezwängt zwischen Zeitungslesern, die mit dem Format ihrer Seiten sichtlich Mühe hatten, begann ich, mein Handy mit den vordringlichsten Aufgaben zu füttern: Türschloss gegen alle Wahrscheinlichkeit einer Kompromittierung wechseln, die Telefonnummer auf der Karte des Toolbox-Mannes prüfen, meinen Freund von der Staatsanwaltschaft und die anderen Mieter von meinem Erlebnis in Kenntnis setzen, notierte ich eifrig. Ich war so beschäftigt mit dieser Aufgabenliste, dass ich fast meine Haltestelle verpasst hätte. Dank einer Dame und ihres fast unhöflichen Eingreifens schaffte ich es gerade noch, rechtzeitig auszusteigen. Ihr Gesicht kannte ich, weil ich ihr häufig früh oder abends auf meiner Linie begegnete. „Sieh an“, dachte ich, „Dann bin ich ihr also auch aufgefallen.“ Soziale Kontrolle ist so selten geworden, dass es auffällt.
Still! Er kommt. Ich höre doch was? Oder nicht? Ruhig bleiben. Nicht durchdrehen. Nicht hinter jedem Knacken ein Genick vermuten. Aber warum habe ich am nächsten Morgen nichts von dem getan, was ich mir vorgenommen hatte? Wieso habe ich weder Nachbarn noch die Polizei informiert? Noch nicht mal das Schloss hatte ich wechseln lassen. Idiotischerweise habe ich die Telefonnummer von seiner Karte kontrolliert. Quatsch – kontrolliert habe ich gar nichts. Angerufen habe ich. Mehrmals. Am Tag danach und später auch noch. Immer war ein Anrufbeantworter dran: „Leider ist unser Team zurzeit vollkommen ausgelastet. Bitte hinterlassen sie nach dem Signalton eine Nachricht. Einer unserer Service Mitarbeiter wird sich in kürzester Zeit mit ihnen in Verbindung setzen.“ Und als ich bereit war, eine Nachricht zu hinterlassen, schaltete sich das Gerät mit dem Hinweis ab, das „die maximale Aufnahmelänge erreicht sei.“
Seit dem Tag der Begegnung fiel mir der Schiebermützenmann und sein roter Werkzeugkoffer immer häufiger auf. Quasi im Stundentakt. Wenn ich, um mich vom Aktenstudium zu entspannen, aus dem Fenster auf die Straße blickte, wen sah ich? Eine Schiebermütze und einen roten Koffer, der in einem Hauseingang verschwand. Wenn ich eine vor Ort Besichtigung hatte, wegen irgendeiner verblödeten Nachbarschaftskrise, wen sah ich? Den Mann mit dem Koffer. Wenn ich einfach noch mal abends zum Supermarkt ging, wer kreuzte meinen Weg und verschwand wie ein Zauberer in irgendeinem Hausflur? Wen sah ich im Lokalfernsehen? Natürlich nicht als Protagonisten. Aber dafür spazierte er ganz ungeniert im Bildhintergrund herum. Er ging ein und er ging aus und niemand hinderte ihn daran oder schien ihn auch nur zu bemerken. Und immer wenn ich ihn sah, fütterte ich mein Handy mit weiteren Erinnerungen, dass ich etwas unternehmen müsse.
An einem der nächsten Tage, als ich wie gewohnt Punkt Sieben die U-Bahn bestiegen hatte, bemerkte ich, dass die Dame, die mich kürzlich davor bewahrt hatte, meinen Ausstieg zu verpassen, ungewohnterweise nicht da war. Stattdessen saß er mir gegenüber. Ich ließ mir nichts anmerken und beobachtete ihn verstohlen. So gut es eben ging, denn weder links noch rechts von mir lasen andere Passagiere in überdimensionalen Zeitungen. Wie gerne hätte ich über manch Balkenüberschrift ganz unschuldig zu ihm hinüber hinweggespitzt. Aber ich tat mein Bestes und auch er ließ sich nichts anmerken. So fuhren wir von Station zu Station. Ich zuckte nicht, als meine Station angesagt, erreicht und wieder verlassen wurde. Jetzt wollte ich wissen, wo er aussteigt, was er macht und wo er bleibt. Als er endlich ausstieg, folgte ich ihm so geschickt und unauffällig wie möglich. Wir waren in einem Viertel, in dem ein Block neben dem Anderen stand. Arbeiterregale wurden diese Schuppen auch genannt. Gut, dass mein Handy auch ein Fotoapparat ist. Ich fotografierte, wie er in einem Hauseingang verschwand. Dann stand ich vor dem Zwanziggeschosser, in dem er verschwunden war.
Ich blieb inmitten eines Wohnparks umringt von Wohnungsriesen stehen, wartete und fühlte mich zunehmend unwohl. Mit Hut, Mantel und Tasche, so wie ich mich am Morgen für die Kanzlei zurechtgemacht hatte, stand ich da und starrte auf den Eingang, durch den er verschwunden war. Natürlich vermutete ich, dass mich die Passanten misstrauisch beäugten. Das ist normal und heutzutage, wo ein vergessener Koffer Panik auslöst, all zu verständlich. Aber je länger er wegblieb, um so nervöser und unwohler fühlte ich mich. Nach einer gefühlten Viertelstunde zog ich die Krempe tiefer ins Gesicht und marschierte kurz entschlossen auf den Eingang zu. Mein Herz und mein Puls rasten. Dieses Gefühl war nicht nur unangenehm. Es war auch berauschend. Es war Adrenalin. „Was wäre, wenn?“, hämmerte es durch meinen Kopf. Als ich das von Klingelknöpfen und Namen übersäte Feld betrachtete und einen Weg suchte in das Haus hineinzukommen. „Irgendwo klingeln“, dachte ich, „irgendwo“. Ich drückte das Schild von I.Godard. Ich wartete. Sollte ich meine ganze Hand auf das Brett pressen? Ich sah mich um. Eine Frau schien sich, dem Eingang zu nähern und für einen Moment dachte ich, dass ich sie kenne. Ich spürte in den Achseln, wie ich schwitzte. Kurzerhand drückte ich mit der Handfläche eine Batterie von Knöpfen und fast zeitgleich ging der Summer.
Erleichtert atmete ich im Foyer durch. Dann wurde mir bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, wohin der Mann mit der Mütze verschwunden sein könnte und was ich machen sollte. Das Haus hatte zwar nur einen Eingang, aber etliche Etagen und noch mehr Türen. Hilflos stand ich da. Ich befürchtete, dass die Frau, die ich draußen bemerkt hatte, jeden Moment ins Foyer kommen könnte. Da sah ich, dass ich vor einem Fahrstuhl stand, der mir anzeigte, in welcher Etage, er zuletzt gehalten hatte. Der Lift erinnerte mich an Art Deco Selbstfahrer, die ich sonst nur in Filmen gesehen hatte. Die Schiebetüren waren verziert mit mehreren Halbbögen, die aufeinander aufbauten. Die Intarsien innerhalb der Bögen waren symmetrisch und in abwechselnden Schattierungen angeordnet. Über dem Rahmen waren in einem Halbkreis die Stockwerke in glänzenden Zahlen angebracht. Der goldene Etagenstandzeiger stand auf der Dreizehn. So erleichtert ich war, dass ich einen Anhaltspunkt für meine Suche gefunden hatte, um so nervöser wurde ich, als ich feststellte, dass der Knopf, den Fahrstuhl zu rufen, fehlte. Stattdessen sah ich neben der Tür nur ein Schlüsselloch und darüber eine dunkle Lichtanzeige, die bei Aktivierung ein „Fahrstuhl kommt“ signalisieren würde. Das kannte ich von Altbauten und nicht von modernen Wohnhäusern. Nur die Mieter bekommen einen Schlüssel für den Fahrstuhl und können ihn aktivieren. Aber ich bin ein Klöterer. Ich sah auf das Schloss, auf meinen Bund und der von mir ausgesuchte Schlüssel passte sofort. “Fahrstuhl kommt“ leuchtete in rötlichen Buchstaben auf und der große Zeiger auf der Dreizehn schob sich Nummer für Nummer nach unten. Als der Zeiger die Drei erreicht hatte, spürte ich ein Kribbeln auf meinem Rücken, und als der Zeiger die Eins fast erreicht hatte, hörte ich, wie sich ein Schlüssel in der Haustür drehte. Das kann nur die Frau sein, die ich glaubte, zu kennen. Auf einen möglicherweise peinlichen, gar kompromittierenden Moment, a la „Sie hier?“, hatte ich keine Lust. Ich konnte es kaum erwarten, bis der Zeiger die Null erreicht hatte. Als sich die Türen aufschoben, ich Gelegenheit hatte zu verschwinden, hoffte ich, dass sich die Türen wieder schlossen, bevor ich mich zu erkennen geben müsste.
Mit einem PING kam ich im Dreizehnten an. Die Tür glitt auf und eigentlich hatte ich erwartet, dass der Mann mit der roten Box vor mir stehen würde, stattdessen, war alles ruhig. Ich schritt heraus und links und rechts von mir erstreckte sich ein grauweiß gestrichener Schlauch, der sich, starrte ich lang genug hin, sich endlos in die eine wie die andere Richtung zog. Was machte ich hier? Ich fragte mich, ob ich durchgeknallt sei. Dann hörte ich plötzlich, wie ein Schloss einer Wohnung entriegelt wurde und mein Handy klingelte.
Ich weiß nicht mehr, wie ich es geschafft habe, den Klingelton zu unterdrücken und mich selbst in einem Türrahmen zu verbergen. Verzweifelt versuchte ich meinen Atem zu unterdrücken und sah abwechselnd auf das stumm blinkende Display in meiner Manteltasche, wo anklagend Büro blinkte und in den Wohnungstrakt, in dem er auf einmal stand. Gewissenhaft verschloss er die Wohnungstür, aus der er getreten war, richtete seinen Kittel und ging mit starrem Blick in meine Richtung. Sein Schatten zog an mir vorüber. Was wäre, wenn jetzt der Mieter, in dessen Rahmen ich klebte, hinter meinem Rücken die Tür aufzöge? Was wäre, wenn der Mützenmann sich umdrehte? Immerhin, er hatte mich nicht bemerkt. Wie aufgezogen und mit Tunnelblick war er an mir vorbeigegangen und routiniert wartete er auf den Selbstfahrer. „PING“ machte es und die Fahrstuhltür glitt auf. Er schritt in die Kabine und drückte eine Taste. Jeder normale Mensch dreht sich spätestens jetzt um und schaut wieder zurück. Ich befürchtete natürlich, dass er mich dann sehen könnte, und überlegte, in die Knie zu gehen; oder mein Versteck zu verlassen und in einen toten Winkel zu fliehen. Aber er rührte sich nicht und hielt sein Gesicht stur zur Kabinenwand gerichtet. Meine Intuition versicherte mir: Der dreht sich nicht mehr um. Und richtig: Die Tür glitt zu, ohne, dass er auch nur gezuckt hätte. Beinahe hätte ich mir kurz zuvor in die Hose gemacht und nun dachte ich schon wieder an den Maler Magritte und seine Spiegelbilder. Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte hysterisch losgelacht, aber ich hatte meine Nerven im Griff. Nun, da ich wusste, dass er weg war, löste ich mich aus dem Rahmen und ging zur Tür aus der er gekommen, um mir zu notieren, bei wem er gewesen war.
Godard stand auf dem Klingelknopf. Zufall? Ich glaube nicht an Zufälle. Dieser Name war mir unten aufgefallen, diese Klingel hatte ich gedrückt. Hatte er mir aufgemacht? Wahrscheinlich. Deshalb hatte er sich auch nicht im Fahrstuhl umgedreht. Er wusste ganz genau, schon seit der U-Bahn, dass ich ihm gefolgt war, wusste, als es bei Godard klingelte, dass ich es sein musste, wartete ab, lauschte, bis er die Klingeln nebenan hörte und dann erst öffnete er mir die Haustür. Und hier im Flur tat er so, als sei ich gar nicht da. Er drehte mir demonstrativ den Rücken zu und lachte mir dennoch ins Gesicht. Raffiniert.
Während ich mir Namen und Uhrzeit der von ihm Besuchten in mein Handy programmierte, funkte mir leider wieder mein Büro mit einem Anruf dazwischen. Mist. Ich nahm den Anruf entgegen. Es war Frau Koch, die fragte, wo ich bliebe. Im Fall Mann gegen Heinzel liefen Fristen aus. Das stimmte. Ich sah auf die Uhr. Fast elf. Es würde Mittag vorbei sein, wenn ich im Büro einträfe. Mein Abenteuer am Vormittag hatte länger gedauert, als ich es gedacht hatte und meine Pflichten es vertrugen. Trotz des Stresses und meiner Beschwichtigungs- und Erklärungsversuche gegenüber Frau Koch musste ich, während ich mit ihr sprach, fast zwanghaft an die Peanuts Zeichentrickfolgen im Fernsehen denken. Immer wenn bei den Peanuts die Erwachsenen auftreten, die man nie sieht, ertönen tiefe, lautmalerische Töne, die keinen Sinn, aber eindeutig Respekt einflößend genug sind, um die kleinen Nüsse wieder in die Spur zu bringen. Wenn man solche Dinge reflektiert, wird es einfacher zu gehorchen? Ich weiß es nicht. Jedenfalls sputete ich mich und versuchte auf dem Weg ins Büro nicht darauf zu achten, ob ich irgendwo den Toolbox Mann sehen würde. Ich sah ihn, aber ignorierte ihn.
Wenn ich mir heute alles wieder durch den Kopf gehen lasse, frage ich mich, warum ich nicht schon früher meinen Freund ins Vertrauen gezogen habe? Warum ich nicht bei I.Godard geklopft, geklingelt oder angerufen habe? Warum ich nicht bei meinem Lokalsender angerufen habe und den Aufnahmeleiter gefragt, ob er den komischen Typen mit dem roten Werkzeugkoffer bemerkt hätte? Gar nicht zu reden von den Mietern, die oberhalb der Kanzlei wohnen.
Es mussten wieder zwei, drei Tage nach der Begegnung in dem anonymen Hochhaus und etliche weitere zufällige Begegnungen mit dem Fremden verstrichen sein, als ich mich endlich dazu aufraffen konnte, meinen Freund von der Staatsanwaltschaft aufzusuchen. Es war ein spontaner Entschluss. Ich hatte für einen anderen Fall recherchiert und stolperte im Internet über Schlagzeilen wie Terror, Mord und Totschlag. Es war höchste Zeit, um Rat und Aufklärung zu bitten und ich ärgerte mich, dass ich solange damit gewartet und versucht hatte, hinter ein Geheimnis zu kommen, dass zu lösen nicht meine Aufgabe war. Ich hatte genug andere Akten, die ich wälzen musste. Es war zwar schon spät, aber wenn ich mich sputete, würde ich es noch vor Dienstschluss bis zu seinem Amt schaffen können. Die Straßen waren voller Hektik wegen des nahenden Feierabends. Eine Bahn, die proppenvoll war, fuhr genau vor meiner Nase weg und ich überlegte, ob ich es vielleicht mit einem Taxi versuchen sollte. Aber der Takt der Bahnen war kurz. Die Nächste erschien wenige Minuten später. Sie war ähnlich voll. Irgendwie quetschte ich mich hinein. Mir fiel die Uniformität der Bürger auf. Mantel, Hut, schlichtes Kostüm. Fast alle hatten Knöpfe im Ohr und ließen sich bedudeln. Die Musik schien sie, in eine andere Welt zu tauchen. Ich, der ich das Rauschen, Brummen, Atmen und Sirren hörte, fühlte mich ausgesetzt, aber wirklichkeitsbezogener als die Anderen, die sich mit Musik die Welt erträglich machten. Nur wer den größeren Nutzen hatte oder glücklicher war, wusste ich auch nicht.
Als der Amtsgerichtsplatz erreicht war, musste ich die Schultern der Männer in ihren Trenchcoats fast gewaltsam auseinanderdrücken, um mich durch die Schiebetür auf den Bahnsteig zu zwängen. Fast gleichgültig ließen sie es mit sich geschehen. Vielleicht hätten sie erst aufgemerkt, wenn ich ihnen den Stöpsel aus den Ohren gezogen hätte? Die Zeit drängte, denn schon blinkten über den Türen, die Lampen, die zur unmittelbar bevorstehenden Abfahrt mahnten. Panisch schubste ich einen zusteigenden Passagier, der sich mitten im Weg befand, zur Seite, um nicht von den Türen eingequetscht und möglicherweise bis zum nächsten Bahnhof geschleift zu werden. Erst als ich auf dem Bahnsteig stand, drehte ich mich um, und erkannte, wen ich weggeschubst hatte. Es war Mr. Toolbox. Obwohl die Bahn sich in Bewegung setzte und sich sein Bild sich schnell verlor, war ich mir sicher, dass er mich unter dem Schirm seiner Mütze beobachtete und einen Schlüssel demonstrativ vor sein Gesicht hielt. Der Schlüssel erschien mir bekannt. Ich schluckte trocken und befürchtete, dass er bei dem unfreiwilligen Zusammenstoß, die Gelegenheit genutzt hatte, um mir meinen Schlüssel zu entwenden. Mit zitternden Händen zählte und befühlte ich die Bärte und beruhigte mich erst wieder, als ich den Zeissikon H007 in meiner Hand hielt. „Warum hätte er ihn stehlen sollen“, schalt ich mich, „wenn er doch eh Zugang zu den Häusern hatte?“ Dieser Gedanke erinnerte mich an mein eigentliches Ziel: meinen Freund.
Ich hetzte die Stufen nach oben ans Licht. Ans Licht? Es war dunkel geworden. Matschig und dreckig war es in dieser Stadt ohnehin. Ich dachte in diesem Augenblick, ob ich nicht alles an den Nagel und mich nur noch meinem Hobby der Fotografie weit fort von hier in Feuerland oder Patagonien hingeben sollte? Was hatte ich hier verloren? Broterwerb nach Brago? Was scherte mich der Quark den Nachbarn sich gegenseitig unter die Nase hielten? Immerhin, vielleicht würde das Treffen mit Isabel Licht in mein Leben bringen? Aber das war jetzt nicht das Thema und ich musste zu meinem Entsetzen feststellen, dass die Behörde die Pforten schloss und die Lawmänner nach Hause strömten. Sie sahen alle gleich aus in ihren hellen Mänteln und breitkrempigen Kopfbedeckungen. Wie ein verirrter Junge, der seinen Papa sucht, vergriff ich mich mal an jener, mal an dieser Schulter und musste mich für die zahlreichen Verwechselungen entschuldigen. Sollte ich ihnen die Hüte vom Kopf schlagen? Plötzlich hörte ich die Stimme meines Freundes. Seine Stimme sprach von einem Mord, einer Frau, die in einer Wohnung eines Hochhauses tot in der Badewanne aufgefunden worden war, dann, abgelenkt durch eine Zwischenfrage von einer Überwachung, einer Zelle, deren Gefährlichkeit noch schlecht einzuschätzen sei, dann wieder von der schönen Toten. Ich wühlte mich durch die vielen hellen Mäntel immer seiner Stimme nach. Endlich erreichte ich ihn, aber leider erst, als die Meute die Bahnsteigkante erreicht hatte.
Mein Freund erkannte mich nicht gleich und war verständlicherweise überrascht, mich zu sehen. Aber kaum das wir uns begrüßt hatten, blinkte an der Tafel ein stilisiertes Bild einer Bahn und kündigte deren Kommen an. Es blieb mir nur Zeit, ihm meine Beobachtungen in knapper Form zuzurufen und um Nachprüfung der Telefonnummer zu bitten. Als sich die Türen der Bahn schlossen, schaffte ich es gerade noch, die Visitenkarte des Werkzeugkoffermanns, zu ihm durchzustecken. Er rief mir durch die geschlossenen Türen zu, dass er sich darum kümmern und sich bei mir melden würde, sobald er etwas wüsste.
Jetzt habe ich jedes Loch in meiner Wohnung zugenagelt und welche Chancen habe ich? Vermutlich keine. Wie viele Fertiggerichte habe ich? Mehr als genug. Mehr als ich aufbrauchen könnte. Kaffee? Soviel, dass meine Hände jetzt schon zittern und ich habe einen Lid Tic. Wenn ich einschlafe, wird er kommen. Das habe ich erlebt; das weiß ich. Ich werde ihn im Schlaf nicht aufhalten können. Im Gegenteil. Keine Ahnung, warum ich jetzt an meinen Onkel „Friedbert der Flieger“ denken muss. Ausgerechnet „Friedbert der Flieger“. Immer kujoniert von seiner Frau, meiner Tante Rosa, aber begehrt von seinen Neffen. Friedbert war Diabetiker. Der einzige Verwandte, dem wir Kinder Süßigkeiten zustecken konnten.
II.
Als Kind war ich häufig bei Friedbert und Rosa zu Besuch. Mein Onkel, der Segelflieger, genoss es, an seiner Zigarre zu knöseln und mir Dreikäsehoch von seinen Abenteuern zu erzählen. Währenddessen lief auch immer der Fernseher. Friedbert und Rosa hatten schon früh Farbfernsehen und ich genoss die bunten Bilder und die Abenteuer meines Onkels. Sein Flugabenteuer vom „Diamanten“, ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. Er sei einen Diamanten geflogen, davon hatte er mir am Liebsten erzählt. Das Abenteuer begann in Neuchâtel oder in irgendeinem anderen Schweizer Kaff zwischen den Schweizer und französischen Alpen. Dort hätten sie ihn hochgezogen. Hoch und höher und ein Wetter, Kleiner, ein Wetter, sei das gewesen, dass er jeden Millimeter Erde unter ihm gestochen scharf gesehen hätte. Als sie ihn ausgeklinkt hatten, hätte er sich wie ein Gott gefühlt. Da oben schwebe man über allem. Niemand könne dich dort erreichen. Das sei besser, als tauchen. Und die Kulisse, die Alpen, der Fels, Kleiner, das drehe einem den letzten Rest an Verstand heraus und er hätte, Aufwind um Aufwind, Welle um Welle, gesucht und sich weiter hinaufgeschraubt. Normal seien dreitausend Meter Höhe, aber er war schon auf viertausend Meter und stieg noch, als er die Wolkentürme von West wie Ost bemerkt hätte. Zwei Fronten, eine dunkler als die andere. Es hieß zwar, dass niemand zwischen zwei Gewittersysteme geraten könne, aber ihm sei es passiert und er wusste, dass es seinen Segelflieger wie Papier zusammengeknüllt hätte, wenn er zwischen den Wolkentürmen bleiben würde. Der friedliche Ausschnitt unter seinen Füßen, mit den saftigen, grünen Almen und den schneebedeckten Gipfeln hätte mit einem Mal fremd und unwirklich gewirkt. „Da, Kleiner, hat Dein Onkel gedacht, dass sein letztes Stündlein geschlagen hätte. Aus! Aus und vorbei!“, rief Friedbert mit geharzter Stimme und klatschte in die Hände, als seien seine Pranken, die Wetterfronten, zwischen denen er gefangen gewesen sei. Nachdem seine Pranken zusammengeklatscht waren, schwieg er, sog an seinem Zigarrenstumpen, wuschelte mit seinen nikotingelben Fingern über mein Haupt, sog am Stumpen und schwieg wieder. Endlich sagte er: „Aus wäre es gewesen, Junge. Für immer. Aber zwischen den Türmen, zwischen den Fronten, gab es einen Schacht. Du musst Dir das, wie einen Schornstein vorstellen. Der Aufwind, der dort herrscht, ist mörderisch.“
Ich war ein kleiner Junge, als ich Onkels Fliegergeschichten zu Ohren bekam und ich bin mir heute nicht mehr sicher, ob ich die Geschichten von Friedbert dem Flieger richtig verstanden hatte.
Das Wochenende mit Isabel stand bevor. Es war Freitag und der Freitag war störungs- und irritierungsfrei verlaufen. Rote Koffer hatte ich nicht gesehen. Nach der Arbeitsroutine, für dich ich sehr dankbar war, beschloss ich, den Treffpunkt, den ich für morgen mit Isabel vereinbart hatte, schon heute, in Augenschein zu nehmen. Es könne nicht schaden, sagte ich mir, den Markt zu kennen, um Isabel weltmännisch zu den interessanten Ständen führen zu können. So machte ich mich nach Dienstschluss zum Diogenesmarkt auf, wo jedes Jahr der Weihnachtsmarkt stattfindet. Als ich auf die Bahn wartete, bemerkte ich, wie sich der Bahnsteig mit einem Schwall roter Mäntel füllte. Wo hin ich auch sah, sah ich rot. Rote Kapuzen und rote Mäntel. Schließlich saß ich in einem Waggon, in dem außer mir, sonst nur Weihnachtsmänner in ihren roten Kostümen saßen. Es stellte sich heraus, dass diese Kostümierung für einen Rekordversuch veranstaltet worden war. Tausende Weihnachtsmänner sollten sich vor der Tonne des Diogenes einfinden, und einen alten Weihnachtsmannrekord auslöschen. So zumindest verstand ich die Dialogfetzen, die mir während der Fahrt ans Ohr drangen. Am Ende stieg ich mit einer Kompanie Weihnachtsmännern im Schlepptau aus.
Der Diogenesplatz ist groß. Der Platz ist bei Licht betrachtet eine Wüste aus Asphalt und Beton. Wenn man ihn zur Weihnachtszeit nicht mit Buden und Schaustellerattraktionen aller Art zugepflastert hätte, obendrein das größte mobile Riesenrad der Welt und die größte Tanne Mitteleuropas ins Zentrum des Platzes gestellt hätte, alle Besucher hätten sich vor Einsamkeit geschüttelt. Zur Weihnachtszeit war der leere Charakter des Platzes mit bunten Blinklichtern, Maronen-, Glühwein- und Knoblauchdüften, Gesängen und warmen Wünschen nebst grellen Schaubuden übertüncht worden. Ein totes Gesicht, das mit rotem Lippenstift grell überschminkt ist. Selbst die Tonne des Diogenes, sonst berührend und still wie das Innere eines Kirchenschiffes, war nur noch bunt und laut.
Ich machte mich daran, den Markt zu erkunden. Mittlerweile hatte ich mich an die roten Mäntel, die sich blutstropfengleich um mich scharten gewöhnt, und nahm sie kaum noch wahr. In dieser Traube von Nikoläusen trödelte ich um den Markt und inspizierte die Waren. Immer in der Hoffnung, einen exquisiten Stand zu entdecken, der mir Isabels Respekt einbringen könnte. Am Deutlichsten blieb mir der Stand von den Grimms im Gedächtnis, die aus jedem zugerufenen Wort, Allegorien aus Büroklammern und Alltäglichkeiten zusammenschweißen und in einer Nussschale präsentieren konnten. Die Brüder forderten mich auf, sie mit einem Wort zu füttern. Sie schmeichelten mir, dass ich ganz offenkundig ein Mann des Wortes sei. Sie gaben erst Ruhe, als ich Ihnen nachgab und ihnen das Wort „Paragraf.“ zurief. Sie waren entzückt und schnell war das § Zeichen aus Bürodraht geformt. Dann bastelten sie noch einen Galgenbaum und erhängten mein Zeichen. „Nicht originell, aber knallig“, dachte ich, als ich das in einer Walnussschale präsentierte Ensemble in Empfang nehmen wollte. Aber statt des Kunststücks bekam ich mit einem Mal einen Ellenbogen von hinten in die Seite gedroschen. Mir blieb der Atem weg, ich drehte mich um und sah noch, wie ein Weihnachtsmann Fersengeld gab. Offensichtlich war ich in seinen Fluchtweg geraten. Bevor ich, halbwegs zu Atem gekommen, Verwünschungen hinterher rufen konnte, zerrte mich plötzlich einer der Grimms weg und schmiss mich zu Boden. Eine ganze Meute von Weihnachtsmännern, die Befehle brüllten und Handfeuerwaffen im Anschlag hielten, stieb wie eine Bisonherde über das Pflaster. Wäre ich stehen geblieben, die Herde hätte mich totgetrampelt. Als die rot kostümierte Stampede vorbei war, riss ich mich leicht benommen vom Bruder Grimm los und stolperte der Meute hinterher. Heute weiß ich, dass er mich gerettet hat. Damals wollte ich weg und lieber wissen, welche Seltsamkeit es mit diesen Nikoläusen auf sich hatte.
Die Verfolger riefen „Stopp!“, „Polizei!“ aber es fielen keine Schüsse. Der Flüchtende wurde schließlich geschnappt. Als ich den Ort der Festnahme erreicht hatte, konnte ich erkennen, wie ein am Boden liegender Weihnachtsmann, umringt von einem Pulk aus roten Mänteln, mit Baseballschlägern malträtiert wurde. Fast wäre ich nach vorne gestürzt, um der Gewalt ein Ende zu setzen. Aber zwischenzeitlich hatten einige aus der Weihnachtsmanntraube ihre roten Mäntel fallen gelassen und darunter kamen grüne Polizeijacken zum Vorschein. Alle hatten auf dem Rücken Dreiecke, Quadrate oder andere Swastika aus reflektierendem Material aufgeklebt bekommen; vermutlich zur Kennzeichnung der Teamzugehörigkeit.
Erst später fiel mir ein, wie seltsam eine Kennzeichnung ist, die unter einem Mantel verborgen bleibt.
Trotz der Polizeiuniformen und dem Gefühl, viel zu tief in einen Strudel der Gewalt hineingeraten zu sein und obwohl ich meinem Instinkt Reißaus zu nehmen, kaum noch zu beherrschen vermochte, zückte ich meine Handykamera und versuchte, die planlose Gewalt der Gesetzeshüter einzufangen. Es war schier unmöglich, hinter der Mauer aus Beinen und Stiefeln, das am Boden liegende Opfer zu fokussieren. Der Atem stand, die uniformierten Männer lachten hässlich, ich hörte dumpfe Schläge, das Bild im Display war körnig verwackelt und ich dachte, in einen Albtraum geraten zu sein. Zunehmend aufgeregter fotografierte ich schließlich alles, was mir vor die Linse kam, und achtete nicht mehr auf den Ausschnitt. Es machte ein-, zweimal das verräterische Ratschgeräusch eines Kameraverschlusses und die Aufmerksamkeit der Meute schwappte abrupt zu mir rüber.
Auf einmal sah ich die aggressive Fratze eines kurz geschorenen Ordnungshüters im Sucher. Sein Gesicht hatte trotz oder wegen der Kälte die Färbung eines Pavianhinterns und ich hatte das Gefühl, als sei ich in ein Raubtiergehege eingedrungen. Ich überlegte nicht mehr und nahm meine Beine in die Hand. Was zu viel war, war zu viel. Ich rannte wie der Teufel. Der Diogenesmarkt verzerrte sich so, als hätte ich auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Adrenalin durchströmte meinen Körper und ich lief, wie ich glaubte, nie zuvor gelaufen zu sein. Es war ein Rausch. Ausgelöst durch die Angst, meine Existenz zu verlieren. Existenz? Was für ein Wort? Leben. Die wollten mich. Die klebten mir am Arsch und wollten zuschlagen. Keine Diskussionen, keine Worte, keine Reflexionen. Einfach das Licht ausmachen. So unerbittlich wie der Timer in einer anonymen Flurbeleuchtung. Klack. Licht aus.
Bis ich wieder in der Lage war, mich von der Adrenalinlichtgeschwindigkeit auf Echtzeit zurückzubeamen, war die U-Bahn schon viele Stationen gefahren. Das Wort „Abgehängt“ dröhnte in mir nach, als ich mir bewusst wurde, dass ich in einem Waggon einer U-Bahn stand und mich trotz meiner zitternden Knie an einem Handgalgen senkrecht zu halten vermochte. Abgehängt. Ich hatte sie abgehängt. Was für eine verrückte Scheiße. Ich lachte. Niemand außer mir war im Waggon. In den Displays des Fahrgastfernsehens lief unter dem Thema Lifestrips eine Art Daumenkino unter dem Titel „Was ein Leben.“ ab: Der Protagonist liest sein eigenes Tagebuch und glaubt nicht, dass es sein Tagebuch ist. Stattdessen beglückwünscht er neidisch den Tagebuchautoren für sein erfülltes Leben.
Bevor ich begreifen konnte, was sich mir dargeboten hatte, kamen aktuelle Lokalmeldungen: Anschlag auf Weihnachtsmarkt in letzter Sekunde verhindert. Tausende verdanken der Polizei ihr Leben. Im Geschenksack vom Nikolaus lauerte die Todesbombe. Die Bilder, die zu diesen Headlines eingespielt wurden, erinnerten mich allerdings nicht an meine Begegnung mit den Santas, die ungeniert einen Anderen niederknüppeln. Die Bilder zeigten schwarz uniformierte Sondereinheiten, die vorschriftsmäßig einen normal gekleideten Bürger abführten. Die Sackbombe wurde von einem Bombenentschärfungsroboter ganz steril aus irgendeinem Papierkorb geholt. Es gab keine Baseballschläger, keine Swastika. Alles war, wie nie geschehen. Mit einer Hand am Galgen fuhr ich durch die schwarzen Tunnel der U-Bahn. Ich kann mich nicht erinnern, wie lange ich so stand. Fahrgäste kamen, Fahrgäste gingen. Gesprächsfetzen rauschten vorüber. Mal wurde über den Anschlag getuschelt, mal über die Frau, die in der Badewanne verblutet war. Ich sah mich selbst, von links oben gefilmt, im Abteil stehen. Ich sah mich, als sei ich nur eine Erinnerung meiner Selbst. Erst als mein Handy vibrierte und mir signalisierte, dass ich eine Nachricht erhalten hätte, kam ich wieder zu mir.
Alles in Ordnung las ich. Mein Lawman hatte die Visitenkarte überprüft. Mach Dir keine Sorgen, las ich. Der Mann mit dem roten Werkzeugkoffer ist keine Bedrohung. Im Gegenteil. Aber mehr darf ich Dir nicht sagen. Wieder und wieder las ich die SMS und verstand nichts. „Was darf er nicht sagen?“, fragte ich mich. Und: „Was ist das Gegenteil von Sorgen? Muss ich nicht mehr sterben? Oder bin ich schon tot und brauche mir deshalb keine Sorgen mehr machen? Aber vielleicht sollte ich beherzigen, dass mein Freund kein Idiot ist? Vielleicht bin ich dabei durchzudrehen? Was ist das Wahrscheinlichste?“
Mit der letzten Frage legte ich mir selbst Ockhams Rasiermesser an die Kehle. Was ist die einfachere, die elegantere Erklärung: Sind alle anderen durchgedreht oder bin ich es? Und wenn ich durchgedreht bin? Dann sollte ich mir nichts anmerken lassen, um nicht in den Strudel der Psychiatrie zu geraten. Was aber auch bedeutet, dass ich nicht mehr weiß oder beurteilen kann, ob ich durchgedreht oder normal bin? Oder als Normaler unter Verrückten durchgehen kann? Oder umgekehrt?
Zum Glück lösten sich alle Fragen in Wohlgefallen auf, als ich bemerkte, dass ich dabei war, meinen Mantel an der Garderobe meiner Wohnung abzulegen. Trotz der Existenzängste, der wirren Gedanken, der allzu sehr entzündeten Fantasie, hatte ich es oder die Vernunft in mir, ganz souverän zu meiner Wohnung geschafft. Ich kam mir in diesem Augenblick sehr albern vor. Da hatte ich Teufel und Dämonen im Blut, aber statt durch die Gegend zu irren und hinter jedem Busch einen Dieb zu vermuten, war ich ganz ordentlich nach Hause gegangen.
Ich schalt mich, dass ich mich so kirre hatte machen lassen. Bei einem Glas Rotwein und laufenden Fernsehbildern las ich meine Mails. Frau Koch hatte mir in der Zwischenzeit ein Dutzend gesendet. Ich ermahnte mich, endlich den Bitten meiner Frau Koch nachzukommen und mich um den Sicherheitscheck des Vermieters zu kümmern. Ich speicherte die betreffende Telefonnummer als Erinnerung in meinen Organizer. Dabei stolperte ich über die Fotografien vom Diogenes Markt. Sie wirkten auf mich auf einmal fremd. Unecht. Schlecht und hilflos. Ich löschte alle Bilder dieses Tages, sowie alle anderen Notizen die ich in diesem Zusammenhang gemacht hatte. Nur bei der SMS meines Freundes zögerte ich kurz, dann löschte ich sie auch. Es war einfach lächerlich, beruhigte ich mich. All die Erlebnisse auf dem Diogenes Markt verdrängte ich und schmunzelte darüber, was ich mir eigentlich vorgestellt hatte, dort zu tun oder gesehen zu haben?
Der Wein schmeckte gut. Ich blieb noch länger auf, saß auf meiner Couch und zappte durch die Programme. Es war der übliche Mist aus Boulevard, drohenden Katastrophen, Weltuntergangsszenarien oder ermordeten Frauen. „Einerlei“, dachte ich „Es ist doch einerlei, ob sie mir von einem Terroristen oder Mörder berichten oder ich den Toolboxmann im Hintergrund herumlaufen sehe?“ Es sei nicht mein Job alles zu ergründen und ich solle einfach meinen Job machen und gut ist, beschloss ich den Abend und ging zu Bett. Ich hatte das Gefühl, dass meine Selbstsicherheit, die ich lange vermisst hatte, zurückgekehrt war. Als ich das Licht ausmachte und die Augen schloss, ruhte ich in mir selbst.
Ich träumte. Ich träumte den Traum aus meiner Kindheit. Aber statt der aufschwingenden Kinderzimmertür hörte ich ein Klacken, ein Schnappen einer Verriegelung, die geöffnet wird und ich spürte, wie jemand in meine Wohnung eintrat. Träumte ich es oder war ich wach und der Eindringling wirklich? Ich musste es geträumt haben. Ich lag im Bett und ich schlief. Und wenn nicht? Wenn er in die Wohnung eingedrungen war? Vielleicht war er schon im Schlafzimmer und hat sich neben meinen Kopf gekniet und seinen Koffer geöffnet? Aber ich träumte doch alles? Aufwachen! Ich musste aufwachen. Um wach zu werden, muss ich meine Füße auf den Boden stellen, meine Sohlen auf dem Boden spüren, meine Augen öffnen und meine Nachtischlampe anmachen. So funktioniert der alte Trick. Ich quälte, ich strampelte mich aus meinem Schlaf heraus.
Ich saß auf der Bettkante und atmete tief durch, denn ich spürte den Boden unter meinen Füßen. Ich sah mein Schlafzimmer im trüben Licht meiner Nachttischlampe und spürte meine Füße. Ich war wach.
Es war alles in der Ordnung. Ich stand auf, öffnete die Schlafzimmertür und vor mir lag der lange Flur in dessen Mitte sich ein Durchgang zum Wohnzimmer öffnet und an dessen Ende das Bad liegt. Gemächlich watschelte ich über das Parkett zum Bad. Als ich den Durchlass zum Wohnzimmer passierte, schauderte es mich unmittelbar und ich bekam eine Gänsehaut. Ich öffnete die Badezimmertür, ging hindurch, schloss sie ab und hörte den schmatzenden Sound meiner Füße auf den kühlen Fliesen und spürte sie auch. Aber ich ging nicht auf die Toilette. Ich ließ nicht Wasser. Stattdessen stellte ich mich vor das Waschbecken. Ich stützte meine Ellbogen auf die Kanten des kühlen Emaille auf und atmete durch. Unvermittelt drehte ich den Wasserhahn auf, beugte mein Gesicht hinunter, wollte mein Gesicht benetzen und schaute doch noch mal in den Spiegel: Ich sah mich klar und deutlich. Aber ich sah nichts dahinter. Ich sah nur mein Gesicht, vor einer gähnenden Leere. Im selben Moment hörte ich, wie sich hinter mir, in meinem Rücken, ein Schlüssel im Schloss drehte. Die Badezimmertür öffnete sich und schwang lautlos auf. Jemand trat ein. Meine Nerven schrien, dass der Eindringling gekommen sei, dass er von mir Besitz ergreifen wolle. Erst in diesem Moment wachte ich auf.
Es war noch früh am Morgen an diesem Samstag. Der Sichelmond stand tief, aber scharf gestochen am Himmel. Die Sonne ging grade erst mit violetten Lichtvorläufern auf. Es würde ein schöner, aber sehr kalter Morgen werden. Ein glasklarer Himmel deutete sich an. Ich sah aus meinem Fenster auf einen Hang an dem viele kleine, weiß gestrichene Häuser stehen. Noch waren sie unscheinbar, grau und stachen kaum aus dem Dunkel ab. Wenn aber die Sonne aufgegangen sein würde, würde das Weiß ihrer Fassaden das Licht dutzendfach spiegeln und einen unwirklichen Glanz ausstrahlen. Einen Glanz, der alles übertünchen würde. Es ist eine gute Gegend, in der ich wohne. Es gibt unter den Hausbewohnern auch ein paar, die mich konsultiert haben. Wie immer wegen Nachbarschaftsstreitigkeiten.
Ich nippte an meinem schwarz gebrauten Kaffee und dachte daran, dass doch einer der Besitzer der weißen Häuser den Mut haben sollte, seine Fassade in schwarz, oder in blutrot zu streichen. Einfach mal gegen den Gleichschritt treten oder den Takt schlagen? Natürlich war das ein alberner Gedanke. Als Beobachter fällt es mir leicht, mir vorzustellen, wie es wäre, wenn sich jemand in einer Gruppe anders als der Rest verhielte. Meines Erachtens hat dergleichen Verhalten auch Charme, wenn es einen Funken Esprit hat. Es ist aufregend, weil es anders ist und wenn es intelligent ist, ist es witzig. Ein Teil meines Jobs ist es, diese Menschen, diese Außenseiter zu verteidigen. Natürlich kann es auch meine Aufgabe sein, die weiße Fassade vor dem schwarzen Punkt zu verteidigen. Auch das. Aber niemals war ich ein Teil der einen oder der anderen Partei, oder begehrte es zu werden. Verteidigen, Fürsprechen? Ja. Gemeinmachen? Nein. Diesen und ähnlichen Gedanken hing ich an diesem Morgen nach. Die Sonne stand schon weit über dem Horizont und der Berg der weißen Fassaden strahlte in voller Pracht, als ich gegen Mittag meine Mails abrief und einen Schrecken bekam. Eine Nachricht von GIsabel. Natürlich. Es konnte nur eine Absage unseres Dates sein. Warum hatte ich mich auch damals darauf eingelassen, mich erst so spät nach dem Speed-Dating mit ihr zu treffen? Oder hatte ich auf den Termin gedrungen? Ich wusste es nicht mehr. Aber vor allem: Warum hatte ich ihr nicht wenigstens alle zwei, drei Tagen mal eine Mail geschrieben? Was für ein Idiot ich doch sei, verfluchte ich mich selbst, als ich die Mail mit einem Klick öffnete. Sie wollte, dass ich zu ihr komme. Zu ihr nach Hause. Heute. Wenn ich wolle, sofort. Das war ein Schlag. Sie schrieb, dass ihr wegen der ganzen Geschichten, die neuerdings passierten, der Diogenesmarkt nicht mehr gefalle. Sicher und geborgen fühle sie sich momentan nur in ihren eigenen vier Wänden. Wenn ich bei ihr sei, könne man ja immer noch losziehen. Aber weihnachtlicher und gemütlicher als bei ihr, sei es nur in Bethlehem. Ich möge schnell antworten, aber sie werde jetzt ein Schaumbad nehmen. Wie ein Idiot grinste ich gegen die Sonne. Was hatte ich mir wieder eingeredet? Ich war ich und Isabel war Isabel und die Welt war schön. Ein Bad? Ein Bad hatte ich auch nötig. Zeit war’s.
Frisch frottiert stolzierte ich durch meine Wohnung und fühlte mich wie neugeboren. Als ich mir den letzten Schliff anlegte und vor dem Spiegel meinen Schlips mit doppeltem Windsor am Kehlkopf zusammenschnürte, schon bereit war Hut und Mantel zu greifen, fiel mir auf, dass ich keine Ahnung hatte, wo Isabel wohnt. Wo wohnte sie? Ich hatte keine Ahnung, dachte aber, ich hätte es in der Mail gelesen. Herausgeputzt klappte ich mein Notebook wieder auf, schaltete es ein, lockerte den Windsorknoten, den ich so stramm gezogen hatte, als wollte ich mich daran erhängen und wartete ab, bis es sich hochgefahren hatte. Während dieser kurzen Zeit schaute ich aus dem Fenster und sah ihn: den Toolbox Mann. Er lief in ein Haus, keine hundert Meter Luftlinie entfernt von mir. „Es ist in Ordnung“, beschwichtigte ich mich und konnte es kaum erwarten, dass mein Laptop die Anmeldemaske zeigte.
Nachdem ich mich angemeldet und meine Mailbox aufgerufen hatte, erhielt ich zu erst eine Nachricht von Frau Koch. Frau Koch und ihre Erinnerungen. Frau Koch musste gar nicht mehr vor ihrem PC sitzen. Diese kleinen, spitzen Erinnerungen würden die Maschinen solange generieren, solange es Mutter Koch befahl. Sie verstand die Technik. Sie konnte sie zu ihrem Zweck und Vorteil nutzen und mich wie einen Sklaven aufs Rad damit spannen. Es ging mal wieder um den Sicherheitscheck. Was sonst? Ich kritzelte die Nummer der Firma genervt auf und öffnete die Mail von GIsabel. Wo war ihre Adresse? Ich scrollte hinab, hinauf und sah es nicht. Erst als ich die Mail ausdruckte, erkannte ich in der Signatur die Adresse und fühlte mich verlorener als mein Onkel Friedbert, als er seinen Diamanten fliegen musste, um sich vor dem Nichts zu retten.
„Junge, ich war verloren“, rief Onkel Friedbert und sog wieder am Knösel. „Da hing ich nun mit meinem Kopf Tausende Meter hoch in dieser Plastikbox und drehte verzweifelt meinen Hals. Unter mir die schönste Welt: grün und gesund. Aber links und rechts? Tiefschwarze Aussichten. Es gab keinen Ausweg. Nur diese Gewitterfronten, die mich zermahlen würden. Es war aussichtslos. Aber dann sah ich den Schlauch. Weißt du, was ein Schlauch ist, Junge? Ein Schlauch, das ist wie ein Kamin, ein Schornstein. Wenn du im Sog bist, wirst du mitgerissen. Als ich keine Rettung mehr sah, sah dein Onkel einen Schlauch. Eine Rettung. So klar und deutlich, wie du vielleicht schon Sonnenstrahlen gesehen hast. So sah ich meinen Strahl, meinen Notausgang, meinen Lift in die Freiheit.
Ich riss meinen Steuerknüppel herum und steuerte meine Nase in das Zentrum des Schlauchs und wie beim Staubsauger von Deiner Tante Rosa, schießt es mich direkt in den Beutel. Es reißt mich nach oben. Die Aufwinde, die Welle, Thermik war so stark, dass es mich doppelt so schnell in die Höhe riss, wie ich es sonst gewohnt war. Wenn mich aber die Fronten, die sich da West wie Ost aufgetürmt hatten, erwischt hätten, das hätte mich ohne Gnade zusammengeknüllt. Allerdings stieg mein Höhenmeter auf sechs, auf sieben, ja auf achttausend Meter und mehr. Junge, es hätte mich kaputtmachen müssen, aber ich war nicht mehr bei mir und sah nur aus dem Augenwinkel wie der Höhenanzeiger verrückt spielte.
Für einen Moment hatte ich das Gefühl, ich würde das Weltall berühren können. Es war so ruhig gewesen mit einem Mal. Alle Farben waren gestochen scharf voneinander abgehoben. Ich schwitzte Todesängste aus und war auf einmal ganz bei mir. Alles war ganz selbstverständlich, taub und wie schwerelos. Das ist der Himmel, dachte ich noch, aber dann riss es mich hinunter, dass ich fast den Verstand verlor, aber ich schaffte es, meinen Flieger über den Sturm zu bringen.
Ich war über die Gewittersysteme und in Sicherheit gesegelt. Die Welt hatte mich wieder und ich fühlte, dass ich etwas geschenkt bekommen hatte. Gelandet bin ich ganz wo anders, als ich gestartet war und deine Tante hat mehr als einen Tag gebraucht, mich zu wieder zu finden. Aber so glücklich Rosa zu sehen, war ich noch nie gewesen.“
Wo ist mein Schlauch, mein Diamant, fragte ich mich, als ich die Adresse schwarz auf weiß vor mir sah. Ich kannte die Adresse. Ich kannte den Block, das Haus, die Wohnung. Dreizehnter Stock. Godard. G. Isabel oder I. Godard. Alles bekannt. Es war ein Trick. Alles war ein Trick. Es musste ein Trick sein. Während ich den Ausdruck in meiner Faust zerknüllte, sah ich raus und natürlich sah ich ihn: den Mann mit der Box. Wieder ging er ein Haus weiter und wieder kam er ein Haus näher. Rein intuitiv griff ich mein Handy und wählte die Nummer, die ich mir aus der Mail von Frau Koch abgeschrieben hatte: „Leider ist unser Team zurzeit vollkommen ausgelastet. Bitte hinterlassen sie nach dem Signalton eine Nachricht. Einer unserer Service Mitarbeiter wird sich in kürzester Zeit mit ihnen in Verbindung setzen.“ Ich legte auf und lachte lauthals auf. Alles entglitt mir. Ich dachte sofort an Isabels Zeilen: „So richtig geborgen fühle ich mich nur noch in meiner Wohnung.“ „Ha! Ha!“, antwortete ich im Geist. Aber hatte Isabel mir diese Zeilen geschrieben? Nein. Das war ein Fake. Ich sollte aus meiner Wohnung raus. Das Feld räumen. Er sollte freie Bahn haben und mich manipulieren oder sonst wie umprogrammieren können. Niemals! Was stand auf seiner Karte? „Haben Sie Angst? Dann rufen Sie mich an.“ Ja, sicher. Und wenn ich anrufe, dann seid ihr nicht da und doch überall, und wenn ich nicht aufpasse, dann schnappt ihr euch mich! Dann manipuliert ihr mich so, dass mir alles andere egal ist und ich alles fresse, was ihr mir erzählt. Dann ist der Osterhase der Weihnachtsmann. Was hat mein Lawman gesagt? Es ist alles in der Ordnung? Ja, sicher. In der roten Kiste sind genug Werkzeuge, um auch noch die schrägste Schraube anzuziehen, nicht? Nicht mit mir.
Ich bin jetzt achtundfünfzig Stunden wach. Ich habe Ihnen alles erzählt und Sie werden immer noch glauben, dass ich halluziniere oder durchgedreht sei. Aber es ist meine Wahrheit. Ich bin bedroht. Mein Leben, meine Unversehrtheit ist in Gefahr. Ich werde terrorisiert. Still! Ich glaube er kommt. War da nicht ein Geräusch? Ich könnte ja durch den Spion sehen? Geht nicht. Gut zu wissen, dass seine Schlüssel nicht ausreichen hier hereinzukommen. In meine Wohnung wird er sich nicht schleichen können. Er muss sie schon aufbrechen.
RE: Toolbox
in Ausgezeichnete Prosa 27.03.2009 15:37von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte
Hallo Brot
In Antwort auf:Guter Einstieg, der sofort Interesse weckt. Wenn du aber direkt mit dem Leser sprichst, bitte die Höflichkeitsform verwenden.
Ich bin jetzt siebenundfünfzig Stunden wach. Ich werde ihnen alles erzählen und sie werden glauben, ich halluziniere oder sei durchgedreht.
In Antwort auf:Würde ich verbinden bzw. ein, zwei Sätze im Plusquamperfekt verfassen, damit die Rückblende besser angekündigt wird. Danach ist einfache Vergangenheit kein Problem.
Auf jeden Fall ist es länger her als dreißig Stunden. Ich saß am Schreibtisch in der Kanzlei und studierte wie so oft eine Nachbarschaftsklage.
In Antwort auf:Doppelt. Da ich mit Schrecken die Länge des Textes gesehen habe - - frage ich mich natürlich gleich, ob diese Handy-Programmierungsnummer für die Geschichte - wirklich - relevant ist, oder ob da nicht mehr der Autor und seine pers. Handhabung durchscheint.
Dieses Date wollte ich nicht verpassen. Ich hatte mein Handy unmittelbar nach unserer Verabredung, so programmiert, dass es mich von da an, jeden Tag, Montags bis Sonntags, erinnere, dass Isabel sich mit mir auf dem Weihnachtsmarkt treffen wollte. Da ich zerstreut bin und gerne mal mich selbst vergesse, versuchte ich mich auf Spur zu halten. Auf gar keinen Fall wollte ich dieses Date verpassen.
In Antwort auf:... die Zeichensetzung ist hier und auch durchwegs bei den Dialogen falsch. Im Texthandbuch findest du, sofern ich richtig liege, eine kleine Hilfe über dieses Thema.
„Die Schneiderfrau.“, denn die sei so neugierig
In Antwort auf:Die meisten Leute kennen dieses Märchen... diese Erklärung ist mE überflüssig.
....denn die sei so neugierig gewesen, führte Tantchen aus, dass sie Erbsen hätte streuen müssen, um den fleißigen und rechtschaffenen Wichteln auf die Fährte zu kommen. Aber die hätten das gemerkt und seien danach nie wieder gekommen. Wer wolle sich auch ertappen lassen?
In Antwort auf:Hä? Trifft er sie nun oder nicht?
Nach dem kurzen Schreck, den der Erinnerungston meines Telefons ausgelöst hatte und dem Gedanken, dass ich heute, in viel zu knapper Zeit, Isabel treffen würde, beruhigte ich mich wieder. Am heutigen Tage sollte das Treffen ja nicht stattfinden.
In Antwort auf:... konnte
...damit meine Frau Koch aus dem Sekretariat es tippen kann.
In Antwort auf:von
Bevor ich meinen PC herunterfuhr, las ich noch eine Mail Frau Koch.
Die Traumsequenz .... hm ... ich bin mir da unschlüssig. Auf der einen Seite gibt sie viel vom Protagonisten preis, und wie er tickt. Auf der anderen Seite finde ich Träume extrem *örks*, weil ich dahinter Erklärungsversuche seitens des Autors vermute, die er anders nicht unterbringen konnte. Ich finde sie auch zu lang. Würde da grosszügig kürzen. Und wieso reisst du eigentlich den Text so auseinander? Dazu habe ich auch mal - im Texthandbuch - einen Glugscheisserfaden eröffnet. Schau doch mal rein, vllt. nützt dir der was.
In Antwort auf:Woher weiss er, dass es ein Mann ist?
Ich wagte es nicht zu atmen und spürte wie der Mann den Treppenabsatz erreicht hatte
In Antwort auf:Das Bund? Echt? Wenn ja, dann ‚das‘ (rückbezüglich)
Das ist ein beachtliches Bund, dass Sie da tragen.
In Antwort auf:Hat sie denn eine Farbe? Die Rückblende auf den Lehrer ist auch wieder sone Sache. Ich bin mir wieder unschlüssig, ob das wirklich relevant für die Geschichte ist, oder ab der Autor hier wieder zu fest durchscheint bzw. auf einen Gimmick aus ist.
Meine Gänsehaut verblasste.
In Antwort auf:Hoppla, Herr Regisseur, der Schnitt ist aber gewagt!
Einfach so mit Kennerblick für Schlüssel und einer idiotischen Karte in fremden Häusern herumzuspazieren, finde ich nicht seriös. Noch in der U-Bahn, sehr eingezwängt zwischen
In Antwort auf:Das geht? Habe noch nie einen Lift gesehen, der mir anzeigt, woher er kommt. Und wenn ja, dann nur in amerikanischen Soaps.
Instinktiv drückte ich auf den Fahrstuhlknopf und merkte mir die Zahl des Stockwerkes, aus dem er kam, denn ich hatte nach ihm keinen gesehen, der in das Haus hineingegangen wäre.
In Antwort auf:Eine ähnliche Szene gabs bereits zu Anfang im Büro
Ich hatte für einen anderen Fall recherchiert und stolperte im Internet über Schlagzeilen wie Terror, Mord und Totschlag.
In Antwort auf:WW
Dienstschluss bis zu seinem Dienstgebäude
In Antwort auf:Also ich seh praktisch nie jemanden mit Hut in der Strassenbahn. Wir sind doch nicht in den 20ern des vorigen Jahrhunderts, oder? Wenn du auf Baseballkappen, Mützen und so pseudocoole Outfits von Jugendlichen anspielst, dann würde ich das auch so schreiben. Aber so kommt das nach Al Capone rüber. Ich dachte nämlich bereits beim Prota, da er Hut trägt, es sei so ein ewig Gestriger bzw. ein Fan alter Bekleidung.
Mantel Hut bzw. schlichtes Kostüm. Fast alle hatten Knöpfe im Ohr und ließen sich von ihren Pods und Playern bedudeln.
In Antwort auf:Pha, das nehm ich dir nicht ab! Versuch nicht etwas zu erklären, wenn du keine wirklich gute Erklärung auf Lager hast. Das wirkt sonst extrem hilflos ... erwähne es einfach nicht und hoffe darauf, dass der Leser - in seinem Wohlwollen - die fehlende Logik übergeht. *g
Von all dem hätte ich auch nichts mitbekommen, wenn mein Handy Empfang gehabt hätte. Natürlich hätte ich dann, eine SMS oder eine Mail an ihn geschrieben, dass er auf mich in seinem Büro warten solle.
In Antwort auf:Kein Fragezeichen ... und, ach ja, die Isabel, die hätte ich ja schon vergessen. Da frage ich mich, weshalb die so früh eingeführt wird, dann aber gar nicht mehr erwähnt wird ... bis jetzt. Also, wenn die nicht bald eine tragende Funktion in der Geschichte kriegt, dann ...
Immerhin, vielleicht würde das Treffen mit Isabel Licht in mein Leben bringen?
Puff, ich seh grad, dass ich erst in der Mitte bin ... und jetzt wird die Zeit knapp. Aber vllt. bringt dir das Bisherige ja schon etwas. Ich muss mir den Rest für später aufheben, sorry.
Gruss
Margot
RE: Toolbox
in Ausgezeichnete Prosa 30.03.2009 14:06von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte
2. Teil
In Antwort auf:
Sie sahen alle gleich aus in Ihren gedeckten Mänteln und Hüten.
In Antwort auf:Wie wärs mit einer Frage? Z.B. Oder hätte ich ihnen die Hüte vom Kopf schlagen sollen? ... und schon wieder so viele Hüte ... Borsalino?
Ich hätte ihnen ja nicht ihre Hüte vom Kopf schlagen können.
In Antwort auf:Seine? Papas Stimme?
Aber dann hörte ich, mit einem Male, seine Stimme mitten in diesem Pulk von Staatsanwälten und Beamten.
In Antwort auf:.... WW ... vllt. einfach: er sprach vom ...
Seine Stimme sprach vom Mord,
In Antwort auf:RS
Endlich erreichte ich ihn und stellte zu meinem Ärger fest, dass ich ihn erst erwischt, als ...
In Antwort auf:... wie wärs mit Genitiv? .... die Visitenkarte (Nr. ist klar, dass die drauf ist, oder?) des Werkzeugkoffermannes ...
Als sich die Türen der Bahn schlossen, schaffte ich es gerade noch, die Visitenkarte mit der Nummer vom roten Werkzeugkoffermann , zu ihm durchstecken zu können.
In Antwort auf:Da kann er aber lange rufen, wenn die Türen zu sind. *g Also entweder ruft er das, während sich die Türen schliessen, oder er macht so ein Zeichen, dass er ihm - telefonisch - Bescheid gibt.
Er rief, als sich die Türen endgültig geschlossen hatten, er würde sich darum kümmern und sich bei mir melden, sobald er etwas wüsste.
In Antwort auf:häufig
Als Kind war ich bei Friedbert und Rosa häufiger zu Besuch.
In Antwort auf:... zu erzählen
Mein Onkel, der Segelflieger, genoss es an seiner Zigarre zu knöseln und mir Dreikäsehoch seine Abenteuer erzählen.
In Antwort auf:... oder so ist gut! Neuchâtel heisst das Kaff.
In Neuchatel, oder so hätten sie ihn hochgezogen.
In Antwort auf:... entweder hinaus geschraubt oder hinaufgeschraubt ... würde ich meinen
...Aufwind um Aufwind gesucht und sich hinausgeschraubt;
In Antwort auf:Irgendwie kommst du hier mit den Zeiten durcheinander. ... aber er sei schon auf viertausend Meter gewesen ... wäre richtig. Mach diese Rückblende noch ganz akkurat mit ein, zwei Sätzen im Plusquamperfekt und danach in der einfachen Vergangenheit. Auch mit Dialogen, wäre etwas direkter.
Normal seien dreitausend Meter Höhe, aber er war schon auf viertausend Meter und stieg noch, als er die Wolkentürme von West wie Ost bemerkt hätte, die ihn wie ein Papier zusammenknüllen würden, wenn er dazwischen bleiben würde.
In Antwort auf:RS
Der friedliche Ausschnitt unter seinen Füßen, mit den saftigen, grünen Almen und den Schneebedeckten Gipfeln hätte mit einem mal fremd...
In Antwort auf:Ich auch nicht und bin nicht mal ein kleiner Junge.
Ich war ein kleiner Junge, als ich Onkels Fliegergeschichten zu Ohren bekam und ich bin mir heute nicht mehr sicher, ob ich die Geschichten von Friedbert dem Flieger richtig verstanden hatte.
In Antwort auf:RS
Es war Freitag und der Freitag war Störungs- und Irritierungsfrei verlaufen.
In Antwort auf:Zeit
Es war ein eigenartiger Anblick gewesen, als sich – während ich auf die Bahn wartete – der Bahnsteig mit einem Schwall roter Mäntel füllte.
In Antwort auf:WW
Wo hin ich auch sah: ich sah rote Kapuzen, Mäntel und weiße Bärte.
In Antwort auf:... fehlt mE ein ‚sonst‘
Ich glaubte zu verstehen, dass wegen dieser Rekordjagd die Stimmung nicht so ausgelassen sei, wie man es bei einer solchen Truppe hätte erwarten können.
In Antwort auf:Jetzt fällt es mir wieder auf: du wiederholst gerne Wörter und Zeilenabschnitte, gelle. Nun, das ist nichts Verwerfliches, aber damit würde ich wirklich sehr spärlich arbeiten, weil es sonst nicht als Stilmittel zum Vertiefen rüberkommt, sondern einfach als blosse Wiederholungen, die mit der Zeit doch recht mühsam wirken.
Der Diogenesplatz ist groß - sehr groß. Der Platz ist bei Licht betrachtet eine Wüste. Eine Wüste aus Asphalt und Beton.
In Antwort auf:Siehst du, schon wieder ....
...Gesängen und warmen Wünschen nebst greller Schaubude übertüncht worden. So übertüncht, dass des Platzes Alltagsgesicht vollständig verborgen blieb.
Fortsetzung folgt ....
RE: Toolbox
in Ausgezeichnete Prosa 31.03.2009 10:19von Brotnic2um • Mitglied | 645 Beiträge | 645 Punkte
Hallo Margot,
vielen Dank für Deine Hilfestellungen und ich hoffe, es ist nicht nur Fron für Dich. Für mich ist es natürlich spannend und hilfreich. Ich habe jetzt einen Teil – bis zu dem Punkt wo er aus der U-Bahn steigt, um seinen Freund zu treffen, überarbeitet. Das entspricht ungefähr dem Block, den Du in Deinem ersten Kommentar auseinandergenommen hast.
Zu den einzelnen Punkten aus dem ersten Abschnitt: Plusquamperfekt und die Dopplung habe ich entsorgt, den Lehrer habe ich auch verschwinden lassen. Tatsächlich unnötig. Gänsehaut ist auch gestrichen.
Die Zeichensetzung habe ich hoffentlich verbessern können – auch in der Wörtlichen Rede oder besser: nach der wörtlichen Rede.
Die Geschichte mit den Heinzelmännchen, die lasse ich drin. Ich musste die selber nachschlagen, weil ich das nicht mehr im Kopf hatte und weil ich das Erbsen ausstreuen und das Ertappen drin haben will. An der Stelle hätte ich die Heinzels nicht Wichtel nennen sollen, weil ich das später noch mal einstreue. Hier sei schon gesagt, dass ich die Erbsen aber schlecht und mal wieder zu wenig gestreut habe. Aber weiter im Text.
Die Traumsequenz ist mir schon wichtig – über Kürzungen will ich aber nachdenken. Die Geschmäcker sind ja unterschiedlich und ich habe auch schon mal gehört von Leuten, deren Meinung ich sehr schätze, dass diese Sequenz gut sei. Aber trotzdem sollte ich bei der Länge des Textes über zwei, drei Sätze weniger nachdenken. Wenn es kürzer geht, sollte ich (man) es kürzer machen. Und ich ahne jetzt schon, weiter hinten kann noch stärker gestrichen werden.
Diese Hüte, dieses zwanziger Jahre Outfit, diese Seltsamkeiten, Unstimmigkeiten und der tägliche Erinnerungston – wer macht das schon so? - sind gewollt. Wer verbarrikadiert sich in seiner Wohnung? Wer nagelt zu? Wer sieht überall in fremde Häuser einen Mann eindringen? Was ich damit hoffe rüberzubringen ist: hier stimmt etwas nicht, hier ist etwas nicht mehr in Ordnung. Das muss aber wohl – vermute ich - viel, viel deutlicher und nicht so faserig erzählt werden. Den Fahrstuhl, den werde ich vollkommen unpassend umstylen in einen Art Deco Lift wo – z.B. wie beim Film „Schweigen der Lämmer“ - ein mechanischer Zeiger im Foyer den Stand des Lifts anzeigt. So einen Lift, geschweige denn Zeiger, gibt es in Zwanziggeschossern – wie z.B. in Berlin Marzahn - nirgends.
Die hilflosen Erklärungsversuche warum er denn nicht seinen Freund anruft, um zu sagen, dass er später komme, die sind nicht nur hilflos, sondern auch verkehrt und deswegen gestrichen. Natürlich spielt Isa eine Rolle – versprochen.
Der Text ist so auseinandergezogen, weil ich den Bleiwüsten Charakter unbedingt verhindern wollte.
So viel zum ersten Block.
Gruß und Dank
von Brot.
RE: Toolbox
in Ausgezeichnete Prosa 03.04.2009 13:04von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte
Hi Brot
Es ist keine Fron, ich stelle Rechnung!
Grundsätzlich musst du - inhaltlich - nichts anpassen, was dir gegen den Strich geht bzw. von dem du denkst, dass es für die Geschichte wichtig ist. Und mir musst du auch keinen Gefallen erweisen, und etwas ändern, weil ich es z.B. nicht mag. Alles klar und hier nun der letzte Mohikaner:
In Antwort auf:Blieb mir was? Da fehlt noch was ... in Erinnerung zum Beispiel. Und ‚von-Sätze‘ klingen nie gut. Wie wärs mit: Am deutlichsten (übrigens klein) blieb mir der Stand zweier Brüder ....
Am Deutlichsten blieb mir der Stand von den zwei Brüdern, die aus jedem zugerufenen Wort Allegorien aus Büroklammern und Alltäglichkeiten in nuce schweißen und in einer Nussschale präsentieren konnten.
In Antwort auf:... den Namen würde ich entweder kursiv oder in Anführungszeichen setzen.
Die Brüder nannten sich Die Grimmbeaus und ...
In Antwort auf:... nach ihnen (klein) Doppelpunkt.
Sie gaben erst Ruhe, als ich Ihnen „Na gut, ihr gebt ja doch keine Ruhe. Mein Wort ist: Paragraph.“ zurief.
In Antwort auf:Grundsätzlich ist nichts dagegen einzuwenden, Gedachtes in Anführungs- und Schlusszeichen zu setzen. Jedoch, wenn in einer Geschichte viel Dialog ist, kann das sehr verwirrend sein. Ich persönlich setze Gedanken nie A+S-Zeichen ... ist aber sicher individuell.
„Nicht originell, aber knallig“, dachte ich, als ich das Ensemble in der Wallnussschale teuer in Empfang nehmen musste.
In Antwort auf:Es gab, es war, es hatte ... langweiliges Deutsch!
Es gab noch viele andere Kunsthandwerksstände, die ich alle nicht mehr in Erinnerung habe.
In Antwort auf:Wortwahl
Seine langen Finger, die wie Schlangen in mein Antlitz stoßen wollten, wischte ich weg, wich zurück und bekam mit einem Mal einen Ellenbogen von hinten unsanft in die Seite gedroschen.
In Antwort auf:To much Infos!
Er war von hinten gekommen und ich war in seinen Fluchtweg geraten.
In Antwort auf:Zeit
Heute weiß ich, dass er mich gerettet hatte. Damals wollte ich weg und lieber wissen, welche Seltsamkeit es mit diesen Nikoläusen auf sich hatte.
In Antwort auf:Meute, Meute, Meute und
Als ich der Meute hinterher...
In Antwort auf:rief ... bezieht sich auf Meute.
stolperte, hörte ich, wie sie „Stopp! Polizei!“ riefen.
In Antwort auf:vor ‚wie‘ ein Komma .... und ja, tatsächlich, das ist wirklich seltsam... guter Satz!
Erst später, sehr viel später fiel mir ein wie seltsam eine Kennzeichnung ist, die unter einem Mantel verborgen bleibt.
In Antwort auf:Hier würde ich, obwohl es nicht zwingend ist, nach ‚Instinkt‘ ein Komma setzen ... würde den Satz verständlicher machen.
Trotz der Polizeiuniformen und dem Gefühl, viel zu tief in einen Strudel der Gewalt hineingeraten zu sein, so dass ich eine Gänsehaut verspürte und meinen Instinkt Reißaus zu nehmen, kaum noch zu beherrschen vermochte, zückte ich mein Handy und versuchte die planlose Gewalt der Vertreter des Staates mit der eingebauten Kamera einzufangen.
In Antwort auf:schon wieder ‚fokussieren‘. Ein so „starkes“ Verb würde ich in einer KG höchstens einmal verwenden.
Es war schwer, schier unmöglich, wegen der Mauer aus Beinen und Stiefeln, das am Boden liegende Opfer zu fokussieren.
In Antwort auf:Wo denn? Sagt man das so? Ich kenne diesen Ausdruck nicht.
Der Atem stand ...
In Antwort auf:Hm ... sie lachen, man hört dumpfe Schläge, ist sicher recht laut dort, würde man wirklich das Ratschen hören? Wenn du Aufmerksamkeit für den Prota brauchst, würde ich etwas mit mehr Logik verwenden.
Es machte ein-, zweimal das verräterische Ratschgeräusch eines Kameraverschlusses und die Aufmerksamkeit der Meute schwappte abrupt zu mir rüber.
In Antwort auf:he, he ... witzig
Auf einmal sah ich die aggressive Fratze eines kurz geschorenen Ordnungshüters im Sucher. Sein Gesicht hatte trotz oder wegen der Kälte die Färbung eines Pavianhinterns und ich hatte das Gefühl, als sei ich in ein Raubtiergehege eingedrungen.
In Antwort auf:WW
Die Lichter des Diogenesmarktes verzerrten sich, als hätte ich auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Adrenalin durchströmte meinen Körper und ich lief, wie ich glaubte, nie zuvor gelaufen zu sein. Es war ein Rausch. Ausgelöst durch die Angst, meine Existenz zu verlieren. Existenz? Leben. Mich. Die klebten mir am Arsch und wollten zuschlagen. Keine Diskussionen, keine Worte, keine Reflektionen. Einfach das Licht ausmachen. So unerbittlich wie der Timer in einer anonymen Flurbeleuchtung. Klack. Licht aus.
In Antwort auf:Rhetorische Frage = kein Fragezeichen
Wenn ich jetzt die Ereignisse wieder hervorhole, bin ich mir nicht sicher, ob es nicht doch meine vegetative Funktionalität war, die mich überzeugt hatte, nicht in das Erste sondern in ein weiter entferntes Mauseloch zu laufen?
In Antwort auf:Akuter Erklärungszwang des Autors!
In den Displays des Fahrgastfernsehens der öffentlichen Verkehrsmittel, die in jedem Wagen zahlreich aufgehängt waren und die das größte mobile Medium meines Landes darstellen ...
In Antwort auf:Tageszeit überprüfen
Mit einer Hand am Griffgummigalgen, fuhr ich durch die Nacht.
In Antwort auf:RS
Morsecode ähnelten, , dass ich eine Nachricht
In Antwort auf:Zeit und ich würde eine SMS kursiv widergeben und sie nicht den Prota „erzählen“ lassen.
„Mach Dir keine Sorgen.“, las ich. „Der Mann mit dem roten Werkzeugkoffer, sei keine Bedrohung. Im Gegenteil. Aber mehr dürfe er nicht sagen.
In Antwort auf:Also wenns in der Prosa einen ausgelutschten Begriff gibt, dann ist es diese Gretchenfrage. Dagegen bin ich allergisch. Weg damit!
Diese Frage erschien mir die Gretchenfrage zu sein.
In Antwort auf:Zeit
Aber statt der aufschwingenden Kinderzimmertür, hörte ich ein Klacken, ein Schnappen einer Verriegelung, die geöffnet wird und ich spürte wie jemand in meine Wohnung eintritt.
In Antwort auf:Ein falsches Wort und der Gimmick ist bereits vorüber! Wenn er wirklich wach wäre, würde er sagen: und vor mir lag der lange Flur ... etc.
Ich stand auf, öffnete die Schlafzimmertür und vor mir lag ein langer Flur in dessen Mitte sich ein Durchgang zum Wohnzimmer öffnet und an dessen Ende das Bad liegt.
In Antwort auf:Finde ich eine tolle Szene, sehr nah und plastisch geschildert, aber dieses Anhängsel ist schauderhaft. Setz das einfach vor die Fliesen.
Ich öffnete die Badezimmertür, ging hindurch, schloss sie ab und hörte den schmatzenden Sound meiner Füße auf den kühlen Fliesen und spürte sie auch.
In Antwort auf:falsches Wort
Unvermittelt drehte ich den Wasserhahn auf, beugte mein Gesicht hinunter ...
In Antwort auf:RS
Meine Nerven schrieen, dass der Eindringling gekommen sei, dass er von mir Besitz ergreifen wolle.
In Antwort auf:Also, ich hab dir ja schon gesagt, dass die Abschnitte viel zu willkürlich gesetzt sind. Daher ist man hier einfach viel zu überrumpelt, jetzt wieder beim Onkel zu sein. Da musst du eine Lösung suchen.
„Junge, ich war verloren.“, sagte mein Onkel und sog wieder am Knösel.
In Antwort auf:alle dus, dichs, dein, deins etc. klein. Diese Sequenz des Onkels hat mir sehr gefallen. Da spürt man Emotionen!
„Da hing ich nun mit meinem Kopf tausende von Metern hoch in dieser Plastikbox und drehte verzweifelt meinen Hals. Unter mir die schönste Welt: grün und gesund, aber links und rechts? Tiefschwarze Aussichten. Es gab keinen Ausweg. Nur diese Gewitterfronten, die mich zermahlen würden. Es war aussichtslos. Aber dann sah ich den Schlauch. Weißt Du was ein Schlauch ist, Junge? Ein Schlauch, das ist wie ein Kamin, ein Schornstein. Wenn Du im Sog bist, wirst Du mitgerissen. Als ich keine Rettung mehr sah, sah Dein Onkel einen Schlauch. Eine Rettung. So klar und deutlich wie Du vielleicht schon Sonnenstrahlen gesehen hast. So sah ich meinen Strahl, meinen Notausgang.
Fazit:
Ängste (das Nicht-Normal-Sein, überwacht werden, die grosse weltumspannende Komplott-Frage etc.), die einen plötzlich überfallen können, hast du mE gut rüber gebracht. Zum Teil erinnerten mich gewisse Sequenzen an Kafka oder King, aber das ist weder ein Werturteil, noch muss dich das beunruhigen, ich wollts nur anmerken.
Dass es keine Auflösung gibt, sagt mir auch zu. Obwohl ich natürlich gerne erfahren hätte, was denn der Mann mit seinen „Opfern“ wirklich tut. Aber ich denke mir mal einen adäquaten Schluss. *g
Was ich auch mochte, sind die Tempiwechsel in der Erzählung. Die machen die Geschichte abwechslungsreich zu lesen. Etwas mehr Struktur würde ihr aber gut tun, vor allem das mit den Absätzen wirft mich persönlich aus dem Lesefluss, weil ich dann gleich meckern muss und mich gar nicht mehr so recht auf den Inhalt einlassen kann. Ist halt wie bei Gedichten: Inhalt und Form müssen zusammen spielen.
Gruss
Margot
RE: Toolbox
in Ausgezeichnete Prosa 08.04.2009 22:39von Brotnic2um • Mitglied | 645 Beiträge | 645 Punkte
Hi Margot,
entschuldige, dass ich jetzt erst antworte. Mir ist in den letzten Wochen an jedem Dienstag, die Fresse poliert worden. Morgen, Donnerstag, ist der letzte Termin – Zahnfleischweg-Fräsung die Zweite. Danach habe ich Pause.
Mit der Unterteilung in drei Teile, beziehe ich mich auf Deine drei Kommentare.
Immerhin habe ich den zweiten Teil überarbeitet und am Dritten schon ein wenig rumgeschraubt. Im ersten Teil habe ich hoffentlich einen Art Deco Lift eingebaut. Übrigens gibt es z.B. in dem Hochhaus in der Cottbusser Stadtpromenade einen Lift, der außen anzeigt wo er steckt. ;)
Weiter hoffe ich die Übergänge zu den Friedbert Erlebnissen etwas geschmeidiger hinbekommen zu haben, die Hüte verbessert zu haben und besonders sei gedankt für den Hinweis, das ein Wort alles schmeißen kann – siehe zweite Traumsequenz. Hoffentlich verbessert. Ach ja, die Gretchenfrage ist gestrichen. Völlig unnötig, wie Du richtig geschrieben hast.
Kurz sei erstmal schon gesagt, dass ich froh bin, dass Du in Deinem Fazit eine Ebene erkannt hast, von der ich dachte, dass sie nicht erkannt werden würde. Eine andere Ebene hoffe ich jetzt stärker, besser herausgearbeitet zu haben. Insgesamt muss es aber für mein Gefühl mehr Zug – oder mehr Emotionalität statt Künstlichkeit – bekommen. Vor allem muss ich noch mal die Absatzstruktur überarbeiten. Also: es wird fortgesetzt und ich werde es weiter überarbeiten. Deine Textarbeit hat mir und dem Text sehr geholfen.
Gruß Brot
RE: Toolbox
in Ausgezeichnete Prosa 04.05.2009 18:32von Gedichtbandage • Mitglied | 531 Beiträge | 525 Punkte
RE: Toolbox
in Ausgezeichnete Prosa 06.05.2009 08:42von Brotnic2um • Mitglied | 645 Beiträge | 645 Punkte
Danke, danke an die Leser und Abstimmer und danke Dir GB für Deine Genesungswünsche. Meine Knabberleiste funzt wieder einigermaßen - auf der Felge zu kauen ist allerdings noch ungewohnt , aber es wird.
Wie ist das jetzt eigentlich mit weiteren Bearbeitungen an dem Text? Die darf ich doch vornehmen, oder? Ich wollte nämlich noch ein, zwei Zeilen wieder in Kursiv setzen - das ist mal bei einer Überarbeitung verlorengegangen - und am letzten Drittel nochmal basteln. Während der Abstimmung habe ich mir das alles verkniffen. Darf ich jetzt wieder?
Gruß Brot
RE: Toolbox [Prosa des Zeitraumes Januar-März 2009]
in Ausgezeichnete Prosa 07.05.2009 14:46von GerateWohl • Mitglied | 2.015 Beiträge | 2015 Punkte
Hi Brot,
erstmal herzlichen Glückwunsch zur Wahl.
Dann ein Lob: Die Traumsequenz ist sehr gut. Gefällt mir fast am besten an der Erzählung. Ach, und die Klopperei auf dem Weihnachtsmarkt, klasse.
Ich musste ständig an den Film "Don't look now!" denken, bzw. "Wenn die Gondeln Trauer tragen" wie der im Deutschen hieß, bloß dass hier ein Typ mit rotem Koffer und kein kleines Mädchen oder ein Zwerg durch die Gegend huscht. Naja, es gibt noch wesentlich mehr Abweichungen. Aber die Assoziation ist bei mir da. Ebenso wie ein bisschen "Jacobs Ladder".
Jetzt muss ich noch ein wenig meckern, wobei ich einräume, dass das damit zu tun haben kann, dass ich ein extremer Langsamleser bin.
Die Geschichte liest sich wiedermal flüssig einfach so weg und ist spannend. Nur diesmal kam ich mit der Dramaturgie nicht so ganz klar. Die Verabredung mit der Isabelle wird eingangs erwähnt und dann schoben sich für mich so viele Dinge dazwischen, dass ich schon dachte, das sei ein gesäter aber verkümmerter Handlungsstrang. Das wird für mich zu spät wieder aufgegriffen. Ich würde mir bei einem Text der Länge vielleicht nochmal ein Bild machen, wann Du genau welche Hinweise streust, damit sich die Dinge nicht verlieren. Zumindest hätte diese Date-Geschichte am Anfang dann zumindest irgendwie kenntlich erst einmal auf Halde gelegt werden müssen, aber nicht so dass man jeden Moment damit rechnet, dass es weiter geht. So ging mir das zumindest.
Die Mehrzahl von Lawman ist ja Lawmen. Irgendwo in dem Text ist das falsch geschrieben, als der Freund sagt "Wir sind Lawmen".
Das Treffen mit dem Freund gefällt mir übrigens auch sehr gut.
Was ich am Schluss noch besser gefunden hätte, wenn die Gedanken des Protagonisten noch erweitert worden wären um die Überlegung, ob er durch sein Verbarrikadieren nur sich vor dem Toolbox-Mann oder die Außenwelt vor sich selbst damit schützt.
Ich muss übrigens noch gestehen, dass mir der Artdeco-Lift in dem Gebäude nicht gefallen hat. Die Szenerie hätte ich beklemmender gefunden mit einer passenden Digitalanzeige.
Zumal mir nicht klar ist, was hat der Typ ansonsten mit Art Deko zu tun. Dieses altmodische spielt doch sonst keine Rolle, die ich wahrgenommen hätte. Das ist ein neues Motif neben den zig anderen in der Geschichte, das sich aber in diesem Fall nach meinem Gefühl nicht stringend durchzieht.
Aber mir hat bei Kubricks "2001" ja auch nicht gefallen, dass der Typ am Schluss im Schalfzimmer von Ludwig XIV. liegt.
Die Rolle seiner Medienkritik in Kombination mit dem, was er über seinen Beruf sagt, kriege ich auch noch nicht so ganz auf die Reihe. Ich denke immer, da muss es doch eine Verbindung geben. Aber ich sehe sie nicht. Da wäre auf jeden Fall noch Potential.
Fazit: Die Geschichte schafft es streckenweise zu faszinieren, aber ich würde mir eine Überarbeitung wünschen. Eine Handvoll Motive als Stilmittel, die sich stringend durchziehen, eine dramaturgische Umstrukturierung des Textes. Denn der Text könnte rein nach meinem persönlichen Empfinden prägnanter sein. Dann wäre er mehr als die Summe seiner Teile. Für mich ist es das noch nicht.
Vielleicht liegt das Problem für mich wieder darin, dass ich fühle, dass das Ding wiedermal ein Roman hätte werden sollen. Andererseits ist dieses Problem auch wieder eine Stärke, denn da steckt halt was drin.
Viele Grüße,
GW
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RE: Toolbox [Prosa des Zeitraumes Januar-März 2009]
in Ausgezeichnete Prosa 08.05.2009 09:39von oliver64 • Mitglied | 352 Beiträge | 352 Punkte
Was die Traumsequenzen angeht, bin ich allerdings eher bei GW, die sind sackstark, im ersten Fall geradezu hypnotisch gut. Vermutlich waren das die Stellen, die Margot an King erinnerten. Ich habe die Geschichte in zwei Teilen gelesen, da ich das Privileg hatte, den ersten Teil bereits als Preread zu erhalten. Auch jetzt, nach erneutem Lesen des ersten und erstmaligem Lesen des zweiten Teils, empfinde ich den ersten als stärker. Die Traumsequenz und die Verfolgung des Toolbox-Mannes á la Hitchcock hatten Drive und Spannung, während ich im zweiten Teil die Szenerie als etwas zu ausgewalzt empfand. Der segelfliegende Onkel ist für sich genommen gut, wenn auch die indirekte Rede mit der dennoch beständigen Ansprache des "Kleinen" nervt. Die Weihnachtsmannpolizei erinnert mich an Brazil und ist auch gut, der Kontext aber geht mir abhanden und der Toolboxmann fehlt mir. Zu lang, zu viele Worte, sorry. Ent- oder weder. Entweder baust du es als Roman/Novelle aus und dann beschreibst du mehr, oder du bleibt bei Kurzgeschichte, dann eher weniger. Außerdem gefällt mir das Zusammenbasteln der geradezu episch anmutenden Schlacht des Onkels mit den Naturgewalten und der eher anarchisch anmutenden Weihnachtsmarktszenerie auch nicht so sehr.
Am Ende hockt er unvermittelt wieder in seinem Büro/seiner Wohnung und auch hier tut es mir leid: den Schock habe ich verpasst. Das kommt zu schwach rüber, ich teile seinen Schrecken nicht und daher ist er dann doch nur ein durchgedrehter Spinner und als solcher eher langweilig.
Mein Fazit: Vieles, sehr vieles ist wirklich gut an der Story und sie ist tatsächlich auszeichnungswürdig. Insgesamt aber ist sie mir zu wenig strukturiert, im zweiten Teil etwas langatmig und das Ende etwas blass. Zu steng? Mag sein, dass es eher an meiner Konzentrationsfähigkeit liegt. Ich las es jetzt entgegen meiner Gewohnheit am Bildschirm und das ist sowieso nicht so mein Ding. Ich drucke es mir gelegentlich noch einmal aus und gebe der Geschichte eine zweite Chance. Sie hat es zweifellos verdient.
Beste Grüße
O.
Gedichte und Kommentare in allerbester Absicht
RE: Toolbox [Prosa des Zeitraumes Januar-März 2009]
in Ausgezeichnete Prosa 20.05.2009 14:34von Brotnic2um • Mitglied | 645 Beiträge | 645 Punkte
Hallo GW und Hallo Oliver64.
späte Antwort. - weiß ich.
Danke für die Glückwünsche. Seitdem Ihr diese Geschichte nochmal abgeklopft habt, weiß ich nicht mehr weiter bzw. wie ich all das überquellende Zeugs in der Geschichte, wieder zurückstopfen und in Form bringen soll. Nachdem Ihr beide komemntiert hattet, habe ich mir folgende Aufgabe gestellt: Schreib doch mal einen Klappentext zur Toolbox. Erzähl doch mal die Story in drei Sätzen. Tja, und das wars: es ging nicht.
Ihr habt für Euch gute Episoden gefunden - Margot ging es da ja auch so - und ihr habt schlechte entdeckt und vor allem - das entnehme ich Eurer Kritik - den roten Faden, die Geschichte vermisst.
Dreimal ist Bremer Recht, oder? Das war jetzt der zweite Anlauf diese Traumsequenzen in einer Geschichte zu verbraten, die in sich stimmig und rund ist. Wieder fehlt es an einem besseren Spannungsbogen und einer prägnanteren oder besser zu vermittelnden Idee. Leider habe ich versucht mehrere Ideen in einen Topf zu schmeißen und daraus versucht eine Geschichte zu machen.
Jedesmal wenn ich beim Schreiben merkte, dass ich zu einer Schnittstelle, einer Episode hinarbeitete bzw. dabei war die Fleischteile zu vernähen, hatte ich das mulmige Gefühl, dass mir die eigentliche Geschichte fehlte. Ich beruhigte mich aber damit, dass es doch der Clou sei, dass keinem hier zu trauen sei und alles offen bleiben müsse, um sowohl die Ängste zu beschreiben, die durch äußere Bedrohungen ausgelöst werden können, als auch die Gefahr bzw. die gleichberechtigte Möglichkeit, dass der Erzähler, der eigentliche Psychopath ist.
Ich hätte mich für eine Richtung entscheiden sollen, dann wäre der Toolboxmann am Ende wahrscheinlich auch wieder interessanter und der Held greifbarer. Momentan bin ich kurz davor, dass ganze Dingen wieder aufzutrennen, um die guten Teile zu verwahren. Immerhin blieben mir dann nciht mehr nur die Traumsequenzen sondern mehr als ich vorher hatte - und irgendwann habe ich den Rahmen für die Dinger.
Danke für Eure Kommentare, Danke für die Glückwünsche und schöne Himmelfahrt wünscht Euch
Brot
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