#1

Wir sind Winnenden

in Kommentare, Essays, Glossen und Anekdoten 17.03.2009 17:36
von oliver64 • Mitglied | 352 Beiträge | 352 Punkte

Ich lese gerade und hörte gestern im Fernsehen, dass jetzt nicht auf die Journalisten eingeschlagen werden sollte, wenn die dermaßen übertrieben, überzogen und hemmungslos über Winnenden berichteten. Ich kann mich dem nur anschließen. Auf die Organe, die die Journalisten beschäftigen, könnte allerdings nach Kräften eingeschlagen werden, das bedeutet: Nicht kaufen! Nicht lesen! Nicht schauen! Denn das hat mit Journalismus nichts mehr zu tun. Natürlich besteht ein Anspruch darauf, von dem Geschehen zu erfahren, aber doch bitte sachlich, nüchtern, faktisch und vor allen Dingen gründlich recherchiert!

Ich unterscheide dabei übrigens nicht zwischen der Blöd-Zeitung, die jetzt online sogar eine 3-D-Animation des Amoklaufes feilbietet (als nächstes kommt das Killerspiel Winnenden auf den Markt) und zum Beispiel der Wochenendausgabe der Süddeutschen, die auf 6 oder 7 Sonderseiten alles, aber auch wirklich alles, was nicht zu wissen lohnt, versammelte. Und das sich in diesen Medien jedermann zum Spezialisten aufschwingt, darf auch nicht wundern, angesichts der Schar von Deppen, die sich Spezialisten nennt und dennoch den dümmsten Scheißdreck von sich geben. Da rede ich dann gerne mit.

Die tägliche Berichterstattung über die täglich verhungernden 15.000 Kinder wäre nach Meinung mancher nicht die Aufgabe der Tagesjournalisten, dafür wären die Magazine und Reportagen da. Dem widerspreche ich. Ich weiß wohl, dass die Tageszeitungen und die TV-News da nicht mitspielten, weil sie ihren Dreck dann nämlich nicht mehr verkauft bekämen. Aber deren Aufgabe bliebe es meiner Meinung nach. Denn wie viele Wochen würden wir es wohl aushalten, vom täglichen Blutzoll unserer Wirtschaftsordnung zu erfahren? Statt des täglichen Tittenmädchens auf Seite 3 der tägliche Hungerbauch eines aktuellen Opfers bzw. der am grausigsten zerfetzte Kadaver eines Landminenopfers. Wie viele Arschgeigen würden dann noch die Blödzeitung kaufen? Insofern würde sich dann aber eben auch nichts ändern, schon klar.

Dagegen ist Winnenden cool, spannend, aufregend und ein wenig wie Lotto. Die Berichterstattung ist daher stimmig, da ich mich daran ergötzen kann, überlebt zu haben. Das hätte mir schließlich auch passieren können, denn auch ich fahre mit dem Auto hin und her und manchmal kaufe ich auch eines. Dagegen ist Verhungern langweilig, das tut hier ja keiner außer den Babys, die von ihren Psycho-Eltern nichts zu fressen bekommen. Wenn Tausende beim Tsunami ersaufen, okay, das hat noch Sensation. Aber der alltägliche Horror ist öde und lässt mich am Ende nur schlecht drauf sein. Winnenden dagegen kitzelt meine Sinne. Für zwei, drei Tage. Dann findet sich hoffentlich wieder ein Fritzl oder ein Winnenden-look-alike-contest. Wenn nicht, schauen wir uns auf MTV die Kids an, die den verschärftesten Knochenbruch der Woche feiern oder auf RTL, wie Bohlen die zweitdümmsten Arschgeigen der Nation abmeiert und die dümmsten zu Superstars macht. Denn das kann mir ja auch passieren. Blöde genug bin ich dafür allemal.

Ich warte jetzt nur noch darauf, dass sie bei uns im Fernsehen die explizite Sprache überpiepsen, dann haben wir auch einen Look-alike-contest gewonnen. Das Fin-de-siecle kommt heuer etwas später, aber es kommt. Und dann gibt es endlich wieder für alle auf die Fresse und wir können für zwei, drei Jahrzehnte brav und angepasst wieder aufbauen, bevor wir erneut auf dumme Gedanken kommen. Im Ernst: 64 Jahre Frieden, das ist doch zum Auslaufen langweilig, kann da nicht endlich mal etwas Aufregendes passieren?

Irgendwo hatte ich doch auch noch ne Knarre rumliegen?





Gedichte und Kommentare in allerbester Absicht

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#2

RE: Wir sind Winnenden

in Kommentare, Essays, Glossen und Anekdoten 18.03.2009 10:27
von Brotnic2um • Mitglied | 645 Beiträge | 645 Punkte

Die Frage, wer denn mehr Amok läuft, der Tim K. oder z.B. der Kai D? Ist mehr als berechtigt. Leider kann sich der eine nicht mit seiner Knarre erschießen. Würde aber auch nichts nutzen. Wenn Kai D. Munition wäre, die Medien könnten unendlich nachladen. Bis zur nächsten Flashgrafik. Wobei so ein Amoklauf durchaus belebende Momente hat. Faszinierend.

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#3

RE: Wir sind Winnenden

in Kommentare, Essays, Glossen und Anekdoten 26.06.2009 16:40
von Arno Boldt | 2.760 Beiträge | 2760 Punkte

Hallo Oliver, bin erst jetzt auf deinen Winnenden-Text gestoßen. Die ausufernden Ungeheuerlichkeiten der Journaille bei solchen Ereignissen wie dem "Amok"-Lauf von Winnenden, sind auch mir ein Dorn im Auge, ein immer währender Tritt in mein Verständnis, was Journalismus bringen sollte oder darf.

Ich wollte aber ein wenig am Text bleiben und da fielen mir 2 kleine Dinge auf, die ich für verbesserungswürdig halte. Zum Einen setzt sich der Ich-Erzähler in (mindestens) zwei Situationen herunter. Einmal im Bezug auf der Macht-Kategorie "Journaille" und einmal im Bezug auf diejenigen, die von einer ähnlichen Machtkategorie herunter gemacht werden. Hier nochmal die beiden Zitate:

Zitat von oliver64
Und das sich in diesen Medien jedermann zum Spezialisten aufschwingt, darf auch nicht wundern, angesichts der Schar von Deppen, die sich Spezialisten nennt und dennoch den dümmsten Scheißdreck von sich geben. Da rede ich dann gerne mit.


und

In Antwort auf:
Wenn nicht, schauen wir uns auf MTV die Kids an, die den verschärftesten Knochenbruch der Woche feiern oder auf RTL, wie Bohlen die zweitdümmsten Arschgeigen der Nation abmeiert und die dümmsten zu Superstars macht. Denn das kann mir ja auch passieren. Blöde genug bin ich dafür allemal.


Das Problem dabei ist, dass ich es dem Erzähler nicht abnehme. Der Gedanke, dass er sich durch die Medien so verdummen hat lassen, dass er quasi alles und nichts weiß - aber nur Ersteres bei Diskussionen von sich gibt, ist anfangs liebreizend. Seine vermeintlichen Sozialisierungen mit den Gruppen greifen aber ins Leere, da er durch seine Problematisierungen der Dinge, nicht in diese Rubriken gesteckt werden kann. Eine gewisse Ironie in den hervorgehobenen Sätzen ließe sich zwar erkennen. Aber wenn sie denn gemeint war, wo möchte der Erzähler denn hin? Es driftete dann ins Ungewisse ab, fürchte ich.

Zum Anderen finde ich den Schluss nicht gelungen:

In Antwort auf:
Im Ernst: 64 Jahre Frieden, das ist doch zum Auslaufen langweilig, kann da nicht endlich mal etwas Aufregendes passieren? Irgendwo hatte ich doch auch noch ne Knarre rumliegen?


Ist der letzte Satz eine Frage oder ein Aussagesatz? Beides wird suggeriert. Zudem hat dieser Satz keine Brisanz, ist uninspiriert. Das flippige Wort "Knarre" möchte das kaschieren. Es gelingt aber nicht. Und die 64 Jahre Frieden wurden doch durch so einige Dinge erschüttert: 09/11 oder Columbine, Irak, Afghanistan, Erfurt, Winnenden. Okay, okay - viele "Amok"-Läufe dabei, so dass sich alles schon eingespielt hat und langsam langweilig wird. Gut. Aber selbst die Knarre hervor zu holen und das gleiche zu tun, verändert die Langeweile doch auch nicht all zu sehr, oder?

Grüße,
Arno.


http://arnoboldt.wordpress.com/
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