#1

Mittag über der Stadt

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 25.01.2005 10:42
von kein Name angegeben • ( Gast )
Wie leichtsinnige Kinder beim Spielen auf der Suche nach Abenteuern:
Wir stiegen auf das Dach und balancierten auf dem First. Gegenseitig hielten wir uns, zogen uns herauf, streckten die Arme in die Luft, drohten das Gleichgewicht zu verlieren, wankten nach rechts, nach links, ein Bein in der Luft, das andere mit bloßen Fuß auf den Ziegeln und lachten, lachten, lachten...
Kurz blieb ich stehen, sie eilte schon weiter, und sah über die Dächer in den wolkenverhangenen Himmel; bald würde der Regen kommen und die Dachrinnen füllen. Mein Blick folgte dem Gedanken. Ich betrachtete die metallenen Röhren. Ein schmales Rinnsal Blutes durchwanderte sie. Ich suchte ihren Ursprung. Die Rinnen entlang, dann die Ziegeln das Dach aufwärts bis zu meinem Fuß. Der pulste an der Sohle in kleinen Stößen rote Flüssigkeit hervor. Ich sah fasziniert zu. Nicht erschrocken? Sehr unbeteiligt, als wäre es der Fuß eines anderen, als ließe ich Wasser im Spiel über meine Zehen laufen. Ich machte sie dennoch darauf aufmerksam. Sie kam traumwandlerisch herbei, leicht, wie ein Engel sicher, mit ausgebreiteten Armen und lächelnd, immer noch. Sie besah die Wunde. Ihre Augen spiegelten Erstaunen wieder, Erstaunen darüber, wie es möglich sein konnte, dass der Fuß blutete, dass die Haut so leicht geritzt nur, so viel des wertvollen Rots verlor. Es quoll ununterbrochen hervor, träg zwar, wie die Mittagshitze über den Dächern, gestaut unter den Wolken, aber stetig. Dann sagte sie: „Was soll’s; es wird Zeit, dass wir gehen. Der Regen kommt gleich.“
In diesem Moment fiel der erste Tropfen und traf mein Haupt. Sie war schon vorangesprungen. Ich folgte ihr mit viel Mühe nach.

Das müde Rinnsal meines Fußes hat der Regen hinfort gespült. Ich sitze in meinem Zimmer, lausche dem Trommeln des Wassers an der Scheibe und denke nach. Sie ist davongesprungen. Ich kann sie nicht mehr einholen. Aber hinken werde ich immer, eine Erinnerung an den Mittag über den Dächern.

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#2

Mittag über der Stadt

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 26.01.2005 10:11
von Arno Boldt | 2.760 Beiträge | 2760 Punkte
der satz: "ich suchte ihren ursprung" ist mir persönlich zu erwachsen gedacht.

bzw: das trommeln des wassers läßt mich jetzt an radiohead's "sit down stand up" denken.

ich finde, daß der text durchaus ein teil eines größeren textes sein kann. grund dafür ist für mich das ende.. ich frage mich immerzu: "und wie gehts weiter?" bzw. "wars das schon?"

liebe grüße.
arno.

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#3

Mittag über der Stadt

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 27.01.2005 00:00
von kein Name angegeben • ( Gast )
Ich denke schon, dass der Text so, wie er ist, abgeschlossen ist. Er beschreibt einen Verlust und die Wunden (oder späterhin Narben), die ein solcher schlägt. Sicherlich geht danach das Leben weiter. Also könnte auch die Geschichte weitergeführt werden, doch ist das nicht für das Beschriebene relevant. In der Erzählung wird auch der Grund des Verlustes mitbeschrieben:
"Ich suchte ihren Ursprung" ist erwachsen gedacht. Es stellt jedenfalls einen Kontrast zur verspielten Leichtigkeit des Anfangs dar. Aber gerade dieses 'erwachsene' Denken ist womöglich der Grund dafür, dass der Protagonist am Ende alleine in seinem Zimmer sitzt. Er hat in seiner ständigen Bedachtheit (und er hört auch nicht auf zu denken), die Leichtigkeit und die Schönheit des Moments zerstört. Nicht die Verletzung ist es, die ihm schadet, sondern das, was er daraus macht.
Zuviele Gedanken bedeuten Sorgen, zu viele Sorgen führen zu Angst vor Entscheidungen. Nicht gefällte Entscheidungen behindern.

Vorsicht, trotzdem ist der Text kein Statement gegen Selbstreflexion...

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