#1

Phantomschmerz

in Düsteres und Trübsinniges 25.06.2005 19:29
von GerateWohl • Mitglied | 2.015 Beiträge | 2015 Punkte
Phantomschmerz

Der Zug rollt ein, mein Kopf läuft aus.
Dein Blick hat mich längst eingefang'.
Wir zwei stehn wie ein altes Haus
uns gegenüber leer und bang.

'paar Tage hast du im Gepäck.
Die hast du damals mitgenommen.
Vor vielen Jahren gingst du weg.
Warum bist du zurück gekommen?

Erinnerungen räkeln sich
in ihrem Morgenbett. Ich denk',
vermisst hab ich sie lange nicht.
Du reichst sie mir wie ein Geschenk.

Auch er wird wach der alte Zorn,
der uns're Herzen trennte, doch
er ist nun weich, der greise Dorn,
und trotzdem, fühl ich, sticht er noch.

Amputationen ähneln sehr
so alten tiefen Wunden.
Der Zeh juckt oft noch Jahre mehr.
Das Bein ist längst verschwunden.

Und auch das Gute, das uns band,
und uns nun hier versammelt,
ist nur Phantomschmerz, dumm verkannt,
in Wirklichkeit vergammelt.

Ich dreh mich weg, genau wie du,
zieh meine Stümpfe ein.
Erinnerungen, geht zur Ruh
und lasst mich jetzt allein.


(c) 2005 Gunter Scholtz

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#2

Phantomschmerz

in Düsteres und Trübsinniges 27.06.2005 10:09
von GerateWohl • Mitglied | 2.015 Beiträge | 2015 Punkte
Hallo Demon_Wolf,

erstmal danke für Dein Feedback.
Eine Frage habe ich zu den unsauberen Reimen. Ausser dem sich/nicht-Reim in der 3. Strophe, der wohl meinem berliner Lokalkolorit geschuldet ist (wir sagen gerne "nich'"), wo sind denn da noch unsaubere Reime?

Grüße
GerateWohl

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#3

Phantomschmerz

in Düsteres und Trübsinniges 27.06.2005 22:21
von Don Carvalho • Mitglied | 1.880 Beiträge | 1880 Punkte
Jaja, wir Berliner haben es manchmal schwer ... aber denke daran, wie gut wir es noch im Vergleich zu den Schwaben haben, ne, Willi, Du Schwabenanwärter !

Weg/ Gepäck spreche ich gleich aus, ist ja schließlich nicht der Weg, das dürfte wohl unproblematisch sein. Bei den übrigen Reimen sehe ich (abgesehen von eben sich/nicht) ebenfalls phonetisch keine Probleme, allerdings finde ich eingefang' schon etwas unglücklich, auch wenn man sich das schon so ein bisschen zurechtnuscheln kann. Sicher verschluckt man die letzte Silbe nicht selten, aber mir schmeckt das dennoch nicht... und das sagt ausgerechnet der Meister der Elision, Krasis und Synalöphe !

Ein paar Kleinigkeiten, die mir ansonsten aufgefallen sind:

Wir zwei stehn wie ein altes Haus
uns gegenüber leer und bang.

Wie kann sich ein altes Haus leer und bang gegenüber stehen? Der Vergleich eines alten Hauses mit zwei Personen hakt in der Form ein wenig.

'paar Tage hast du im Gepäck.
Warum das Apostroph am Anfang? Ich denke nicht, dass man die Auslassung ganzer Wörter (ein oder auch 'n) damit kennzeichnen kann. Ich denke, das sollte verschwinden.

Str. 4/ Z.1 gehört nach wach ein Komma.

Mir ist noch nicht ganz klar, warum Du in der zweiten Hälfte des Gedichtes in den Zeilen 2 & 4 vom 4-hebigen Jambus zum 3-hebigen wechselst. Wobei, zusammen mit dem Weglassen des Versfußes beginnt der Verweis auf Amputation und Phantomschmerz... das ist clever! Das Weglassen würde ja sowieso passen, was für ein Glück aber, dass man diese süßen kleinen metrischen Einheiten auch noch Versfüße nennt! Okay, das kann von Dir kein Versehen gewesen sein...

In der letzten Strophe missfällt mir inhaltlich auch ein wenig das Wiederaufgreifen der Hausmetapher. Ich fand die, nicht nur aus grammatikalischen Gründen, zu beginn nicht so überzeugend. Zudem lenkt dieses Bild auch vom schönen Bild der Amputation ab... gerade hatte man dieses nette Bild von abgetrennten Gliedmaßen vor Augen zur Verdeutlichung des (Phantom-)Schmerzes und plötzlich ist man stimmungsdämpfend wieder Architektenseminar... irgendwie wird da was verschenkt.

Der Beginn mit "Der Zug rollt ein, mein Kopf läuft aus." spricht mich übrigens sehr an, auch wenn man den Zug erst einmal unterbekommen muss. Ich gehe davon aus, dass die Ex inzwischen woanders wohnt(e) und mit dem Zug zu Besuch kommt.

Gefällt mir, obwohl noch ein paar Ecken nicht ganz rund sind und am Ende wie ich finde etwas verschenkt wurde,


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#4

Phantomschmerz

in Düsteres und Trübsinniges 29.06.2005 10:45
von GerateWohl • Mitglied | 2.015 Beiträge | 2015 Punkte
Hallo Don,

jetzt wo Du es sagst, fällt mir auch auf, dass das mit dem Haus am Schluß vielleicht etwas viel ist, zumal es dafür gewiß auch Alternativen gibt. Wobei ich die Idee in der ersten Strophe, dass zwei Menschen aufeinander treffen, sich gegenüber stehen, und für dieses Paar und deren Beziehung zueinander ein altes leeres Haus als Bild zu verwenden mir eigentlich gut gefallen hat. Sie bilden halt nach so langer Zeit gleich wieder eine Einheit, aber diese Einheit ist halt irgendwie leer und auch beängstigend. Ich wüßte jetzt spontan auch nicht so recht, wie ich es besser ausdrücken sollte (vielleicht muss ich diesen Aspekt hier ja auch gar nicht ausdrücken), aber das Aufgreifen in der letzten Strophe gibt der Sache sicher etwas zuviel Gewicht und verwischt das Bild der Amputation. Da hast Du recht. Werd' mir mal was einfallen lassen. Bin nur gerade etwas krank und daher nicht so dichtfreudig. Könnte einen Moment dauern.

Aber auf jeden Fall vielen Dank für die Tipps! Und Grüße durch Berlin
GerateWohl


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#5

Phantomschmerz

in Düsteres und Trübsinniges 30.06.2005 11:50
von GerateWohl • Mitglied | 2.015 Beiträge | 2015 Punkte
Hallo Don,

auch auf die Gefahr hin, dass das Gedicht jetzt noch etwas "stumpfsinniger" geworden ist, abe ich den drittletzten Vers geändert.

Grüße
GW

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#6

Phantomschmerz

in Düsteres und Trübsinniges 30.06.2005 12:26
von Don Carvalho • Mitglied | 1.880 Beiträge | 1880 Punkte
Hi Geratewohl,

keine Sorge, manchmal kann ein bisschen Stumpfsinn auch ein Fortschritt sein. Ich finde es gut, dass Du das Haus eingerissen hast, einzig (ohhh, hört der denn nie auf!?! ) etwas irritiert bin ich von den Stümpfen, war vorher doch nur von einem amputierten Bein die Schreibe...

Aber das ist wohl vernachlässigenswert. Wieder gesund? Scheint so, freut mich,

Don

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