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Das Nashorn

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 09.08.2005 23:24
von Roderich (gelöscht)
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Hallo,

hier noch eine meiner ersten Geschichten. Vor allem bin ich darauf stolz, die Geduld für die Länge aufgebracht zu haben ...

Falls hier keine Kommentare/Kritiken/Anregungen kommen, kann ich das gut verstehen ...

Grüße

Thomas


Das Nashorn


1


Man nannte mich „das Nashorn“. Einmal in Bewegung gesetzt, war ich nicht mehr aufzuhalten. Ich stürmte über jedes Hindernis hinweg und erreichte meine Ziele scheinbar mühelos. Ich war die treibende Kraft hinter sieben Firmenübernahmen und verschaffte meinem Unternehmen, dem ich vierzig Jahre lang treu geblieben war, umgerechnet einen Wertzuwachs von 28 Milliarden Dollar.
Ob ich stolz darauf war? Natürlich. Auch wenn die von mir inszenierten Übernahmen insgesamt fast neuntausend Arbeitern den Job kosteten. Aber ich war immer stolz auf meine Arbeit und die Freisetzung von nicht benötigten Arbeitskräften gehörte zu meiner Arbeit.
Ich kannte niemals die Namen der entlassenen Menschen, bis auf einen. Guido Hennike, ein Schichtarbeiter in der Fertigungsstätte in Gütersloh. Ich traf ihn auf der Straße, als ich eine Demonstration gegen die Schließung dieses Werkes sprengen wollte, vor vier Jahren. Er war ein grobschlächtiger blonder Mittvierziger, mit wucherndem, fast weißem Bart. Eigentlich war der Bart blond wie sein Haupthaar, aber im grellen Sonnenlicht konnte man das nicht gut erkennen. Hennike war groß und robust, seine Statur konnte einem Angst einflößen. Er stand in der Menge, zunächst in der zweiten Reihe, dann trat er vor und rief mir zu: „Du bist das Nashorn, oder?“
Ich nickte perplex. Dann schoss er.

Hennike war kein besonders guter Schütze, drei seiner Kugeln gingen daneben. Einer dieser verirrten Blindgänger traf einen anderen Demonstranten in die Hand, zwei weitere schlugen in einer Hausmauer ein. Die anderen drei trafen mich. Ich wurde viermal operiert, jedes mal unter Vollnarkose. Die Kugeln hatten mich in den Brustkorb, in die Hüfte und in das linke Knie getroffen. Ich lag fast drei Monate im Krankenhaus, danach ein halbes Jahr Rehabilitation. Ich musste wieder gehen lernen. Für einen fast Sechzigjährigen ist das keine leichte Aufgabe und ich hinke immer noch. Zwar nur leicht, aber Treppen steigen und unebenes Gelände machen mir große Probleme.
Am meisten vermisste ich während meiner Zeit im Krankenhaus und auch danach fettiges Essen. Ich hatte immer fettig gegessen, was sich auch in meiner Figur ausdrückte. Aber nach den drei Kugeln war Schluss damit. Keine Schnitzel mehr, kein Schweinsbraten, keine Pommes Frites. Im Krankenhaus gab es ohnehin nur Schonkost und auch danach wurde mir von meinem Arzt geraten, mich gesund zu ernähren. Ansonsten könnte ich sterben, meine Leber und meine Nieren sind angeschlagen. Ich hänge am Leben, so esse ich jetzt Gemüse. Lustlos, aber mit dem Bewusstsein, dass mir das grüne Zeug ein paar weitere Jahre schenken kann. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Wer kann schon seinen eigenen Tod vorhersagen? Es könnte sein, dass ich morgen von einem Auto überfahren werde, dann habe ich mir völlig vergebens vier Jahre lang Karotten, Broccoli, Karfiol, Salat, Gurken, Tomaten, Zucchini, Melanzani, Kartoffeln, Paprika und Mais hineingestopft. Aber es gibt mir ein Gefühl der Kontrolle. Ich werde zumindest nicht an Leberverfettung sterben. Und falls ich doch, dann ist das schlicht und ergreifend Pech. Dagegen kann man nichts tun.

Für einen Lebemann, wie ich es immer war, ist es hart, wenn man fast das Leben verliert. Ich dachte damals während der Rehabilitation viel nach. Warum sollte mich jemand erschießen wollen? Wahrscheinlich stellt sich diese Frage jeder, auf den geschossen wurde – selbst wenn er es verdient hatte. Wir reagieren mit ungläubigen Entsetzen auf diese Tat, selbst, wenn wir sie im Grunde heraufbeschworen habe. Guido Hennike hatte seine Gründe auf mich zu schießen, doch konnte ich diese nicht erkennen. Verstehen Sie mich nicht falsch, niemand sollte einen anderen erschießen, dafür kann es keine guten Gründe geben. Aber Hennikes Tat war verständlich, auch wenn ich lange brauchte, um sie zu verstehen.
Ich war immer Everybody’s Darling, zumindest in meinen Kreisen. Ich war schließlich das Nashorn – jemand, der etwas bewegen konnte, den man voraus in die Schlacht schicken konnte, wenn es hart auf hart ging. Ich trug diesen Namen immer mit Stolz und mir kam es nicht in den Sinn, dass andere Menschen diesen Namen negativ behaftet sahen. Menschen wie Guido Hennike sahen in diesem Nashorn einen zerstörerischen Bulldozer, der alles niederriss, was sie sich mühsam aufgebaut hatten. Sie sahen in mir einen Tod und Verderben bringenden Hurricane, der ihr Leben verwüstete. Und, um ehrlich zu sein, war ich das auch. Ich nahm es damals nur nicht so wahr. Es brauchte drei Kugeln, jede Menge Gemüse und viel Zeit zum nachdenken, um zu der Wahrheit zu gelangen.
Die Erkenntnis, dass ich ein Arschloch war, schmerzte sehr. Mehr noch als die Kugeln von Hennike, mehr als die sechs Monate Rehabilitation. Ich hatte mein ganzes Leben auf meinen Erfolgen als Manager aufgebaut und nun musste ich feststellen, dass dieses Leben nichts wert war.

Wie kann man sich selbst aus diesem Sumpf ziehen? Wie kann man sich neu motivieren? Wie kann man im bestenfalls letzten Drittel seines Lebens noch einmal eine Kehrtwendung schaffen und in eine andere Richtung marschieren? Wäre es nicht sinnvoller weiterzumachen wie bisher, da man ohnehin nicht mehr allzu lange Zeit hat? Oder kann man sein Leben zu jedem Zeitpunkt, selbst am Sterbebett ändern? Diese Fragen beschäftigten mich über Wochen und Monate. Einerseits war ich alt und bequem, ich war an mich als Nashorn gewöhnt. Andererseits konnte ich mein eigenes Spiegelbild nicht mehr ertragen. Ich war in einem Dilemma, aus dem ich ohne fremde Hilfe kaum finden konnte. Doch ich hatte diese fremde Hilfe.


2


Maria.
Sie ist Tschechin, sie wurde in Brünn geboren und wuchs dort auf. Sie hat sich angewöhnt, Brünn statt Brno zu sagen, schließlich lebt sie in Deutschland, sagt sie. Dafür, dass sie erst seit sechs Jahren hier ist, spricht sie sehr gut Deutsch, mit einem leicht östlichen Akzent, aber grammatikalisch richtig.
Maria Hašek – wie soll ich sie nur beschreiben, wie kann ich ihr gerecht werden? Irdische Maßstäbe treffen bei ihr nicht mehr zu. Für mich ist sie ein Engel, herabgestiegen zu meiner physischen und psychischen Rettung. Und klar, ein Engel muss langes, blond gelocktes Haar haben, also hat sie langes, blond gelocktes Haar. Ein Engel muss ein sanftes, ebenmäßiges und aristokratisch schönes Gesicht haben, also hat sie ein sanftes, ebenmäßiges und aristokratisch schönes Gesicht. Nur bei den Augenfarben hat Gott sie nicht dem Stereotyp entsprechend angepinselt, statt klaren blauen Augen, die still wie Bergseen im Mondlicht schimmern (auch wenn es zu abgedroschen und pathetisch klingt – eine bessere Beschreibung fällt mir nicht ein), hat sie geheimnisvolle graugrüne Augen, die an ein Meer von moosbewuchertem Berggestein in der sommerlichen Nachmittagssonne erinnern. Und wissen Sie, was das Schönste ist? Als ich in der kalt-weißen Intensivstation des Krankenhauses zu mir kam, waren diese Augen das Erste, was ich sah.
Zunächst sah ich natürlich alles nur sehr verschwommen durch einen milchigen Schleier durch. Meine Augen mussten sich erst wieder an das Licht gewöhnen. Ich blinzelte ein paar mal und langsam wich der weiße, milchige Schleier. Ich schloss meine Augen noch einmal, zählte bis drei und öffnete sie wieder. Da sah ich in diese unglaublichen graugrünen Augen.
Dann ihr Haar, wie es wild, aber dennoch ihrem Willen untergeordnet, von ihren Schultern fiel. Dann ihre weiße, sterile Schwesterntracht, die mich erkennen ließ, wo ich war und bei der sie dankenswerterweise den obersten Knopf offen gelassen hatte. Ihre Brüste, ihre Brüste – stellen Sie sich einfach einen perfekten Menschen vor, mit allem, was dazugehört, dann haben Sie eine ungefähre Ahnung von Maria.
Sehen Sie, ich schwärme wie ein Schuljunge, aber diesen Effekt hatte Maria auf mich und sie hat ihn noch immer. Beim Aufwachen: Ich war Guido Hennike fast dankbar, dass er mich über den Haufen geschossen hatte. Doch dann stellte sich der Schmerz an, überall am ganzen Körper, in der Brust, in den Beinen, im Kopf. Ich stöhnte laut auf und Maria flößte mir Morphium ein. Meine Dankbarkeit gegenüber Hennike war damit wieder verflogen.

Ich weiß nicht, warum sie sich in mich verliebt hat. Man sagt, dass die Wege des Herrn unergründlich sind. Ich bin nicht gläubig, aber der Satz gefällt mir in diesem Zusammenhang sehr gut.
Anfangs war ich wohl mehr eine Herausforderung für sie, ein alter Sack, der aufgrund seiner schweren Verletzungen erst wieder gehen lernen musste. Noch dazu war ich nicht besonders sympathisch oder nett. Wenn man ein Leben lang ein kalter Mistkerl war (auch, wenn ich selbst das immer anders gesehen hatte), dann legt man das nur schwer ab. Und ich sah damals auch keine große Veranlassung, mich zu ändern. Aber ich war nachdenklicher als sonst, der Anschlag hatte mich emotional sehr mitgenommen, und dadurch hatte ich weniger Zeit, unsympathisch zu erscheinen. Meistens lag ich einfach nur apathisch in meinem Krankenbett, das mir im Laufe der Wochen und Monate zur Heimat wurde.
Besuch bekam ich nur selten, es zeigte sich, dass ich tatsächlich nur wenige echte Freunde hatte. Drei Leute, die mich halbwegs regelmäßig besuchten: Christa Stumpfer, meine langjährige Sekretärin, die fast zeitgleich mit mir in die Firma gekommen war. Helge Rattke, ein Jugendfreund, der sich nach fast dreißig Jahren an mich erinnerte, als er vom Schussattentat in der Zeitung gelesen hatte. Und schließlich meine Kusine Edith, die einzige Frau, über der ich jemals über meine Gefühle reden konnte, die mich mit all meinen Facetten (oder eher: Abgründen) erfasste und trotzdem nicht hasste. Bis auf Maria natürlich, aber die sollte erst sehr langsam diesen besonderen Status erringen.
Fürs Erste war sie an mir als Person nicht interessiert, sie sah mich, wie bereits erwähnt, als eine Herausforderung. Nur darum kümmerte sie sich täglich um mich, begleitete mich zur Rehab und übte mit mir im Krankenzimmer, wenn ihre Schicht zu Ende war. Sie gibt es heute auch freimütig zu, wenn ich sie danach frage.
„Ich liebe schwierige Fälle und du warst ein ganz spezieller schwieriger Fall“, sagt sie immer. „Dass du auch ein spezieller Mensch bist, das habe ich erst später erkannt.“
„Außergewöhnlich“, verbessere ich sie dann.
„Nein, speziell passt gut.“
Und ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll.

Nach einem halben Jahr Rehabilitationsprogramm konnte ich wieder laufen. Das ist durchschnittlich, sagten mir die Ärzte. Ich war irritiert – das erste Mal in meinem Leben, dass ich in irgendetwas durchschnittlich war. Ich war immer entweder gut oder schlecht, aber niemals durchschnittlich. In der Schule war ich gut, im Studium auch. In meinem Beruf war ich sehr gut, zumindest war das die Meinung des Vorstandes. Beim Tanzen bin ich schlecht und beim Singen auch. Dafür kann ich gut kochen. Aber durchschnittlich? Die Rehabilitation war meine erste Erfahrung mit dem Mittelmaß und das im Alter von fast sechzig Jahren. Allerdings sollte sich dieses Mittelmaß als schicksalsbehaftet erweisen, denn erst im letzten Monat meiner Rehabilitation begann Maria sich für mich zu interessieren. Ich begann eine persönliche Herausforderung für sie zu werden statt einer beruflichen, als ich begann, meine Vergangenheit aufzuarbeiten.
Die ersten drei Monate im Krankenhaus war ich schwer beschäftigt gewesen, meinen aktuellen Status zu erfassen und zu verarbeiten, ich dachte damals nur von Operation zu Operation. Die ersten drei Monate in der Rehab hatte ich versucht, mich auf meine Aufgabe zu konzentrieren und die war einfach und klar: Wieder gehen lernen.
Nach meinen ersten Fortschritten bei der Erfüllung dieser Aufgabe hatte ich die Zeit gefunden, mir zu überlegen, was ich Hennike antun konnte. Doch bald hatte ich eingesehen, dass mich Rachegefühle zu nichts führen konnten. Im Gegenteil, ich hatte begriffen, dass ein von Rache geleitetes Leben ein vergeudetes Leben ist und viel Zeit hatte ich ohnehin nicht mehr vor mir. Man kann mehr aus seinem Leben machen, man kann es leben. Ich gelangte schließlich zu einem Wendepunkt, nämlich zu mir selbst. Ich begann, intensiv über mein bisheriges Leben nachzudenken, über meine Erfolge, meine Misserfolge und stellte mir endlich die einzig wichtige Frage: Hätte ich die Erde als zufriedener, vielleicht sogar glücklicher Mensch verlassen, wenn Hennike damals besser gezielt hätte? Die Antwort war schnell gefunden – ich war niemals ein zufriedener, geschweige denn glücklicher Mensch.
Und die Gründe?
Dafür brauchte ich mehr Zeit. Es strengt an, wenn man in die eigene Seele herabsteigt wie Orpheus in die Unterwelt. Doch während Orpheus seine Eurydike aus den Fängen des Hades befreien wollte, war ich damit beschäftigt, mein eigenes Ich, meine Existenz zu retten. Keine minder schwierige Aufgabe. Orpheus’ Mission kann als gescheitert betrachtet werden, bei mir zeigt sich das Ergebnis meiner Bemühungen erst am Sterbebett. Wenn ich dann, wann immer das auch sein wird, zu einer anderen Antwort auf die Frage, ob ich als zufriedener oder vielleicht sogar glücklicher Mensch sterbe, als vor fast vier Jahren in der Klinik komme, dann war der Ausflug in meine eigene, persönliche Unterwelt ein erfolgreicher.

Es war damals, als ich meine Vergangenheit aufarbeitete und versuchte, mein Leben zu rekonstruieren, als Maria mir in die Augen sah. Sie hatte mich schon oft angeblickt, wir sahen uns schließlich jeden Tag, aber damals, an einem verregneten Oktobertag, sah sie mir in meine Augen, durch meine Augen und tief hinab in meine Seele. „Du kannst dein Leben immer ändern, jeden Tag, jeden Moment, wann immer du willst.“
Nachdem wir uns acht Monate lang täglich gesehen hatten, war dies der Beginn. Tag eins unserer gemeinsamen Geschichte.


3


Ich bin ein Kämpfer. Ich war immer ein Kämpfer, ein weiterer Grund, warum man mich Nashorn nannte. Nashörner ziehen nicht den Schwanz ein und trotten davon, wenn es brenzlig wird. Nashörner stellen sich fest mitten auf den Weg, senken den Kopf und schnauben angriffslustig.
Manchmal dachte ich schon an Selbstmord. Ich kokettierte eine Zeit lang mit dem Gedanken, mich aus dem Fenster des vierten Stocks, in dem ich lag, zu stürzen. Ich habe einmal gelesen, dass ein Fall von zehn Metern Höhe unter Umständen schon ausreicht, um tödliche Verletzungen zu verursachen. Es wäre so einfach gewesen, Maria zu bitten, mich im Rollstuhl ans Fenster zu fahren, damit ich die Sonne genießen könne, dann, wenn sie weg war, das Fenster zu öffnen, sich auf das Fensterbrett zerren (meine Arme waren bald wieder ziemlich kräftig) und fallen zu lassen. Ich versuchte auch immer wieder, mich auf das Fensterbrett zu heben, nur um zu sehen, ob meine Arme wirklich schon stark genug waren. Sie waren es. Warum ich dann doch nicht sprang: Weil ich eben ein Nashorn war.

Vielleicht wollen Sie wissen, wie ich zu dem Menschen geworden bin, der ich war, wie das Nashorn entstanden ist, wie es geboren wurde. Ich wollte das damals auch wissen. Der Schlüssel zu dem ganzen Schlamassel, in dem ich steckte, schien mir in diesem Spitznamen „Nashorn“ zu liegen. Warum war ich das Nashorn? Wer gab mir den Namen? Und was bedeutete er letztendlich?
Ich hatte, wie gesagt, den Begriff des Nashorns immer mit etwas Starkem, Mächtigem, Unaufhaltbarem assoziiert. Wie konnte das auch anders sein? Ich dachte lange nach und kam zu keinem Ergebnis. Falls Sie das wundert: Versuchen Sie selbst einmal für sich, ihre Persönlichkeit zu begründen. Warum sind Sie so, wie Sie sind?
Und so kam es, dass ich Maria an jenem verregneten Oktobertag fragte, ob sie mich als Patient mochte.
„Ja, du bist ein interessanter Fall. Du bist tapfer, du gibst nicht auf.“
Und wie sah es mit mir als Menschen aus? Was meinte sie dazu?
So kam es, dass sie sich vor mein Bett kniete und mir tief in die Augen sah. „Du kannst dein Leben immer ändern, jeden Tag, jeden Moment, wann immer du willst.“
Sie ergriff meine Hand und drückte sie leicht.
„Ich bin also kein guter Mensch“, stellte ich fest, was Maria als Frage auffasste.
„Ich weiß nur, wie du im Moment bist. Du denkst viel nach, über dich und über deine Fehler. Ich kann nicht beurteilen, wie du früher warst. Aber das ist auch egal. Wichtig ist nur, wer du jetzt bist und wer du in Zukunft sein willst. Und wenn du dich ändern willst, dann tu es.“
Ich dachte danach viel über ihre Worte nach, tat aber nichts, um mich zu ändern. Ich konnte nicht, obwohl ich es wollte. Ich fühlte mich in einer sehr passiven Lage. Wie kann man im Liegen auch sein Leben ändern? Außerdem kann man nichts an sich verbessern, wenn man nicht genau weiß, woran Verbesserungsbedarf besteht.

Nach diesem Tag besuchte mich Maria immer öfter, auch wenn ich nichts benötigte. Manchmal kam sie außerhalb ihrer Dienstzeiten. An meinem Geburtstag brachte sie mir einen Strauß Blumen und sie hatte sich fein herausgeputzt. In ihrer Schwesterntracht sah sie gut aus, in Zivil jedoch umwerfend. Sie stellte die Blumen neben dem gewaltigen, überdimensionierten Blumenstock, den mir der Firmenvorstand geschickt hatte. Im Vergleich zu diesem gewaltigen Blütenmeer, in dem mich die Firma begraben wollte, wirkten ihre Blumen zierlich und verloren. Ich ließ den Firmenblumenstock bald entfernen, um Marias Blumen besser betrachten zu können.
Sie merkte, dass meine Gefühle zu ihr von Tag zu Tag wuchsen. Ich drückte mich durch Blicke, Gesten und scheinbar zufällige Berührungen aus, nie durch Worte. Was hätte ich ihr auch sagen können? Ich war mir über meine Gefühlslage selbst nicht ganz im Klaren. Ich fühlte mich sexuell zu ihr hingezogen, aber das allein war es nicht. Sie war diejenige, die mich am Leben hielt – buchstäblich gesprochen. Sie betreute mich, sie fütterte mich, sie forderte mich auf einer intellektuellen Ebene heraus. Die Ärzte, die Chirurgen hatte mich operiert und mir das Leben gerettet, aber dass ich danach am Leben blieb, verdanke ich Maria. Doch meine Gefühle waren auch mehr als Dankbarkeit. Ich verliebte mich, wie ein Schuljunge, idealisierte sie und ich idealisiere sie noch heute.
Maria hat ihre kleinen Fehler und Mätzchen, sie kann sehr eigensinnig sein, sehr bestimmend. Sie war ihr ganzes Leben lang allein, hat nie geheiratet und ihre Beziehungen vor mir waren nur von kurzer Dauer. Sie war es also gewohnt, ihren eigenen Kopf durchzusetzen. Aber das trug ich ihr nicht nach, ich sah darüber hinweg. Verliebt. Wie ein Schuljunge.
Dadurch, dass ich meine Gefühle nicht leugnen konnte, zweifelte ich an ihnen. Das klingt nun paradox, aber mit meinen sechzig Jahren hatte ich genug Erfahrung gesammelt um immer zweifeln zu können. Ich hatte verschiedene Beziehungen geführt, manche waren glücklicher als andere, aber keine hatte länger als drei Jahre gehalten. In fast allen Fällen ging die Trennung von mir aus, meine Gefährtinnen begannen mich zu langweilen. Meine Gefühle zu ihnen waren nicht tief genug. Umgekehrt, aus meiner heutigen Sicht der Dinge, muss ich gestehen, dass fast alle meiner Geliebten froh waren, wenn ich den Schlussstrich zog. Sie selbst hatten nur selten die Kraft dazu, sie fürchteten sich vor meiner Dominanz. Ich war nie cholerisch, hatte nie Wutanfälle, gab ihnen keinen Anlass zu einer Szene. Doch ich strahlte diese passiv-aggressive Dominanz aus. Sie fürchteten sich vor mir.
Bei Maria war das anders. Sie war selbst ein dominanter Mensch, eben mit einem eigenen Kopf geboren. Und ich hatte keinen Grund, meine Gefühle zu leugnen, sie waren diesmal, dieses erste und einzige Mal in meinem Leben, zu stark. Das gab mir zu denken und so zweifelte ich an meiner Aufrichtigkeit. Ich dachte, dass ich mir etwas einbildete, dass ich einfach aus dem emotionalen Gleichgewicht geraten war und so anfällig für Marias Reize war.
Ich hatte unrecht. Ich war tatsächlich bis über beide Ohren verliebt. Doch ich brauchte eine Weile, um mir das eingestehen zu können.

Was Maria in mir sah, warum sie meine Gefühle schließlich erwiderte, kann ich nicht sagen. Was mich schließlich von einer beruflichen Herausforderung zu einer menschlichen Herausforderung und schließlich zum Freund und Geliebten werden ließ, ist schwer nachzuvollziehen. Maria weiß es selbst nicht.
„Ich sah dich jeden Tag im Krankenhaus. Ich gewöhnte mich an deinen Anblick. Dann, als ich an dich gewöhnt war, sah ich dich aus Interesse anders an. Versuchte festzustellen, was an dir außergewöhnlich war. Und du hast um mich geworben, mit deinen Augen, mit deinen Fingern, mit deinem ganzen Körper und deinem ganzen Herzen, das in diesem Körper steckt. Das mochte ich. Und daher mochte ich dich.“
„Aber sind deine Gefühle, die du mir gegenüber hast, auch stark genug?“
„Ich denke schon.“
Das genügt mir. Ich habe keine absolute Sicherheit über ihre Gefühle, aber diese Sicherheit gibt es im Leben ohnehin nie. Manchmal muss man sich einfach fallen lassen und hoffen, dass man aufgefangen wird. Noch eine Lektion, die ich im Krankenhaus gelernt habe.


4


Maria war und ist eine zentrale Figur in meinem Leben, dank ihr hat sich vieles zum Guten gewandt. Durch sie erfahre ich tagtäglich meine Erlösung. Doch die zentrale Figur, die in mir dieses ‚Klick’ auslöste, diesen Tritt in den Hintern gab, war Guido Hennike. Er gab mir die Kraft mich zu ändern. Maria gibt mir die Kraft, so zu bleiben wie ich nun bin. Jemand, der mich hasst und jemand, der mich liebt. Ich dachte, es braucht beides, um ein rundes Leben zu führen. Wir brauchen Menschen, die uns zeigen, dass wir nicht weitermachen können wie bisher, wenn wir eine falsche Richtung eingeschlagen haben. Das sind diejenigen, die uns hassen. Und wir brauchen Menschen, die uns zeigen, wer wir werden könnten, wenn wir uns Mühe geben. Das sind die Menschen, die uns lieben. Natürlich zeigen uns auch diejenigen, die uns lieben, unsere Fehler auf, zeigen uns, was wir falsch machen und übernehmen so die Aufgabe derer, die uns hassen. Aber die Sprache derjenigen, die uns hassen, ist deutlicher. Kugeln beispielsweise kann man nicht missverstehen.

Sind Sie schon jemals von einem anderen Menschen derart gehasst worden, dass diese Person zu körperlicher Gewalt gegen Sie fähig war? Ich denke, das passiert den wenigsten Menschen. Man sieht es in Filmen, man liest es in Büchern, aber im realen Leben ist zügellose Gewalt gegen andere ein bloßes Wunschdenken. Das mag nun zynisch klingen, aber die meisten Menschen hassen zwar, haben jedoch Angst vor der Gewalt. Der Hass muss schon unendlich groß sein; eine prall gefüllte Blase an Hass braucht es und eine Nadel, die in diese Blase sticht. Es scheitert entweder an der Blase oder an der Nadel.
Nun, Guido Hennike trug diese Hass-Blase in sich und ich war die Nadel. Ein seltener Fall, äußerst ungewöhnlich. Man liest dann von diesen Fällen in der Zeitung und denkt sich: Die Welt ist schlecht, schon wieder ist etwas passiert. Doch dass es einen selbst erwischen könnte, hält man für undenkbar. Und dass man einen Menschen so hassen kann, dass man ihm etwas antun könnte, ist eben nur Wunschdenken. Wäre ich doch keine Memme, sondern ein Mann – ich hätte diesen Idioten längst zu Brei geschlagen ... Wenn ich jetzt ein Messer in der Hand hätte, ich könnte für nichts garantieren ... Ich könnte ihn mit bloßen Händen erwürgen ... und so weiter und so fort. Gedankenspiele. Doch dann wird man plötzlich selbst ein Opfer der Gewalt, die man in den Tagträumen anderen antut und von der man gedacht hat, dass sie gegen einen selbst gerichtet unmöglich ist. Das Weltbild wird aus den Fugen gehoben. Wer hat dann noch große Lust, weiterzuleben? Auf einmal stellt man fest, dass die Welt schlechter ist, als man geglaubt hat. Gewalt gegen andere – ja, natürlich, davon liest man schließlich jeden Tag in der Zeitung! Gewalt gegen mich – unfassbar! Habe ich es verdient, weiterzuleben? Hatte Guido Hennike nicht Recht, als er abdrückte?
Die Nächte werden lang im Sumpf der Selbstzweifel, vor allem, wenn diese Selbstzweifel berechtigt sind. In Gedanken versucht man, eine bestimmte Stelle, einen ganz bestimmten Zeitpunkt in seinem Leben zu finden, der das Attentat begründen könnte. Die Schließung der Produktionsstätte in Gütersloh: Natürlich ein Auslöser, aber nicht die Ursache. Ich tat nur meinen Job. Der eigentlich Grund muss tiefer liegen, viel tiefer. Doch man findet ihn nicht, man findet nicht dieses eine Ereignis in der Kindheit, oder in der Jugendzeit, in der Studienzeit, im Arbeitsalltag, das diese Kugeln ausreichend begründen kann. Doch was man findet: Kleine Fehltritte. Falsche Entscheidungen. Momente, die man sofort darauf bereut, aber nicht mehr rückgängig machen kann. Gespräche, die anders verlaufen, als man möchte. Wutanfälle. Grobheiten. Verstohlene Blicke von Kollegen. Leises Tuscheln hinter vorgehaltener Hand. Kälte. Einsamkeit. Zwanghaftes Lächeln für die zahlreichen Schulterklopfer, die es nicht ernst meinen. Die Suche nach Rechtfertigungen für Taten. Was man findet: Man mag sich nicht.
Ich stellte fest, dass ich mich mein ganzes Leben lang bemüht hatte, die Meinung anderer Leute zu ignorieren. Ich war mit der oberflächlichen Begeisterung meiner unmittelbaren Vorgesetzten zufrieden, mit der durch übertriebene Freundlichkeit ausgedrückte Angst meiner Untergebenen, mit der teilnahmslosen Heuchlerei meiner angeblichen Freunde. Ich war ein Gewinner, das allein zählte. Als ich damals vor diesen zweihundert protestierenden und dem einen hassenden Arbeiter stand, war ich eine Manifestation der Gefühlskälte. Ich machte es Hennike leicht die Pistole zu ziehen.

Endlich sah ich die Tür vor mir, die Tür zu mir selbst, zu einem anderen und besseren Ich. Was mir fehlte, war der passende Schlüssel. Guido Hennike konnte dieser Schlüssel sein, jedenfalls hatten wir noch ‚unfinished business’ zu erledigen, wie die Engländer sagen. Das gefällt mir besser als der deutsche Ausdruck ‚eine offene Rechnung begleichen’. Das klingt zu dramatisch, das klingt nach Rache und Blutdurst. Ich verspürte jedoch nichts davon. Vielmehr ging es mir darum, einen Schlussstrich unter diese Angelegenheit zu ziehen und das Attentat als letzten Teil meines alten Ichs aufzuarbeiten. Als ich wieder ohne fremde Hilfe gehen konnte, besuchte ich Hennike im Gefängnis.


5


Ich hatte dreißig Minuten mit ihm. Einerseits können dreißig Minuten eine lange Zeit sein, wenn man nicht weiß, was man sagen soll. Andererseits kann dieser Zeitraum auch viel zu kurz sein, wenn das Gespräch fließt und man auf einer Ebene liegt. Das erwartete ich nicht, aber ich wollte meine Zeit mit ihm ausnutzen.
Die Verhandlungen waren bereits geführt worden. Die Sache war klar gewesen: Der Täter, das Opfer, das Motiv. Auch hatte Guido Hennike seine Tat gestanden, ohne Wenn und Aber. Er hatte drei Jahre unbedingt bekommen, ein mildes Urteil. Ich hatte das in der Zeitung gelesen. Edith, meine Kusine, hatte alle Zeitungsausschnitte, die sich mit dem Attentat befassten, gesammelt. Viele waren es nicht, schließlich war ich nicht an den Kugeln gestorben. Für die Auflagen wäre ein toter Manager natürlich besser gewesen als ein im Krankenhaus dahin vegetierender.
Ich wurde in ein separates Besuchszimmer geführt, kurz darauf betrat Hennike, geführt von zwei bulligen Beamten, den Raum. Sie befürchteten offenbar Schlimmes, dass wir uns gegenseitig an die Kehle springen, uns die Augen ausreißen oder was weiß ich etwas antun könnten. Stattdessen blickten wir uns stumm an.
Er hatte sich seinen weißen (nein, blonden) Bart abrasiert, sein Gesicht wirkte dadurch jugendlicher. Allerdings hatte ihm die Zeit im Gefängnis zugesetzt, er ging gedrungener, die Wangen wirkten eingefallen, seine Augen leuchteten nicht mehr in dieser kämpferischen Wildheit, wie ich sie zuletzt gesehen hatte. Er wirkte ruhig, fast teilnahmslos und doch war ihm meine Gegenwart unangenehm. Er wusste nicht, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Warum besuchte ihn sein Opfer im Gefängnis?
Ich brach schließlich das Schweigen.

„Guten Tag, Herr Hennike.“
Kein guter Start; zu förmlich, zu kalt, zu geschäftsmäßig.
„Hallo Guido.“
Besser.
Er blickte mich an, taxierte mich, schien zu überlegen. „Hallo Nashorn.“
Das hatte kommen müssen. Kannte er überhaupt meinen richtigen Namen? Ich bezweifelte es.
„Das Nashorn war früher einmal. Es ist inzwischen gestorben.“
„Habe ich es getötet?“ Er sprach leise, abwartend.
„Nein. Das habe ich selbst getan.“
Er schien mit dieser Antwort nicht viel anfangen zu können. Woher sollte er auch von meinem innerlichen Kampf in den letzten Wochen und Monaten wissen? Woher sollte er von Orpheus in der Unterwelt wissen?
„Weißt du, ich habe in der letzten Zeit viel nachgedacht. Warum du damals geschossen hast.“
„Das war eine Kurzschlussaktion, das hat nichts mit dir zu tun.“
„Doch, es hat nur mit mir zu tun. Du hast schließlich auf mich geschossen und auf keinen anderen.“
„Du warst verantwortlich dafür, dass ich meinen Job verlieren sollte. Deswegen habe ich auf dich geschossen und nicht auf jemanden anderen.“
„Aber ich konnte es in deinen Augen sehen, du hast mich gehasst. Da war mehr. Das ging tiefer.“
Wir plauderten fast ungezwungen miteinander. Eigentlich schon absurd. Er taxierte mich, dann nestelte er aus seiner Brusttasche eine Packung Zigaretten und hielt mir die offene Packung hin.
„Nein danke, Nichtraucher.“
Er nickte, als habe er das gewusst und steckte sich eine Zigarette an. Er tat ein paar Züge, dann sprach er. „Ich habe“, er zögerte, „ich habe schon viel von dir gehört. Es hat mir nicht gefallen. Dortmund, Wuppertal, Cuxhaven, Lüttich, Krakau, Linz, ich weiß nicht, wie viele Werke du schon schließen hast lassen. So etwas macht die Runde. Du hattest einen gewissen Ruf.“
„Achtundzwanzig“, sagte ich.
„Was meinst du?“ Er blickte mich verständnislos an.
„Achtundzwanzig Schließungen bei sieben Übernahmen. Neuntausend Arbeiter entlassen. Keine schöne Bilanz.“
„Nein, wirklich nicht.“ Er nickte und rauchte. „Also, warum bist du hier?“
Ich rückte mir meinen Stuhl zurecht, er war nicht besonders bequem und meine Beine schmerzten. Sie waren noch nicht an das Sitzen auf unbequemen Stühlen gewöhnt.
„Ich sagte bereits, ich habe in der letzten Zeit viel nachgedacht. Und ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass ich die Kugeln irgendwie verdient habe. Das klingt jetzt sehr melodramatisch, vor allem vor dir, aber so ist es. Ich war kein guter Mensch, ich habe mich nie um andere gekümmert. Und du hast mich darauf aufmerksam gemacht. Deine Maßnahmen waren zwar etwas übertrieben“, er lächelte gequält, „aber du hast dein Ziel erreicht.“
„Welches Ziel?“
„Das Nashorn zu vertreiben.“
„Du hast gesagt, dass du das selbst geschafft hast.“
„Das ist schon richtig, nur hätte ich mein Leben nicht überdacht und geändert, wenn du nicht auf mich geschossen hättest. Ich hätte einfach so weitergemacht wie bisher.“
Er überlegte. „Rechtfertigt das, einen anderen zu erschießen? Nicht, dass ich mich hier rechtfertigen möchte, nur so ein Grundsatzgedanke.“
Der Bursche hatte mehr drauf, als man ihm ansah. Wenn er auch nicht unbedingt die beste Schulbildung genossen hatte, so machte er sich zumindest Gedanken über vielerlei Dinge. Und er hatte anscheinend vor allem im Gefängnis viel nachgedacht, so wie ich im Krankenhaus. Mir war vorher nicht bewusst gewesen, dass wir in einer ähnlichen Lage steckten, dass wir in gewisser Weise Leidensgenossen war. Der Freiheit beraubt – er aufgrund von Gitterstäben und Wächtern, ich aufgrund meiner Verletzungen – und zutiefst verwirrt. Es ist bestimmt nicht leicht, ein Attentäter zu sein.
„Du hast deine Aktion nicht geplant, oder?“
Er zögerte. „Doch, eigentlich schon. Ich holte mir die Waffe von einem Freund. Der ist Sportschütze. Ich habe mir eingeredet, dass ich dich damit erschrecken wollte, vielleicht als Geisel nehmen oder so. Aber im Unterbewusstsein habe ich gewusst, dass ich dich erschießen wollte.“
Ich nickte. „Du bist dem Unterbewusstsein gefolgt. Man kann sich viel einreden, aber handelt dann doch gemäß dem Willen, der tief in einem verwurzelt ist.“
Er hatte seine Zigarette aufgeraucht und steckte sich eine neue an. Dabei zitterten seine Hände leicht. So gleichgültig, wie er tat, war er nicht.
„Du hasst mich noch immer“, stellte ich fest.
Er blickte von seinem Feuerzeug hoch, sah dabei schuldbewusst aus. „Ich weiß nicht. Ich sollte eigentlich, sonst wäre das Attentat doch sinnlos gewesen, oder? Aber so richtig kann ich nicht. Ich sehe meinen Fehler ein, war eine Riesendummheit von mir, aber ich habe meine Gründe gehabt. Doch nun, da du hier sitzt, weiß ich nicht so recht, was ich fühlen soll.“
Ich verstand ihn. Mir ging es schließlich ähnlich. Eigentlich hätte ich Hennike hassen müssen, er war mein Feind, er hatte mich töten wollen. Aber es gelang mir nicht, auf ihn wütend zu sein. Stattdessen empfand ich Mitleid, größtenteils.
„Wann hast du beschlossen, dass du mich umbringen wolltest?“
Er blickte überrascht. „Ich habe das eigentlich nicht beschlossen. Man muss schließlich bewusst etwas beschließen, oder? Bei mir ist es eher zufällig passiert. Ich habe die Waffe von einem Kumpel. Ich habe sie genommen, als ich erfahren habe, dass unser Werk geschlossen werden sollte. Ich war zufällig bei meinem Kumpel auf Besuch, wir haben das aus dem Radio erfahren. Keine schöne Art, solche Neuigkeiten zu hören. Und als mein Kumpel dann kurz auf die Toilette ging, bin ich in sein Schlafzimmer und habe mir die Pistole geschnappt. Er hat sie immer in seiner Nachttischlade. Nicht, dass er irgend so ein Rambo wäre, der beim leisesten Geräusch in der Nacht aufspringt und wie wild um sich ballert, aber er mag Waffen, er mag sie gerne um sich. Ich weiß, es ist illegal, wenn man seine Waffe nicht ordnungsgemäß wegsperrt und ich habe ihn damals ganz schön in die Scheiße geritten. Ist dumm gelaufen; wenn er seine Pistole eingeschlossen hätte, dann hätte ich sie nicht klauen können, dann würden wir jetzt nicht hier sitzen und dieses Gespräch führen und er hätte noch seine Lizenz. Aber man muss es nehmen, wie es kommt.“
Wieder tat er einen tiefen Zug, dann fuhr er fort.
„Man kann immer versuchen, sich auf dieses ‚wenn’ auszureden, aber das nützt gar nichts. Man muss sich immer mit der Situation abfinden – egal, wie sie ist. In der Zeit zurückgehen – ein schöner Traum, aber eben nur ein Traum. Wir müssen ausbaden, was wir verbocken. Und ich habe es verbockt.“
Ich schwieg. Er hatte Recht. Er hatte es verbockt. Die vom Freund gestohlene Pistole und die Kugeln, die er auf mich feuerte, sind sein Teil der Schuld. Doch auch ich hatte es verbockt. Wäre ich ein anderer Mensch gewesen, hätte er keine Veranlassung gehabt, mich niederzuschießen. Doch da ist es wieder, dieses ‚wenn’. Es schleicht sich immer wieder ein, wie ein kleiner Dieb, der versucht, unsere Schuldgefühle zu stehlen. Aber ich war der Mensch, der ich war und niemand anderer.
Das sagte ich ihm und er dachte darüber nach.
„Du warst ein ziemliches Arschloch. Dennoch hätte ich niemals das tun dürfen, was ich getan habe. Aber so ist es gelaufen und Punkt.“
„Und nun hasst du mich nicht mehr?“
Er lehnte sich zurück, tat zwei Züge, blies den Rauch gedankenverloren aus. „Nein. Je länger du hier sitzt und je länger ich darüber nachdenke, desto schwerer fällt es mir, dich zu hassen. Du solltest gehen, bevor ich anfange, dich zu mögen.“ Er lächelte gequält.
Ich dachte darüber nach. Spielte es eine Rolle, ob er mich nun hasste oder nicht? Spielte es überhaupt eine Rolle, ob er mich damals gehasst hatte? Er hatte mir klargemacht, dass ich so nicht weiterleben konnte, wie ich es getan hatte. Das war alles, was ich wissen musste. Nachbohren wegen Hass oder nicht Hass, was machte das schon für einen Unterschied? Ich musste mich ändern, das war die Konsequenz aus Guido Hennikes drei kleinen Geschenken. Ich gelangte zu der Überzeugung, dass es niemanden braucht, der einen liebt oder der einen hasst. Ändern muss man sich immer selbst. In anderen Menschen den Auslöser für Veränderungen zu sehen, heißt, die eigene Verantwortung auszuschlagen und sie anderen in die Schuhe zu schieben. Das ist feige. Das einzige, was andere Menschen tun können, ist es, Fehler aufzuzeigen. Die Veränderung oder vielmehr die Verbesserung muss von jedem selbst ausgehen. Guido Hennike hatte mir meine Fehler aufgezeigt, auf seine eigene, sehr dramatische Weise. Verändern musste ich mich selbst. Es lag in meiner Macht, ich hätte auch so weiterleben können wie vorher. Dass ich mich tatsächlich als Mensch zum Guten geändert habe, heißt, dass ich die Verantwortung für mein Leben akzeptiert habe. Wir sind nicht nur ein Produkt unglücklicher Verkettungen und Zufälle, wir reagieren nicht nur auf Anstöße und Anreize von außen, diese Sicht der Dinge ist zu einfach. Das menschliche Wesen ist weitaus komplexer, wir können uns selbst manipulieren, auch zum Guten hin.
Diese Erkenntnis traf mich ziemlich plötzlich, auf ein Mal machte mein Besuch bei Hennike überhaupt keinen Sinn mehr. Doch genau darin lag der Sinn, dass ich gekommen war. Hätte ich Hennike nicht besucht, zu welcher Überzeugung wäre ich gelangt? Dass es einen Auslöser braucht, um sich zu ändern.
Welch eine fatale Einschätzung! Wie hätte ich mich ändern können, wenn ich die Verantwortung von mir geschoben hätte? Ich wäre vielleicht nicht der gleiche Mensch wie vorher, vor dem Attentat, geworden, geändert hätte ich mich schon, aber ich hätte dann das „neue Nashorn“ als unabänderbar hingenommen und nicht an neuen Fehlern gearbeitet. Jeder Mensch hat Fehler, egal, wie er ist; jeder Mensch macht Fehler, egal, was er versucht; aber ein Mensch, der anderen die Verantwortung für Veränderungen zuschiebt, wird an den Fehlern nicht arbeiten. Ich lernte im Gefängnis eine wichtige Lektion, von der ich heute noch zehre: Jeder Mensch muss seine Fehler selbst erkennen und an ihnen arbeiten. Heute bin ich ein zufriedener Mensch, ich lebe mit Maria in einer glücklichen Beziehung, ich habe alte Freundschaften wieder aufgenommen und das Wichtigste: Ich habe mich pensionieren lassen, da meine Firma ein Nashorn brauchte, was ich nicht mehr sein konnte.
Ich sprach mit Hennike über meine Erkenntnis, teilte ihm alles mit, was ich hier, in diesem Besuchsraum festgestellt hatte. Hennike hörte zu und rauchte, ab und zu nickte er. Je länger ich sprach, desto entspannter wurde er. Seine Hände, die zuvor noch leicht gezittert hatten, lagen nun stoisch ruhig auf seinen Knien, die Asche seiner Zigarette fiel unbeachtet auf den Boden.
Die dreißig Minuten waren fast vorüber. Ich stand auf und reichte ihm die Hand zum Abschied. Guido Hennike blickte mich an, wir waren uns einig. Er hatte seine Schuld abbezahlt, indem er hier festsaß, obwohl er mich nicht mehr hasste. Ich hatte meine Schuld abbezahlt, indem ich ein Mensch geworden war, den er nicht erschießen hätte wollen.
Er stand auf und ließ sich von den zwei Beamten in seine Zelle führen.
Kurz bevor er aus dem Zimmer verschwand, rief ich ihm nach: „Und danke, dass du vorher nicht geübt hast.“
Er drehte sich um.
„Was geübt?“
„Schießen.“

Maria wartete im Wagen auf mich. „Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?“
Ich nickte.
„Und?“
Ich dachte nach. „Man kann sein Leben immer ändern, unabhängig von den äußeren Umständen.“
Sie drehte ihren Kopf zur Seite und sah mich mit ihren intensiven graugrünen Augen an. „Vor zwei Monaten, als wir uns das erste Mal wirklich in die Augen geblickt haben“
„Ja?“
„Damals habe ich dir das schon gesagt.“
Ich schloss die Augen und lehnte mich zurück.
„Fahren wir nach Hause.“
Ich lächelte.

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#2

Das Nashorn

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 13.08.2005 18:28
von sEweil (gelöscht)
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Hallo Roderich.

Vorab: du musst entschuldigen, aber nach dieser moldawischen Geburtstagsparty für den kleinen 2 jährigen Vadim bin ich angesoffen - und das seit 13:30.
(die Moldawen können feiern, ich sags dir.)

Zu deinem, langen, Text.
Irgendwo ist mir mal ein Gramatik oder Rechtschreibfehler aufgefallen aber in meinem Zustand kann ich dir das jetzt nicht mehr sagen.

Ich will, so gemein wie ich bin, meine Meinung erst zum Schluss kundtun.

Du, oh du, mein Roderich, beschreibst hier ein Thema, das schon sehr oft in der Literatur behandelt wurde.
Ein Mensch, vorerst mit seinem Leben zufrieden, wird durch eine Tat, eine ausergewöhnliche Situation zum Nachdenken angeregt und überdenkt sein Leben danach.

Ich war wohl weggetreten und hab mir keinerlei Gedanken über den Titel gemacht, beim Lesen, verdammtes Busfahren, war auch gut so.
Der Manager mit seinem Spitznamen gefällt mir, der Anfang ist toll gemacht, der selbstbewusste, starke Typ Mann, der voll in seine Rolle passt.

Der Bruch, bis zu dem Attentat und dann dem Krankenhausaufenthalt ist gut gemacht. Kurze Einleitung zum wirklich wichtigen.
Vor allem der Grund für seine Überlegungen wird erläutert. Nicht nur die viele Zeit die er nun hat, sondern auch diese Frau, die ihn von Anfang an fasziniert. Gerade hier glänzt der Text durch die vielen Fragen, die er an sich selbst richtet, sich zur Rede stellt und die Antworten sucht und findet.
Das sind philosophische Dinge, über die man nachgedacht zu haben glaubt, die du aber gekonnt sprachlich umsetzt. Ich als Leser habe erst durchs Lesen gesehen, dass ich nicht so gründlich, wie ich glaubte, darüber nachgedacht habe.
Und gerade darin seh ich den großen Pluspunkt. Diese Fragen die er sich stellt kratzen nicht nur an der oberfläche, wie man es sonst davon gewohnt ist, sie gehen tiefer hinein.

Dann kommt das Gespräch mit dem Attentäter, finde ich genauso toll, sogar besser, ein grandioser Abschluss, als die Beiden so miteinander reden.
Ich bin durch und durch überwältigt. Der Schluss: Ich dachte nach. „Man kann sein Leben immer ändern, unabhängig von den äußeren Umständen.“
Sie drehte ihren Kopf zur Seite und sah mich mit ihren intensiven graugrünen Augen an. „Vor zwei Monaten, als wir uns das erste Mal wirklich in die Augen geblickt haben“
„Ja?“
„Damals habe ich dir das schon gesagt.“
Ich schloss die Augen und lehnte mich zurück.
„Fahren wir nach Hause.“
Ich lächelte.


Es genügt nicht, wenn dir jemand sagt, dass du es kannst, dass du dein Leben ändern kannst, du musst es erst für dich selbst herausfinden - das hat das Nashorn auch gemacht, indem er mit dem Inhaftierten gesprochen hat.

Toll, gefällt mir.
Sprachlich sehr schön gemacht, ich könnte nichts schlelchtes darüber sagen, auch wenn ich wöllte.
So, das hab ich in meinem Rausch zusammengebracht, verdammte Moldawische Feiern.

Lg sEweil.

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#3

Das Nashorn

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 13.08.2005 18:46
von Roderich (gelöscht)
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Hallo sEweil,

ein Riesendankeschön, weil du dich erstens so tapfer durch meine doch etwas lange Erzählung gekämpft hast, zweitens trotz angeschlagener Form eine Kritik zu meinem Werkl geschrieben hast und drittens dir das Werkl auch noch gefällt.

Ich bin viele Stunden daran gesessen, habe geschwitzt und geblutet (okay, okay, das ist vielleicht ein wenig übertrieben, aber aufwändig war das schon), insofern freut es mich umso mehr, wenn das nicht nur Beschäftigungstherapie war.

Angefangen hat alles mit dem kleinen Satz: Man nannte mich "das Nashorn". Dann war für ein paar Wochen Funkstille. Irgendwann habe ich diesen Satz wieder mal hervorgekramt und versucht, dem Nashorn Leben einzuhauchen. Ich habe selbst nicht gewusst, welche Richtung das nehmen wird, es hat sich alles irgendwie ergeben. Wenn damit auch noch philosophische Neigungen befriedigt werden, ist das erstaunlich, aber auch sehr erfreulich.

Noch einmal vielen Dank - und hoffentlich gefällt dir die Erzählung im nüchternen Zustand auch noch.

Grüße

Thomas

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#4

Das Nashorn

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 13.08.2005 18:48
von sEweil (gelöscht)
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Natürlich!
Schliesslich habe ich sie nüchtern gelesen.

Lg sEweil.

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#5

Das Nashorn

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 13.08.2005 18:54
von Roderich (gelöscht)
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Na, dann freut es mich umso mehr.

Grüße

Thomas

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