#1

Ankerstein

in Düsteres und Trübsinniges 27.12.2005 14:50
von Don Carvalho • Mitglied | 1.880 Beiträge | 1880 Punkte
Ankerstein

Ich webe keine Fäden, sondern Taue -
klebrig, unverwüstlich und verschlingend -
und Festung ist, was ich bevorzugt baue,
Leichtbauweise war mir niemals zwingend.

Mein Denken ist in Ankerstein geschlagen,
zieht mich auf den dunklen Meeresboden
zu all den unbeantworteten Fragen
früherer Schlechtwetterperioden.

Den Wölfen mein Stück Fleisch sei hingeworfen,
Krähen picken meine Welt hinfort
und treiben mich zu einer streng amorphen -
glückverheißend letzter Zufluchtsort.

(c) Don Carvalho
-Dezember 2005

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#2

Ankerstein

in Düsteres und Trübsinniges 28.12.2005 15:23
von Ulli Nois | 554 Beiträge | 554 Punkte
Verehrter Don,

es ist ein schwerer Wein, den du uns hier kredenzt, aber er hat einen beeindruckenden Geschmack und eine nachhaltige Blume.

Ohne in die Feinheiten des Metrums einsteigen zu wollen (das können andere besser und du selbst outest dich ja mit diesem Werk wieder einmal als raffinierter Architekt), ist auch mir der Wechsel von Jamben und Trochäen nicht entgangen, was ja bedeutet, dass sich zwei Verse jeweils als ein Langvers lesen lassen, um in deinem Bild zu bleiben: als langes Tau, was der ganzen Konstruktion etwas dem Inhalt gemäßes Festes und Wuchtiges gibt.

Dass Taue klebrig sind, erscheint mir ungewöhnlich, aber durchaus vorstellbar. Ich sehe "dein" Denkgebäude als vielfach vertaute und verleimte, in Stein geschlagene Festung vor mir, die "dich" hinunterzieht. Ich nehme an, es gibt einen speziellen Stein, der früher für Anker verwendet wurde (ich kenne nur metallene Anker), aber selbst wenn nicht, finde ich das Bild des in die Tiefe strebenden Denkens überzeugend, frage mich aber sofort - findet es dort Grund? Kann es dort ankern?

Die Frage läßt du offen. Stattdessen kommt ein ziemlich abrupter Wechsel zu dem Restproblem jeglichen Denkens, dem Fleisch. Dessen entledigt sich das Ich, indem es es den Wölfen und Krähen hinwirfst. Diesen Übergang finde ich problematisch, da die Krähen am Ende das Ich in eine amorphe Welt treiben, die irgendwie einen Anschluß herstellt zu der Ankersteinwelt, aber auch nur irgendwie. Neben dem unschönen "hinfort" liest sich auch der Übergang von der vorletzten in die letzte Zeile nicht gerade fließend. Hier erfährt der Leser, dass es für das schwermütige Ich vielleicht doch einen glücklichen Ankerplatz gibt, aber wie gesagt, der Bogen zu den ersten beiden Strophen, die in sich geschlossen sind, stellt sich schwer her.

Da ich die ersten beiden Strophen in ihrer Kompaktheit stimmig und gelungen finde, und weil die Weihnachtszeit noch nicht vorbei ist, wünsche ich mir ein Ende, das an die Anker- und Meeresbodenmetaphorik anschließt. Möglich wäre es natürlich, das Gedicht mit dem in der deutschen Lyrik sicher einmaligen Wort "Schlechtwetterperioden" enden zu lassen, denn die lassen der Fantasie viel Raum.

Angesichts von "Holger" werde ich deinen Zeilen in den nächsten Tagen weiter nachdenken.

Yours, Ulli

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#3

Ankerstein

in Düsteres und Trübsinniges 29.12.2005 10:31
von GerateWohl • Mitglied | 2.015 Beiträge | 2015 Punkte
Hallo Don,

ja, ein schwerer Tobak ist das.
Erstmal fällt mir formal auf, dass Du jüngst einen Faible für's Klebrige hast.
In der ersten Zeile stört mich gleich eine Kleinigkeit. Ich weiß genauso wie Du, wie gerne in Gedichten "gewoben" wird. Ich hab auch schon mal gewoben. Weben ist doch so ein schönes Wort für den geduldigen Schöpfungsprozess. Aber gewebt werden Stoffe oder Teppiche, ggf. noch Spinnennetze. Fäden werden gesponnen und Taue geseilt oder gedreht.
Aber da das Weben in Gedichten ja lediglich eine Metapher für's Erschaffen ist, kann man das ja für alles nehmen.
Entschuldige, dass Du das jetzt abbekommst, aber ich habe in letzter Zeit so viele Gedichte gelesen, in denen irgendwas gewoben wurde, dass ich da etwas übersättigt bin.
Zum Inhalt: Festgemeißeltes Denken läßt viele Fragen unbeantwortet, da die Welt nun mal nicht so einfach ist. Aber di8eser feste Grundstein ist so solide, dass die offenen Fragen verdrängt werden. Doch liegen sie wie ein großer Stein im Magen. In der letzten Strophe öffnet sich das Ich und reisst seine festen Mauern ein, was es als glückverheißend empfindet.
Ob des optimistischen Endes hätte ich das Stück gar nicht unbedingt unter Düsterem und Trübsinnigem vermutet.
Du hast wiedermal, wie so oft, eine sehr kraftvolle, deftige Sprache verwendet (verschlingend, geschlagen, hingeworfen etc.). Das hat wirklich was, aber ich muss mich stets erstmal bemühen, da hindurch zu sehen.
Du hast, abgesehen vom Weben, schöne Wortkonstruktionen und auch Reime. Warum die amorphe Welt ebenso wie die in Stein geschlagene so streng sein muss weiß ich zwar nicht, aber das spiegelt vielleicht die Eigenart des Ich, alles stets Streng zu betrachten. In der Hinsicht tritt also in der letzten Strophe keine Änderung ein.

Ich hoffe, ich liege mit meiner Interpretation nicht völlig falsch. Gefällt mir jedenfalls ganz gut.

Schöne Grüße,
GW

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#4

Ankerstein

in Düsteres und Trübsinniges 30.12.2005 14:59
von Knud_Knudsen • Mitglied | 994 Beiträge | 994 Punkte
Hi Don,
zuerst einmal kann ich Dich beruhigen. Die Vorläufer der modernen Anker waren Ankersteine und früher hat man Taue mit Pech imprägniert und sie waren klebrig.
Gratulation, ein sehr interessantes Gedicht. Ich meine auch Deinen Wechsel zwischen dem Medium Wasser und Luft, (Anker und Wolf bzw. Krähe) nachvollziehen zu können. Im Wasser strebt Dein Denken dem Meeresgrund (als Ankerstein) zu auf dem Du alle Fragen und ungelösten
Probleme siehst. Die Krähen und Wölfe sollen Dein Fleisch (das lyr. Ich) zu anderen ,glückverheissenden Welten (letzter Zufluchtsort) tragen.
Auch wenn mir der Übergang St 3 /Z 4-5 nicht so ganz gefällt, hat mir das Gedicht sehr gefallen.
Gern gelesen grosser Meister
Gruss
Knud

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#5

Ankerstein

in Düsteres und Trübsinniges 02.01.2006 20:00
von Don Carvalho • Mitglied | 1.880 Beiträge | 1880 Punkte
Hallo Ihr Drei,

mich hat es gefreut, dass einiges von dem, was ich rüberbringen wollte, auch angekommen ist. Die Kritik allerdings trifft die Sache ebenso und leider sehr unangenehm auf den Punkt.

Auch wenn Knud den Wechsel von Geist zu Körper mitgegangen ist, ist der Bruch zwischen den ersten beiden Strophen und der letzten dennoch spürbar. Ich hatte sogar kurz überlegt, Ullis Vorschlag aufzugreifen und die letzte Strophe einfach wegzulassen, allerdings fehlt dann doch ein Ende mit einem Ausweg für das lyrIch... Irgendetwas muss dann doch her, vielleicht modifiziere ich die letzte Strophe einfach und werfe den Haien mein Stück Fleisch hin. Jetzt bin ich hin und her gerissen, mal sehen ob da jetzt noch was sinnvolles bei mir herauskommt .

Genauso treffsicher war Geratewohl hinsichtlich des Webens. Mist, das ist echt ausgelutscht, mein letztes Weben in einem anderen Gedicht ist noch gar nicht lange her. Wie gut, dass hier andere noch mal draufgucken, so manches scheine ich gar nicht mehr wahrzunehmen. Insofern nicht schlimm, dass ich es jetzt abbekomme, GW, ich bin wohl betriebsblind geworden.

Inhaltlich sehe ich die Zeilen übrigens lange nicht so optimistisch, denn die Lösung für das das lyrIch in die Tiefe ziehende Denken ist nach meinem Verständnis, sich einfach in die Tiefe ziehen zu lassen und aufzugeben. Dem Geist folgt der Körper (wie Knud schon meinte) in der Hoffnung, endlich Frieden zu finden. Und auf Ullis Frage, was es dort unten findet: in meinen Augen eben keine Antworten auf all die Fragen, die das lyrIch in Zeiten, in denen es ihm schlecht geht, heimsuchen, sondern allenfalls weitere Fragen. Aber das ist natürlich nur meine Sicht der Dinge, das man das alles auch anders verstehen kann, ist nachvollziehbar und gut, so kann jeder sich das Seine herausziehen.

Auf jeden Fall vielen Dank für Eure Kritiken, die sehr hilfreich waren. Und natürlich freut es mich, dass es auch ein wenig gefallen konnte trotz der Problemzonen !

Don

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#6

Ankerstein

in Düsteres und Trübsinniges 03.01.2006 10:40
von GerateWohl • Mitglied | 2.015 Beiträge | 2015 Punkte
Hallo Don,

ich habe auch nicht erwartet, dass das lyrische Ich in seiner amorphen Welt seine Fragen beantwortet kriegt, sondern, dass es durch die amorphe Sicht sich mit der Unlösbarkeit der Fragen abfindet und es damit seinen Glückverkeißenden Frieden findet, sich einfach entkrampft. Aber das ist vielleicht doch in Anbetracht der sich aufgebenden ersten Verse der letzten Strophe etwas sehr optimistisch von mir.

Grüße
GerateWohl

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