#1

Übergang

in Mythologisches und Religiöses 07.01.2006 19:45
von Roderich (gelöscht)
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Übergang


Die Wüstensonne brennt auf meinen dürren Rumpf,
ich schneide meine Straße durch die Hitzebrocken.
Erinnerung ist bloß ein tiefer, schwarzer Sumpf
verlor’ner Tage, nur ein paar Gedankenflocken.
Doch dann, inmitten all der gelben Einsamkeit,
ein Schienenstrang, der mir die wüste Welt entzweit.

Verwirrt verweil’ ich an dem Strang aus blankem Stahl
und sehe in der Ferne schon ein helles Blitzen.
Wie kommt es, dass in diesem Raum, so öd und kahl,
ein Zug sich kämpft wie Wasser durch verdorrte Ritzen?
Es dampft der Zug heran, stößt weiße Wolken aus,
bleibt stehen, und ein Kind blickt aus dem Führerhaus.

„So komm“, sagt es, „und nimm den komfortablen Zug.
Du hast es dir wohl sehr verdient, ich seh’ dich schwitzen.
Die Wägen sind gekühlt. Es wäre von dir klug,
nun einzusteigen, Platz zu nehmen auf den Sitzen.
Die Wüste, die du siehst, ist nur ein kleines Stück
von allen Wüsten. Sie durchwandern bringt kein Glück.“

Meine Augen schmerzen von dem vielen Sande sehr.
Dann seh’ ich Farben, Wasser, Knochen, tote Gleise
und höre irres Lachen, Flüstern – komm schon her.
Ich stürze kraftlos auf den Boden, röchle leise.
Ein Lächeln seh’ ich auf des Kindes kleinen Mund.
„Was ist“, fragt’s, „willst du weiter leiden wie ein Hund?“

So liege ich im Staub und winde mich darin.
Es ziehen Bilder meines jämmerlichen Lebens
an mir vorüber. Frage mich nach all dem Sinn
desselben oder mühte ich mich doch vergebens?
Die Plagen, die wir auf uns nehmen, jeder Schritt
zu neuen Taten, wozu machen wir das mit?

Es wäre doch verlockend, einmal nichts zu tun,
die Füße hoch zu lagern, sich in Schlaf zu hüllen,
und statt all der Mühen einfach auszuruh’n.
Doch könnt’ ich damit wirklich meine Tage füllen?
Mit allerletzter Kraft gelingt es flüsternd mir
zum Kind zu sagen: „Fahr du los, ich bleibe hier.“

Der Zug entschwindet, wird zum Punkt am Horizont.
Ich atme durch, bereite mich zum Weitergehen,
da raunt das Kind: „Ich hätte so was nicht gekonnt.“
Es steht mir gegenüber. „Kannst du nicht verstehen?
Beschwerlich ist der Weg, der zur Erlösung führt,
und tief im Innern hast du das genau gespürt.“

Das Kind ergreift nun meine heiße Hand.
“So komm, ich führ’ dich in ein bess’res Land.“

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#2

Übergang

in Mythologisches und Religiöses 08.01.2006 16:38
von Mattes | 1.141 Beiträge | 1141 Punkte
Hi Rod!

Schön. Schöne Geschichte, gut gewürzt mit wörtlicher Rede und anderen Zutaten. Zumeist metrisch sicher und auch syntaktisch in Ordnung. Ein paar verzeihliche Holperer und für meinen Geschmack überflüssige Elisionen, da du dir doch - mit Recht - viel Raum genommen hast. Das Reimschema hält einen bei der Stange, ich halte das für eine gute Idee, die Kreuzreimstrophen mit einem Paareim abzuschließen. Du wirkst dem Leiernden entgegen und nimmst gleichzeitig jeweils Schwung für die nächste Strophe. Die relative Länge des Gedichtes empfinde ich als angenehm, da du die Geschichte ja auch ausschmückst und die Versuchung des lyrI weidlich ausgekostet wird.

Die Entscheidung des lyrI ist nicht ganz transparent, du hast mehr Wert auf anderes gelegt, in Ordnung. Die Wendung am Schluss ist nett, dass das Kind ausgestiegen ist und das lyrI für seine Standhaftigkeit belohnt. Gefällt mir.

DG
Mattes

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#3

Übergang

in Mythologisches und Religiöses 09.01.2006 00:24
von Roderich (gelöscht)
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Hallo Mattes,

ich danke dir vielmals fürs Lesen und Kommentieren und bin ganz aus dem Häuschen, dass es dir gefällt. Deine Meinung hat Gewicht für mich.

Was die Entscheidung betrifft, so habe ich ursprünglich eine halbe Strophe dafür angedacht, aber gleich gesehen, dass das nicht verwirklichbar ist. So zieht sich die Entscheidung nun eigentlich über zwei ganze Strophen hin, obwohl viel in den allgemeinen Überlegungen zu der Versuchung steckt und der Entscheidungsprozess an sich wahrscheinlich wirklich nicht so ganz transparent ist, wie du schreibst. Aber ich denke, dass die Botschaft trotzdem (oder auch deswegen) ganz gut rüberkommt. Freut mich jedenfalls sehr, dass du so positive Worte zu dem Gedicht gefunden hast.

Grüße

Thomas

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