#1

Haltlos

in Philosophisches und Grübeleien 30.04.2006 14:01
von Ulli Nois | 554 Beiträge | 554 Punkte
Haltlos

Manchmal
noch während wir miteinander reden
beginnen die Worte zu fließen
dein Name flattert im Wind
dein sorgfältig modelliertes Gesicht
zerbröckelt unter der Sonne

Alles was ich von dir gedacht habe
meine zum Streicheln erhobene Hand
alles was ich über dich gesagt habe
meine zum Schlag erhobene Hand
schwebt körperlos im Raum

Meistens
noch während wir miteinander reden
reiße ich mich wieder zusammen
stecke dein Bild in den Rahmen
rufe laut deinen Namen
und greife beherzt in den Fluß

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#2

Haltlos

in Philosophisches und Grübeleien 30.04.2006 14:43
von Maya (gelöscht)
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Hi Ulli,

mit dem Gedicht hast Du bei mir einen Volltreffer gelandet.

Mir gefällt, wie Du mit dem „Fließenden“ und „Schwebenden“ spielst. In der ersten Strophe beziehst Du Dich noch auf beides (die Worte fließen, der Name flattert (davon)), während in den folgenden nur eines der Elemente angesprochen wird.

Besonders gelungen finde ich, wie Du die Gedanken der ersten Strophe in der dritten wieder aufgreifst – und sie ummodellierst.
Das Ich wehrt sich gegen das Zerfließen des Du’s, das ihm unter den Händen wegzubröckeln droht - es will diesen Verlust nicht zulassen, greift ein, um das Du zu halten, indem es beherzt in den Fluss greift (Wortfluss), um zu retten, was noch zu retten ist und das Du wieder in den Bilderrahmen zu stecken.
So jedenfalls habe ich es verstanden…Es geht im Gedicht um die Sprache an sich, um das Bemühen, die richtigen Worte zu ergreifen...

Mag ich! Punkt (wo issa denn nur?) Ach, da: .

LG, yam

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#3

Haltlos

in Philosophisches und Grübeleien 30.04.2006 15:46
von Krabü2 (gelöscht)
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Hi Ulli,
ja, gelungen ist das. Ich lese Lösung ad 1, ad 2, ad 3.
Lösung im Sinne von Loslassen, Lösung im Sinne des Verarbeitens/Überdenkens und Lösung in Ab-Lösung.
Reiche Bilder hast Du, allein die Verben:
Beginnen, flattern, zerbröckeln..
Das Streicheln, Schlagen.. bis Schweben
(zusammen)reißen, stecken, rufen, greifen
sagen mir sehr zu.
Und das 'Wie-man-etwas-handhabt'.
Keine Ahnung, welche Motivation dahinter steckt...
habe ich den Text genossen.
LG - Uschi

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#4

Haltlos

in Philosophisches und Grübeleien 04.05.2006 14:53
von Ulli Nois | 554 Beiträge | 554 Punkte
Hi Yam, hallo Uschi,

Sorry, dass ich jetzt erst antworte,

eure Deutungen treffen ganz gut, was ich meinte. Doch geht es mir nicht nur um die Sprache an sich, sondern um Wahrnehmung überhaupt. Um die Momente, wo das Ich sich auflöst, wo Urteile aufhören, Sprache und Bilder aussetzen. Die ganze Modelliermasse Welt bricht einfach in sich zusammen. Kennt ihr das auch?

Das dann einsetzende freie Schweben, eine Sprach- und manchmal sogar Bildlosigkeit, ist natürlich keine Lösung für das Ich. Es kehrt ja wieder. "Bildet" sich neu. Denkt und redet sich wieder in seinen Rausch hinein ... (so wie "ich" jetzt)

Um diese Irrtümer zu wissen und sie trotzdem begehen zu müssen, braucht es Mut. Das etwa wollte ich mit diesem Gedicht sagen...

Danke fürs Mit- und Nachdenken.

Liebe Grüße, Ulli

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#5

Haltlos

in Philosophisches und Grübeleien 04.05.2006 15:21
von Krabü2 (gelöscht)
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Hi Ulli,
ich hab mir bei meiner Antwort auch die Frage gestellt: Was ist denn das Ich? Gibt's das in der Tiefe? Ist das nicht auch nur ein Konstrukt? Wollen - gibt es einen freien Willen? Achje - könnte schon wieder Abende füllen, das Alles. Von daher steht's hier natürlich auch richtig.
Richtig - was ist richtig??? Ne - ich hör auf jetzt... :-))
LG Uschi

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#6

Haltlos

in Philosophisches und Grübeleien 04.05.2006 18:48
von Wilhelm Pfusch • Administrator | 2.006 Beiträge | 2043 Punkte
Ich bin zwar grad' an den Wettbewerbsgedichten, aber das hindert mich nicht daran ein uneingeschränktes Wohlgefälligkeitsbekunden abzuwerfen

Grüßle,

Willi

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#7

Haltlos

in Philosophisches und Grübeleien 04.05.2006 19:12
von Mattes | 1.141 Beiträge | 1141 Punkte
Normalerweise müssten Juroren ja ein Verbot erhalten, so gute Gedichte während des Jurierens zu lesen.

Dein Gedicht, Ulli, hatte mich zunächst ganz sinnlos eingefangen, weil es mich einfach an-sprach. Ich fand den Titel sehr passend und konnte mich auch so recht an nichts festhalten und hielt das für die Aussage des Gedichtes: das Zerfließen, Zerbröckeln, Zersetzen von Sinn und Sinnzusammenhängen im ALlgemeinen und beim Reden im Besonderen. Zum Ende hin bekommt das lyrI zwar wohl die Kurve, es bleibt aber dennoch ein wenig offen, was wohl nach dem beherzten Zugriff passiert.

Dann las ich die Kommentare und war gleichermaßen erstaunt, wie beschämt und hielt mich für einen oberflächlichen Leser. Wie schön, dass deine Erklärung mich dann ein wenig trösten konnte, dass ich zumindest intuitiv nicht völlig in den Seilen hing.

Ein gelungenes, tiefsinniges Gedicht, das mir gut gefällt. Schön, dass es kein Wettbewerbsbeitrag ist, denn auf diesen Genuss müssen wir wohl noch länger warten.

DG
Mattes

P.S.: In Zeile 3 ist dir für meine Begriffe ein Tippfehler eingeflossen: Worte(n)?

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#8

Haltlos

in Philosophisches und Grübeleien 05.05.2006 07:42
von Maya (gelöscht)
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Zitat:

Um die Momente, wo das Ich sich auflöst, wo Urteile aufhören, Sprache und Bilder aussetzen. Die ganze Modelliermasse Welt bricht einfach in sich zusammen. Kennt ihr das auch?



Na ja, Ulli, bis jetzt ist die Welt zwar öfter mal ins Wanken geraten, aber so extrem...nein. Befürchte aber, dass ich bald weiß, wovon die Rede ist, am
13. 5. wird die Welt untergehen .

Und nun bist Du dran mit Fragenbeantworten...
Ich muss doch noch mal nachhaken…Das Ich und das Du in Deinem Text, sind das in Wirklichkeit beide Male das gleiche Ich in verschiedenen Zuständen (einmal greifbar, einmal haltlos)? In dem Sinne, dass das Ich zunächst im Leben steht, über sein Leben Herr ist (es sogar reflektiert) und im anderen Moment das Chaos od. ähnliches über's Ich hereinbricht und seine Auflösung bedingt/ man verliert kurze Zeit die Übersicht über die Dinge und über sich selbst ( = das Du im Text). Verstehst Du (und da meine ich wirklich Dich ) meine Frage?
Was bzw. wer ist das Du?

LG, yam

@ Mattes:

Der Tippfehler ist schon fast als genial zu bezeichnen, er hätte sich an keiner besseren Stelle einschleichen können:
„beginnen die Worten zu fließen“ – die Worte fliieeeßen tatsächlich


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#9

Haltlos

in Philosophisches und Grübeleien 05.05.2006 09:38
von Mattes | 1.141 Beiträge | 1141 Punkte

Zitat:

yamaha schrieb am 05.05.2006 07:42 Uhr:
„beginnen die Worten zu fließen“ – die Worte fliieeeßen tatsächlich



Daher meine Fragezeichen, es könnte Absicht sein. Nicht, dass mir das gefiele, aber es könnte sein.

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#10

Haltlos

in Philosophisches und Grübeleien 05.05.2006 13:32
von Maya (gelöscht)
avatar
Gefallen würde mir das auch nicht so recht, außer, wenn er noch weitere zerfließende Wörter einbauen und am Höhepunkt des Verfalls einen Begriff so zerbröckeln lassen würde (unchronologisch in seine Buchstaben zerfleddert), dass dieser nicht mehr ohne weiteres identifizierbar wäre...

LG, yam

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#11

Haltlos

in Philosophisches und Grübeleien 05.05.2006 17:54
von kein Name angegeben • ( Gast )
Hallo Ulli.

Einfach gut.

Treffende, dichte Bilder die ein wohlbekanntes Gefühl vermitteln. Ich bin begeistert.
Mehr möchte ich garnicht sagen weil ich es nicht zerreden möchte. Werde es mir mit Deiner Erlaubnis ausdrucken und im Tümpelperlenordner ablegen.

Beste Grüße, Benno

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#12

Haltlos

in Philosophisches und Grübeleien 06.05.2006 17:50
von Ulli Nois | 554 Beiträge | 554 Punkte
Ihr seid zu gütig,

Grobe Schlampigkeit als Beinahe-Genialität auszulegen. Es soll Worte heissen und wird sofort geändert. Die Ich-Auflösung ist so grundlegend, dass man ihr mit zerfließenden Worten nicht gerecht würde.

Deine Frage, Yam, verstehe ich gut. Obwohl ich bei dem "Du" zunächst nicht an das aufgelöste "Ich" gedacht habe, ist diese Deutung nur folgerichtig. Denn wenn die dualistische Struktur zersprengt und kein greifbares Gegen-
über mehr da ist, gibt es auch kein "Hier" mehr, kein benennbares, irgendwie geformtes, re-flektierendes Ich. Du musst aber nicht bis zum 13. warten, um wenigstens einen Ansatz dieser Erfahrung mitzubekommen. Versuche mal abends im Bett (nicht inder Kneipe)den Einschlafmoment des Ichs so lange, wie möglich hinauszuzögern, und du bekommst eine Ahnung von dem, was ich meine...

Einen schönen Gruß aus Bruxelles, ich melde mich bald wieder ausführlicher...

Ulli, die Nois

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#13

Haltlos

in Philosophisches und Grübeleien 16.06.2006 11:27
von Mattes | 1.141 Beiträge | 1141 Punkte

Zitat:

Ulli Nois schrieb am 06.05.2006 17:50 Uhr:
Es soll Worte heissen und wird sofort geändert.


Ich möchte nicht wissen, wann etwas passiert, das du mit "gleich" bezeichnetest.

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#14

Haltlos

in Philosophisches und Grübeleien 16.06.2006 12:03
von Ulli Nois | 554 Beiträge | 554 Punkte
uuups! Das lag wohl am belgischen Internet Oder doch an den Worten, die noch worten wollten...

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