#1

Die Paranoia-Reihe

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 23.06.2006 09:29
von Roderich (gelöscht)
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Hallo,

diese vier Texte habe ich unter den Kurzgeschichten schon jeweils einzeln eingestellt (Link unter den Titeln). Mir geht es nun darum, zu sehen, wie sie zusammen wirken, wie sie als Gesamtwerk wirken. Meinungen und Kritik zu dem Gesamtkonzept der Paranoia-Reihe sind hier erwünscht.

Grüße

Thomas





Paranoia I


Überall siehst du sie stehen – an jeder Ecke, auf jeder Straße, in jedem Gebäude. Schwarz gekleidet, mit der silbernen Marke genau dort, wo Kinder das menschliche Herz vermuten würden. Auf den Schultern das blaue Abzeichen, das sie als Angehörige der New Yorker Polizei deklariert. Woran man sie noch erkennt: An dem wachsamen Blick, der über die Menschenmassen gleitet. Doch wenn du näher kommst, ihnen wirklich tief in die Augen blickst (ohne dabei Verdacht zu erregen – hier ist natürlich Fingerspitzengefühl gefragt), dann glaubst du die Angst zu sehen, die ihre Pupillen flackern lässt. Und du verstehst, dass sie im Grunde harmlos sind – so harmlos wie du es selbst bist. Dabei verlierst du die eigene Angst, die du vor ihnen hattest, bevor du ihnen in die Augen geblickt hast. Und warum hattest du Angst? Wegen der Uniform, wegen der Pistole, die an ihrem Gürtel hängt und – noch mehr als wegen der Uniform und der Pistole zusammen – wegen der schwarzen Hand, die unruhig über dem Griff der Pistole baumelt. Die Finger fleischig wie eine imaginäre Verlängerung der wulstigen Lippen. Ja, du hattest Angst. Obwohl du dir immer noch nicht eingestehen willst, dass es die schwarzen Finger sind, die deine Haltung strammer und zielorientierter machten, in dem Bemühen, unauffällig zu sein, ein Mensch mit Ziel zu sein, kein Herumlungerer, der vielleicht Ärger macht, kein Orientierungsloser, der scheinbar nicht hierher gehört und sich dadurch verdächtig macht kein sprich es aus nenn das kindbeimnamen

Attentäter.

Nein, du bist nur ein harmloser Tourist. Aber wissen auch die das? Was hält sie davon ab, einfach ihre Pistole mit ihren dicken Händen zu ziehen und dir weiß Gott wie viele Löcher in den Leib zu ballern? Du hast die Angst in ihren Augen gesehen und nun bekommst du es selbst wieder mit der Angst zu tun. Deine schöne Conclusio geht den Bach hinunter – sie sind harmlos? Eher ähneln sie tickenden Bomben, die jederzeit bei der kleinsten Erschütterung hochgehen könnten. Und was, wenn du diese kleine Erschütterung auslöst? Unabsichtlich. Einfach, indem du beim Vorbeigehen stolperst und sie rammst. Du siehst ein wenig arabisch aus, das weißt du. Das kann unter Umständen genügen. Schwarze, zitternde Männer mit Pistolen. Und du. Dann ziehen sie ihre Pistole, schreien dich an, in dem kläglichen Bemühen, zu überdecken, dass sie sich selbst fast in die Hose scheißen. Und du. Tust nichts. Dennoch – sie werden lauter, werfen dich zu Boden. Weil du – weil du was? Gestolpert bist? Mach dich nicht lächerlich. Ja, sie haben Angst, aber nicht vor dir. Beruhige dich, geh weiter. Blick ihnen nicht mehr in die Augen. Dort siehst du nur das, was du ohnehin schon aus dem Spiegel kennst. Im Westen nichts Neues.

Und dann hörst du irgendwann im Radio oder im Fernsehen von diesem Polizisten, der angefangen hat, Bomben zu legen. Du bist gerade beim Rasieren, legst den Rasierapparat weg, drehst den Fernseher lauter. Ein Polizist, der Bomben legt? Du hast dich wohl verhört. Doch die Nachrichtensprecherin wiederholt es. Ein Polizist, der Bomben legt. Die Attentate im Rockefeller Center, im Trump Tower, im Chrysler Building. Insgesamt zwölf Tote. (Nicht mehr?) Kleine Bomben. Hinterhältig in Mülleimern deponiert. Natürlich Osama zugeschrieben. Es ist immer Osama. Und immer ist er es persönlich. Nur er. Er ganz allein. Wenn die Angst deine Kehle zuschnürt, du keine Luft mehr bekommst oder schweißgebadet in der Nacht aus einem Alptraum erwachst – dann war es Osama. Doch nun ist dieser Polizist geständig. Osama war es nicht. (Dieses Mal.) Sondern einer, der für Recht und Ordnung auf New Yorks Straßen sorgen soll. Und das auch unzählige Male getan hat. Nur, warum legt so einer Bomben? Die Nachrichtensprecherin rollt mit Genuss die Hintergründe auf – eine Sensation liegt in der Luft, die zelebriert werden muss, zumindest von den Medien. Der Polizist hat als Begründung angegeben: Damit wir nicht von Geistern getötet werden. Um eine reale, greifbare Bedrohung zu schaffen. Um dieses Flackern aus den Augen der Polizisten zu bekommen. Um den nervös zuckenden Händen wirklich einmal handeln zu lassen. Sonst zucken sie irgendwann im völlig falschen Zeitpunkt und ein Kind oder ein Rollstuhlfahrer oder sonst wer liegt blutüberströmt am Boden. So etwas soll ja vorkommen, wenn die Nerven blank liegen.

Du verstehst, was der Polizist meint. Du hast das Flackern in den Augen gesehen. Dieses Flackern, das nur dann greifbar wird, wenn man mit einer Katastrophe rechnet, die nicht und nicht eintritt. Jede Sekunde kann den Weltuntergang bringen und doch nimmt alles seinen gewohnten Gang. Touristen machen Fotos, Angestellte hetzen zur Arbeit, Senioren gehen mit ihren Hunden Gassi, Müttern zerren ihre plärrenden Kinder hinter sich nach, Straßenkünstler malen karikierte Bilder berühmter Persönlichkeiten oder spielen bekannte Countrysongs, alles wie gehabt. Niemand kümmert sich um Osama, wenn er seinen Hot Dog kauft. Osama kommt nur dann ins Gedächtnis, wenn man schlecht schläft. Oder eben eine scheinbar unbegründete Panikattacke erleidet. Dann ist er wieder da, grinst einen an und im Kopf hört man das Ticken der Bomben. Aber für die Polizisten ist Osama immer hier, an jeder Ecke, in jeder Person. Und wie er sich verkleiden kann! Dieses blonde Flittchen an der Ecke: Osama. Die alte Großmutter, die am Union Square Gospels singt: Osama. Das kleine Mädchen, das ihr einen Quarter in den Koffer wirft: Osama. Der Broker, der von der Wall Street nach Hause läuft: Osama. Und doch passiert nichts. Bis endlich einmal ein Polizist die Dinge in die eigene Hand nimmt und ein paar Bomben legt. Nichts Großes, keinesfalls vergleichbar mit dem World Trade Center. Aber es reicht aus, um Polizisten geschäftig hin und her hetzen zu lassen. Um ihren unruhigen Händen Arbeit zu geben. Die Bomben sind wirklich, sie existieren nicht nur in unserem Kopf. Da – wieder eine explodiert. Osama natürlich. Der Dreckskerl, den kriegen wir schon noch. Glaub nicht, du kannst dich mit uns anlegen!

Du schaltest den Fernseher ab. Und wer soll nun die Bomben legen? Oder sind gar keine Bomben mehr notwendig? Wie sieht es aus mit der Moral? Ist es noch da, dieses Flackern in den Augen der Polizisten? Das Zucken der Hände über den Pistolen? Beginnt alles wieder von vorne?

Sind keine Bomben mehr notwendig?

Wohin sind wir gelangt? Dieser Weg aus Asche und Verwüstung, den wir gegangen sind – wohin hat er uns geführt? Du fragst dich, was schief gelaufen ist, dass du selbst einmal denken kannst, dass Bomben notwendig sind. Gerade du, der Pazifist. Der jede Fliege, die sich ins Zimmer verirrt hat, zu retten versucht. Du schüttelst den Kopf. Die Welt geht zum Teufel. Wegen Osama. Natürlich wegen Osama. Wer sonst?

Übrigens: Der Bomben legende Polizist – er war weiß.

Jetzt musst du die Weißen auch noch fürchten. Schließ dich im Zimmer ein. Geh nicht mehr hinaus. Und falls es hart auf hart kommen sollte, hast du immer noch die Rasierklinge.




Paranoia II


Ein wenig verwirrt steht er am Flughafen, die Griffe seiner Koffer fest umklammert, so dass die Knöcheln weiß hervortreten, den Blick hat er suchend auf die vielen Glastüren gerichtet, die sich ihm anbieten. Er entscheidet sich für eine Tür in seiner Nähe und tritt hinaus in den Wind, in die Kälte, auf die Straße, nach New York.
Rasch hat er das System durchschaut – anstellen, wo die meisten Menschen stehen, warten, bis einer der freundlichen Helfer ein Taxi zugewiesen hat, hinten einsteigen (alle setzen sich auf die Rückbank, niemand vorne zum Fahrer), Ziel nennen. Als er selbst an der Reihe ist, entdeckt er sofort, dass der Fahrer, der ihm zugewiesen wurde, Moslem ist. Turban, wallender schwarzer Bart, dunkle Haut. Für einen kurzen Augenblick ist er ein wenig besorgt. Nine eleven. Wie von Geisterhand in sein Bewusstsein gebracht. Nine eleven. Nine eleven. Und dann die Erinnerung an brennende dänische Botschaften. Wütende Moslems, die Fahnen westlicher Länder verbrennen.
Du Narr, schilt er sich, versucht, die Bilder aus seinem Kopf zu bekommen. Wie war das mit den Stammtischrunden, bei denen er sich immer lautstark und vehement für Toleranz und Gleichberechtigung eingesetzt hat, gegen seine besten Freunde, alles nationalistische Sturköpfe? Hat er sich nicht immer überlegen gefühlt dank der Bildung, die er genossen hat? Von sich geglaubt, vorurteilsfrei seine Meinung über andere Menschen bilden zu können? Und nun sitzt er hier, in diesem gelben, schmutzigen Taxi, vor sich einen armen Schlucker, der vermutlich durch das Taxi fahren kaum genug Geld verdient, um seine drei, vier Kinder über die Runden bringen zu können, der freundlich lächelt und auf weitere Instruktionen wartet. Er sitzt hier und verdächtigt diesen Taxifahrer nur aufgrund seines Turbans, seines Bartes, seiner dunkleren Haut, ein Terrorist zu sein.
Er schüttelt den Kopf, schämt sich, versucht es sich nicht anmerken zu lassen. Er nennt sein Ziel, Midtown Manhattan, korrekte Straßenbezeichnung, vollständige Adresse, doch er spricht zu leise und der Taxifahrer muss nachfragen. Ohne dabei auch nur den Bruchteil einer Sekunde das Lächeln zu lassen. Er sammelt sich, schüttelt allen Argwohn von sich ab wie eine lästige Katze, die ihm auf dem Buckel sitzt, nennt sein Ziel mit lauter Stimme – übrigens eine sehr schöne, tiefe, feste Stimme, ein lupenreiner Bariton – und, als Kompensation für seine eigenen Vorurteile, als Wiedergutmachung für etwas, wovon der Fahrer als Opfer nichts weiß, beginnt er mit dem Taxifahrer zu plaudern. Zunächst die allgemeinen, belanglosen Dinge. Wie ist der Verkehr heute? Wie lange werden wir brauchen? War es die letzten Tage auch schon so kalt? Was muss man in New York unbedingt gesehen haben?
Irgendwann, irgendwo in Queens auf einer verstopften Straße, auf der kein Vorwärtskommen ist, wird das Gespräch persönlicher. „Wie lange leben Sie schon in den Staaten?“ „Ich bin hier geboren“ lautet die Antwort. Das Lächeln hat der Fahrer mittlerweile aufgegeben, während der Fahrt hat er einen konzentrierten Gesichtsausdruck aufgesetzt, der besser zum Verkehr passt.
„Sie sind also hier geboren – und Ihre Eltern?“
„Meine Familie kommt aus dem Iran. Mein Bruder ist dorthin zurück gegangen, um eine eigene Familie zu gründen.“
„Warum ist er nicht in den Staaten geblieben? Hier lebt es sich doch viel besser als im Iran, nehme ich an.“
„Zu viel Angst.“
Daraufhin schweigen beide. Während der Fahrer konzentriert nach vorne starrt und sein Taxi in halsbrecherischem Zickzack durch die sich nun wieder wogende Straße lenkt, blickt sein Gast aus dem Fenster, lässt Häuser an sich vorüberziehen, andere Autos, Passanten. Nach einer Weile traut er sich dann doch:
„Angst wovor?“
„Vor den Amerikanern, natürlich. Weil sie vor uns Angst haben. Wegen Nine Eleven. Alles ist anders geworden, alles ist viel komplizierter.“
Dann stecken sie wieder im Stau fest und der Fahrer dreht sich um. Seine dunklen Augen blitzen, er holt tief Luft, setzt an:
„Meine Familie lebt hier seit fast vierzig Jahren. Ich bin hier geboren, mein Bruder auch. Mein Vater arbeitete dreißig Jahre für eine Holz verarbeitende Fabrik, ehe er in den Ruhestand ging. Zum Abschied hat ihm der Direktor persönlich die Hand geschüttelt. Mein Vater hat in der Firma etwas bedeutet, er war der Big Man, den alle fragen konnten, wenn sie nicht mehr weiter wussten. Ein bisschen war er wie ein Onkel für alle Mitarbeiter und nie hat sich jemand um seine Hautfarbe oder seine Religion geschert. Am Anfang natürlich schon – als meine Eltern in die Staaten gezogen sind, war das eine kleine Sensation. Die Leute hier waren Moslems nicht gewohnt, aber nach einer gewissen Eingewöhnungszeit ist man miteinander ausgekommen. Doch dann war Nine Eleven. Der Terroranschlag. Und plötzlich waren wir alle Terroristen. Ganz gleich, was wir gesagt haben oder getan haben – alle waren wir direkt oder indirekt mit Osama in Verbindung. Alles Mittelsmänner, alles Selbstmordattentäter. Wir alle – ob nun mein Vater, meine Tochter, Mr. Patel vom Supermarkt in meiner Straße. Ich kann meinen Bruder verstehen, dass er es nicht ausgehalten hat.“
Nach diesen Worten dreht er sich um, die Kolonne setzt sich wieder in Bewegung. Sein Gast grübelt eine Weile über das Gesagte, fragt dann in die Stille:
„Wie sehen Sie die Terrorakte? Ich meine, können Sie verstehen, was die Leute dazu bewegt hat?“
„Ich bin nur ein einfacher Taxifahrer. Ich bin ein gläubiger Mann, ich bete jeden Tag zu Allah, ich besuche die Moschee, so regelmäßig ich kann – aber erwarten Sie nicht, dass ich Seinen Willen immer verstehe. Warum soll es anderen, ja, selbst Osama anders gehen? Osama hat gedacht, er hätte Allah verstanden und deshalb so gehandelt. Doch wer versteht Allah schon wirklich außer Allah selbst?“
„Sie distanzieren sich also nicht von den Anschlägen?“
„Ich distanziere mich von gar nichts, ich fahre nur mein Taxi, das ist alles. Erwarten Sie nicht von mir, dass ich richtig von falsch unterscheiden kann, wenn es um solche Dinge geht. Ich muss nur wissen, wie ich von hier nach dort komme, wo links ist und wo rechts, damit ich mein Taxi richtig steuern kann. Mehr brauche ich nicht. Ich kann nur sagen, dass es schwer geworden ist, seit wir alle in eine Schublade gesteckt werden. Vielleicht hätte ich tatsächlich eines der Flugzeuge gelenkt, wenn ich es gekonnt hätte und wenn mich Osama zu überzeugen versucht hätte. Ich bin ein einfacher Mann, wenn mir jemand die Dinge erklären kann, so dass ich sie verstehe, dann bin ich bereit, ihm zuzuhören. Aber Tatsache ist nun mal, dass ich nie im Leben daran gedacht habe, den Menschen, unter denen ich hier lebe, etwas Böses tun zu wollen. Aber was weiß ich schon?“
Darauf schweigt der Fahrer, alle Versuche, ihn weiter zum Reden zu bringen, scheitern. Er müsse sich nun auf den Verkehr konzentrieren, sagt er. Der Gast lehnt sich nach vorne, umklammert die Rücklehne des Vordersitzes, ist unruhig. Warum hat sich dieser Kerl hier nicht zu einer klaren Aussage gegen den Terrorismus bewegen lassen können? Was soll dieses Gefasel, dass er nur ein einfacher Mann sei und nichts verstehen könne? Warum nicht einfach Schwarz oder Weiß? Warum dieses undefinierbare Grau? Was hat er zu verbergen?
Und mit einem Mal bekommt es der Fahrgast mit der Angst zu tun. Nine Eleven. Nine Eleven. Es könnte auch ein Taxi sein. Natürlich – ein gelbes Taxi. In das Empire State Building. Mitten rein. Im Kofferraum vielleicht Bomben gepackt. Er hat zwar den Kofferraum gesehen, hat selbst seine Koffer hinein gehoben, aber man weiß nie. Unterhalb vielleicht. Ein doppelter Boden. Alles möglich. Diese Burschen sind erfinderisch. Empire State Building. Nine Eleven. Was ist heute für ein Tag? Der Elfte? Unmöglich. Absurd. Das Empire State Building. Na klar, die anderen Türme haben sie ja schon erledigt. Die nächste große Bastion des Kapitalismus. Sein Symbol. Obwohl er kein Amerikaner ist. Nine Eleven. Nine. Wie heute. Turban. Allah. Moslem. Dänemark. Flaggen. Feuer. Bomben. Flugzeug. Taxi. Empire. State. Building. Genau. Hier. Vor. Seinen. Augen.
„Lassen Sie mich hier raus“, ruft er plötzlich.
„Hier?“, ist der Fahrer verwundert. „Das ist nicht die richtige Adresse. Das ist sogar noch ein ziemliches Stück entfernt von der Straße, die Sie mir gesagt haben.“
„Egal, ich will hier raus.“ Er bezahlt den verdutzt blickenden Fahrer, hebt eilig seine Koffer aus dem Auto, stellt sich an den Straßenrand. Ich gehe zu Fuß, denkt er bei sich. Auch, wenn es hundert Blocks sind. Ich gehe zu Fuß. Er sieht das Taxi um die Ecke verschwinden, ist erleichtert. Dennoch halten seine Hände die Koffergriffe dermaßen fest, dass das Weiß der Knöchel hervortritt. Ein paar Blocks vor ihm türmt sich majestätisch das Empire State Building in den Himmel.
Als er ein Flugzeug hört, zuckt er zusammen.




Paranoia III


Sie trat mit schweren Schritten die alte, knarrende Treppe hinauf. Ihre massive Statur machte jeden Schritt zur Qual und sie schnaufte heftig durch die Nase, so dass die beiden Nasenflügeln bebten und summten wie Elektrogeneratoren. Ihre Erscheinung strahlte überdies Energie aus, wuchtig und massiv, die grauen Haare mit einem flammenden Rot übertüncht, grell geschminkt und die Augen jugendlich blitzend.
Mrs. Eleonora McCarthy. Witwe von John Isaac McCarthy, dem Wurstfabrikanten. Glorreiche Vergangenheit, in der sie mit ihrem Mann in Reichtum geschwelgt hatte. In ihrem schönen, geräumigen Penthouse an der Upper West Side. Wie weit lag diese Zeit nun zurück? Wann war der Zeitpunkt gewesen, als John, Gott habe ihn selig, seufzend zu ihr gemeint hatte: „Eli, wir sind pleite.“ Um sich nur Monate später mit einem Herzinfarkt aus dieser widerwärtigen Mittelklasse zu verabschieden? (Die McCarthy’sche Definition von ‚pleite’ ist eine sehr eigene und dehnbare.)
Und nun musste Mrs. Eleonora McCarthy ihre Einkäufe alleine nach Hause schleppen in ihr kleines Apartment in Chelsea. Sie hatte nichts gegen Chelsea an sich, es war eine nette Wohngegend mit einigen schönen Plätzchen. Aber sie war das Leben, das sie nun führen musste, nicht gewöhnt. Das Leben abseits all der schönen Annehmlichkeiten, die man sich nur leisten kann, wenn der Ehemann, Gott habe ihn selig, beispielsweise ein angesehener Wurstfabrikant war. Und so ist in ihr Schnaufen und Keuchen beim Stiegensteigen auch ein wenig Wut und Frustration hineinzuinterpretieren.

Endlich oben, im zweiten Stock, angekommen, schlurfte Mrs. Eleonora McCarthy die letzten Schritte den Gang entlang, dabei hin und her wackelnd wie ein Hochseedampfer. Vor ihrer Tür angekommen, stellte sie die beiden Einkaufssäcke (sie kaufte immer mehr ein, als sie essen konnte) auf den Boden und kramte in ihrer Tasche nach dem Schlüssel. Dabei sah sie es:
Die Tür war offen.
Einen Spaltbreit etwa. Gerade so viel, dass sie nicht an der Türangel anlehnte, sondern leicht durch den durchziehenden Wind bedingt wippte. Einen Moment lang war Eleonora irritiert. Dann lächelte sie, schüttelte den Kopf und dachte bei sich: ‚Törichtes, altes Mädchen. Hast wohl vergessen, abzusperren. An diese Türen werde ich mich wohl nie gewöhnen. In der alten Wohnung sind die Türen immer von selbst ins Schloss gefallen. Aber hier. Was will man auch schon erwarten von einem Apartment in Chelsea!’
Dann bemerkte sie, dass durch den Spalt, den die Türe offen stand, das Vorzimmerlicht durchschimmerte. Und mit einem Male war es vorbei mir ihrer gerade eben wieder gewonnenen Gemütsruhe. Wie konnte das sein? Wenn sie auch vergessen haben sollte, die Türe zuzusperren, das Licht machte sie immer aus, wenn sie ging. Immer.
Die Situation schmeckte ihr nun gar nicht mehr. Ein leises Gefühl von Panik schlich sich von ihrem Bauch in den Hals.
Einbrecher!
In der guten, alten Wohnung in der Upper West Side hatte es immer wieder Einbruchversuche gegeben, die aber allesamt durch die wundervollen Alarmvorrichtungen in die Flucht geschlagen worden waren. Aber hier gab es keine Alarmanlagen. Nichts, was das Apartment vor unberechtigtem Zutritt schützen konnte. Nicht einmal einen Hund hatte sie.
Einbrecher! In ihrer Wohnung!

Sie lehnte sich schwer atmend gegen die kalte Wand neben der Tür. Was tun?
Die Polizei rufen!
Aber wie? Sie hatte kein Handy und bei den Nachbarn wollte sie nicht klingeln. Denn das würde der Einbrecher (oder vielleicht sogar die Einbrecher) sicher hören. Und dann wehe, wenn sie herauskamen ... (Es waren sicher mehrere, mindestens zwei, die arbeiteten doch immer im Team!) Diese Verbrecher würden sie, die arme Eleonora McCarthy, zum Schweigen bringen. Sie sah sich schon blutüberströmt und leblos am Boden liegen.
Aber was konnte sie tun? Was konnte sie ausrichten?
Weg gehen und später noch einmal kommen, in der Hoffnung, dass sich die Einbrecher in der Zwischenzeit aus dem Staub gemacht hatten. Doch was, wenn sie es gerade gemütlich in ihrer Wohnung fanden? Wenn sie vielleicht sogar auf die arme, unschuldige Wohnungsinhaberin warteten, um dann Spielchen mit ihr zu treiben? Diese Menschen waren zu allem fähig!

Und dann vermeinte sie, kalten Atem neben der Tür zu spüren, einen gehässigen Windhauch, der aus der Tür hervorstieß und die Wand entlang kroch, bis er auf ihre Wange stieß.
Sie warten hinter der Tür! Sie lauern! Und wenn ich mich rühre, wenn ich schreie, dann packen sie mich und zerren mich hinein und machen dann Dinge mit mir, bis ich nicht mehr schreien kann bis ich blutüberströmt und leblos am boden liege bis ich tot bin tot bin tot tot tot wie john am boden lag als ich nach hause kam tot so tot und kalt wie john wie john

Der alte Paddy Linegan vom Apartment gegenüber, der mit seinem phlegmatischen Retriever Saint Anton spazieren gegangen war, fand Mrs. Eleonora McCarthy zwei Stunden später in der Embryonalstellung apathisch an der Wand neben ihrer Tür kauern. Neben ihr lagen zwei Einkaufssäcke. Die Tür, die einen Spaltbreit offen stand, wippte im Wind leise auf und zu.
Eleonora McCarthy atmete, reagierte aber nicht auf seine Ansprechversuche. Paddy versuchte, Mrs. McCarthy hochzuheben, stellte aber fest, dass sie zu schwer für ihn war. So nahm er die beiden Einkaufssäcke und trug sie in die Wohnung. Er stellte fest, dass es sehr kühl in der Wohnung war und ein reger Durchzug herrschte. Die Ursache dafür fand er im offenen Küchenfenster, welches er sofort schloss. Er war nicht mehr bei bester Gesundheit, er konnte sich rasch eine Verkühlung einfangen, wenn er nicht aufpasste.
Dann stellte er die Einkaufssäcke auf den Küchentisch und rief die Ambulanz an.




Paranoia IV


Dampfendes Badezimmer. Milchiger Spiegel. Ein dunkler Schatten: Ich.

Später habe ich die Uniform angezogen, den Pistolengürtel umgeschnallt, auch den Schlagstock. Und ich stehe wieder im Badezimmer und blicke in den Spiegel – nun kein dunkler Schatten mehr, sondern klar und deutlich umrissen, fast schon zu deutlich.

Ich möchte mich nicht im Spiegel sehen. Und doch muss ich, denn wie könnte ich mich sonst rasieren? Auch, wenn die Bartstoppeln auf meiner dunklen Haut kaum auffallen.

Gestern wieder ein Mord. Ich war fast die ganze Nacht auf. Habe viel zu wenig geschlafen.

Mit einem Fleischerbeil den Kopf gespalten. So richtig tief rein. Wie viel Wut muss für einen solchen Kraftakt aufgestaut sein?

Ich kann nichts tun. Bin hilflos der Wut der Menschen ausgeliefert. Kann nur die Reste einsammeln. Das bin ich: Ein Sammler von Leichen.

Nur aufpassen, dass ich mich nicht schneide.

Vorsichtig.

Und dann sehe ich meine Poren. Wie nie zuvor. Groß. Wie, wenn jemand nach Öl gebohrt hätte. Ich schließe die Augen. Im Geiste sehe ich, wie das Blut – mein Blut – in Fontänen aus meiner Haut hervorbricht. Den ganzen Spiegel besudelt. Bis alles rot ist. So wie bei dem Typen mit dem gespaltenen Schädel.

Ich öffne die Augen und rasiere mich weiter. Nichts passiert. Dumme Fantasien.

Der Mörder ist noch auf freiem Fuß. Oder die Mörderin. Es gibt keine Anhaltspunkte. Rein gar nichts. Schon das dritte Mal ist einer nach dem gleichen Muster abgeschlachtet worden und immer noch gibt es keine Spuren, denen man nachgehen könnte. Als wenn ein Geist am Werk wäre.

Die Menschen haben Angst in meinem Viertel, was verständlich ist. Ich habe auch Angst. Der nächste könnte ich selbst sein. Ich passe ins Opferprofil. Allein stehender, schwarzer Mittdreißiger in Harlem. Davon gibt es viele. Aber eben unter anderem auch mich selbst.

Wie viele Liter Blut der Mörder wohl schon auf den Fußböden der Stadt vergossen hat? Und wie viele Liter werden noch folgen?

Und ich kann nichts dagegen unternehmen. Nur Papier beschreiben. Ich, der Sammler und Verwalter von blutigen Körpern. Bis ich selbst dran bin und zu den Akten gelegt werde. Wie ein Krieg, das da draußen. Nur gegen wen?

Nun ist es doch passiert: Geschnitten. Nur leicht. Ein einzelner Tropfen kommt aus dem winzigen Schnitt, vermischt sich mit dem Rasierschaum. Eine Schneelandschaft mit einem kleinen Herz darin. Fasziniert starre ich auf die Stelle. Es pumpt, das Herz. Und dann begreife ich, dass nicht dieser kleine Blutstropfen, der so aussieht wie ein verkleinertes menschliches Herz, wie wild pumpt, sondern die ganze Gesichtshaut. Alles. Jede Stelle ist in ständiger Bewegung. Auf und ab. Die Poren: Weiter, enger, weiter, enger. Und dann ein einzelner, dünner Strahl an Blut, der aus einer Pore in meiner linken Wange hervorbricht.

Ich schreie laut auf, kann mich aber nicht bewegen.

Dann ein zweiter, ebenso feiner Strahl. Dieses Mal rechts neben meinem Kinn. Mein Blut, hellrot – oder vielleicht wirkt es im Kontrast zu meiner Haut und in der grellen Beleuchtung des Badezimmers nur so.

Endlich erhalte ich die Kontrolle über meinen Körper zurück. Ich lege den Zeigefinger der linken Hand auf die offene Pore in der linken Wange, den rechten Zeigefinger auf die Stelle beim Kinn. Doch kaum habe ich die beiden Stellen abgedeckt, schießt eine weitere Blutfontäne, dieses Mal sehr kräftig, sicherlich einen Millimeter dick, aus einer großen Pore an meinem Hals. Knapp neben der Schlagader. Und dann noch eine aus der linken Wange, zwei aus der rechten Wange, dann plötzlich eine kleine auf der Stirn, drei weitere am Hals, überall, alles rot, nicht zu stoppen, alles offen, schwarze Löcher, aus denen unablässig Blut strömt. Der Spiegel wird besudelt, mein Gesicht im Spiegel rot befleckt, bedeckt, bis ich nur noch meine Augen sehen kann.

Und ein weiteres Augenpaar, das hinter einem Schlitz in einer über den Kopf gestülpten Wollmütze hervorlugt. Ein Augenpaar, das nach einer geeigneten Stelle in meinem Hinterkopf sucht. Ich sehe sonst nichts, da alles rot verschwommen, blutig ist. Aber ich weiß, dass die Hände, die zu diesen Augen gehören, mein Fleischermesser umklammert halten.

Aber du kriegst mich nicht!

Ich habe eine Pistole. Und ich werde sie verwenden.

Ich ziehe sie aus der Halterung, entsichere sie, setze sie an. Zwischen zwei sprudelnden Fontänen an meiner Stirn. Der Griff wird mit Blut besudelt.

Tief durchatmen.

Gleich

ist

alles

vorbei

die

Poren

wieder

geschlossen

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#2

Die Paranoia-Reihe

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 23.06.2006 09:36
von Gemini • Long Dong Silver | 3.094 Beiträge | 3130 Punkte
So ist das schon besser. Ich habe momentan keine Lust so viel zu lesen, aber ich werde mir dann alle noch einmal zu Gemüte führen.

LG Gem

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#3

Die Paranoia-Reihe

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 23.06.2006 09:39
von Roderich (gelöscht)
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Servus noch einmal,

na, dann bis später einmal. Freu mich schon auf deine Zerpflückungen.

Grüße

Thomas

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