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#1
von Motte (gelöscht)
Landzug
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 26.07.2006 20:11von Motte (gelöscht)
Wenn ich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sitze, dann komm ich nicht umhin, zurückzusehen. Und der Abschied dauert so lange wie die Zugfahrt. So, als wenn dein Gesicht noch immer im Fensterspiegel hängt, blass, vielfach gebrochen, und mir nachsieht. Der Abschied dauert zumindest bis zum nächsten Umsteigebahnhof, wo ich den Zug wechseln muss und dich zwischen all den Menschen, die meinen Weg kreuzen, verliere, zwischen den Zeilen des Zeitungsartikels, den ich an einem Kiosk lese.
Als der Zug anfährt, nehme ich eine Sitzhaltung auf meinem Platz ein, die ich nicht mehr verändere und sehe die Landschaft an mir vorbeiziehen, in der sich dein Gesicht zerstreut hat. Die zerkratzten Stellen auf der Fensterscheibe sind Flecken auf meinem Augenglas. Ich bin in die Landschaft geschnitten. Da sind zwei Räume, die sich aneinander vorbeischieben. Auf der anderen Seite glänzen die Bäume in der Mittagshitze als würden tausend weiße Blüten darin hängen, heiße Blüten auf die Blätter gebrannt. Hagebutten hängen rotpoliert in den Sträuchern. Die Schatten- und Sonnenstücke sprenkeln den Mooswald, der Feuchtigkeit im Halbdunkel sammelt und an das Licht übergibt. Die Luft fährt durch das Kupfergras zwischen dem reinstes Gelb als Feldblumen sprosst, das die Sonne gesäht hat, und macht sich an ihnen sichtbar. Ich versuche ihre Temperatur an den Sonnenfarben zu messen.
Es ist ein wunderschönes Land, in dem du wohnst und es hat deinen Geist. Vor meinen trägen Augen wird der Wald neben den Gleisen zur Wand und als er aufhört, fällt mein Blick plötzlich in einen fernen Horizont. Ich fühle, wie mein Irismuskel sich zusammenzieht. Die Farben wachsen über ihre Formen hinaus. Erstes Weizengold ist geschürft, die Halme liegen ungekämmt auf den Feldern, übereinandergeworfen und ihre dunkelreife Goldseite preisgebend. Wo sich das Gold der Weizenfelder mit dem Himmel trifft, gibt es keine gerade Naht. Die Farben wölben sich ineinander. Es gibt hier viel Himmel, der fast so blau ist wie Lapislazuli mit einem dünnen, weißen Schleier davor gespannt, vielleicht, damit wir sein Strahlen ertragen können. Ich denke, dass der Himmel ein blindes Auge ist.
Ich werde sprachlos und unbewusst wie das Land. Alles träumt in einem Strom tief verschränkter Gedanken, zyklisch, in festen Ketten aus denen kein Glied herausbricht. Es muss einen Greifreflex geben und viel beruhigte Vergangenheit. Nichts, was aus dem Schlaf schrecken kann, heraussticht. Das eine relativiert das andere, alles bleibt unformuliert und in seinem großen, unbenannten Zusammenhang. Ich frage mich, was das in den Zwischenräumen ist und mit mir diesen Dialog führt.
Ich setze mir Kopfhörer auf und krame zwischen den unbeschrifteten Kassetten herum, ziehe willkürlich eine aus der Tasche. Zuerst kann ich die Musik nicht zuordnen, obwohl ich sie sehr genau kenne. Ich drehe ganz laut, aber die schlechte Aufnahme leiert ein bißchen und bleibt leise, so dass ich genau hinhören muss. Ich bin überrascht, dass die Musik für diesen Moment perfekt ist. Sie ist kühl, dunkel und metallisch, die Klänge sind voll und groß, der Zug grollt den Bass. Sie komponieren die flirrende Landschaft und machen sie klar, so, als würde ein Kamerabild scharf gestellt. Die Landschaft ist ein Symbol, das die Musik neu aufläd.
Ich sitze eine Weile schon auf meinem Platz und merke, dass ich völlig unbeweglich bin, als wenn mein Körper diesem einen festen Ort im fahrenden Zug angepasst wäre und aus seinem Umriss nicht heraustreten kann. Meine Füße rutschen vom Sitz gegenüber, ohne, dass ich sie auffangen kann, als würden mir die Muskeln nicht gehorchen. Sie sind gelähmt oder entspannt. Es ist beängstigend und schön. Mein Körper will mir nicht gehorchen, doch ich bin wach, während er schläft, und brauche ihn nicht, brauche ihn zu keiner Ruhe zwingen. Kein Bedürfnis regt sich in ihm.
Ich bin verkatert. Ich bin glücklich und traurig, wenn ich an dich denke und weiß, dass das in diesem Moment etwas besonderes ist, weil sich alles in und außerhalb von mir vereinigt hat. Mein Gefühl ist ein Bild. Ich will dir nachschauen, solange ich kann. In der Gegend zu Hause werde ich andere Dinge finden an die ich dann werde denken müssen und die dieses Gleichgewicht stören. Es ist klar, dass mir dieser Moment entgleiten wird. Es ist schade, dass ich ihn dann nicht mehr verstehen werde, wenn ich zurückdenke, weil es kein Gedächtnis gibt dafür.
Gestern Abend noch haben wir zusammen in deiner Laube gesessen unter dem Balkon des oberen Geschosses. Wie immer sind wir aus dem Küchenfenster gestiegen, haben uns die Gartenstühle in deinen winzigen, verwachsenen Vorgarten gestellt. Du hast Sekt getrunken, ich Bier. Unsere Gespräche waren schleppend, wir mussten sie uns erarbeiten. Zwei Themen haben wir uns freigeschaufelt zu denen wir immer Zuflucht nehmen können. Ich glaube, wir haben wieder ein Stückchen geschafft. Du bist mir vertrauter und ich habe mein Gefühl für dich wiedergefunden. Es passiert mir sogar, dass mir ganz ungefragt Erinnerungen in den Sinn kommen von früher, als wir noch am gleichen Punkt waren, uns noch durchschauen konnten, noch nicht begonnen hatten, am anderen zu zweifeln und wussten, wieviel uns an ihm gehört. In den vielen Abschieden konnten wir es am schmerzlichsten sehen und am deutlichsten. Durch dich habe ich überhaupt erst den Abschied kennengelernt. Genau so:
“Wie hab ich das gefühlt, was Abschied heißt.
wie weiß ichs noch, ein dunkles unverwundnes
grausames Etwas, das ein schön Verbundnes
noch einmal zeigt und hinhält und zerreißt.”*
Es war schwer, jene Sicht auf dich aufzugeben und ich habe lange am Glauben an die Unveränderlichkeit dieser Dinge festgehalten, länger als du. Vielleicht hast du dich mir weggenommen, genau wie ich mich dir. Vielleicht sogar früher. Ich hätte nie geahnt, dass selbst die echten Dingen zu Posen werden können. Das hässlichste Schicksal, das ihnen drohen kann.
Menschen, die man an etwas anderes verloren hat, können wichtig bleiben, obwohl man Gefühl und Verbindung zu ihnen vergessen hat, obwohl man ganz unabhängig von ihnen lebt, obwohl man es nicht weiß.
Für jetzt und hier ist es klar: dass niemand anders mir dieses Gleichgewicht geben kann. Du warst und bist immer meine andere Seite, auch wenn du für mich jetzt die meißte Zeit hinter Glas stehst.
*R. M. Rilke: "Abschied", 1. Strophe
Als der Zug anfährt, nehme ich eine Sitzhaltung auf meinem Platz ein, die ich nicht mehr verändere und sehe die Landschaft an mir vorbeiziehen, in der sich dein Gesicht zerstreut hat. Die zerkratzten Stellen auf der Fensterscheibe sind Flecken auf meinem Augenglas. Ich bin in die Landschaft geschnitten. Da sind zwei Räume, die sich aneinander vorbeischieben. Auf der anderen Seite glänzen die Bäume in der Mittagshitze als würden tausend weiße Blüten darin hängen, heiße Blüten auf die Blätter gebrannt. Hagebutten hängen rotpoliert in den Sträuchern. Die Schatten- und Sonnenstücke sprenkeln den Mooswald, der Feuchtigkeit im Halbdunkel sammelt und an das Licht übergibt. Die Luft fährt durch das Kupfergras zwischen dem reinstes Gelb als Feldblumen sprosst, das die Sonne gesäht hat, und macht sich an ihnen sichtbar. Ich versuche ihre Temperatur an den Sonnenfarben zu messen.
Es ist ein wunderschönes Land, in dem du wohnst und es hat deinen Geist. Vor meinen trägen Augen wird der Wald neben den Gleisen zur Wand und als er aufhört, fällt mein Blick plötzlich in einen fernen Horizont. Ich fühle, wie mein Irismuskel sich zusammenzieht. Die Farben wachsen über ihre Formen hinaus. Erstes Weizengold ist geschürft, die Halme liegen ungekämmt auf den Feldern, übereinandergeworfen und ihre dunkelreife Goldseite preisgebend. Wo sich das Gold der Weizenfelder mit dem Himmel trifft, gibt es keine gerade Naht. Die Farben wölben sich ineinander. Es gibt hier viel Himmel, der fast so blau ist wie Lapislazuli mit einem dünnen, weißen Schleier davor gespannt, vielleicht, damit wir sein Strahlen ertragen können. Ich denke, dass der Himmel ein blindes Auge ist.
Ich werde sprachlos und unbewusst wie das Land. Alles träumt in einem Strom tief verschränkter Gedanken, zyklisch, in festen Ketten aus denen kein Glied herausbricht. Es muss einen Greifreflex geben und viel beruhigte Vergangenheit. Nichts, was aus dem Schlaf schrecken kann, heraussticht. Das eine relativiert das andere, alles bleibt unformuliert und in seinem großen, unbenannten Zusammenhang. Ich frage mich, was das in den Zwischenräumen ist und mit mir diesen Dialog führt.
Ich setze mir Kopfhörer auf und krame zwischen den unbeschrifteten Kassetten herum, ziehe willkürlich eine aus der Tasche. Zuerst kann ich die Musik nicht zuordnen, obwohl ich sie sehr genau kenne. Ich drehe ganz laut, aber die schlechte Aufnahme leiert ein bißchen und bleibt leise, so dass ich genau hinhören muss. Ich bin überrascht, dass die Musik für diesen Moment perfekt ist. Sie ist kühl, dunkel und metallisch, die Klänge sind voll und groß, der Zug grollt den Bass. Sie komponieren die flirrende Landschaft und machen sie klar, so, als würde ein Kamerabild scharf gestellt. Die Landschaft ist ein Symbol, das die Musik neu aufläd.
Ich sitze eine Weile schon auf meinem Platz und merke, dass ich völlig unbeweglich bin, als wenn mein Körper diesem einen festen Ort im fahrenden Zug angepasst wäre und aus seinem Umriss nicht heraustreten kann. Meine Füße rutschen vom Sitz gegenüber, ohne, dass ich sie auffangen kann, als würden mir die Muskeln nicht gehorchen. Sie sind gelähmt oder entspannt. Es ist beängstigend und schön. Mein Körper will mir nicht gehorchen, doch ich bin wach, während er schläft, und brauche ihn nicht, brauche ihn zu keiner Ruhe zwingen. Kein Bedürfnis regt sich in ihm.
Ich bin verkatert. Ich bin glücklich und traurig, wenn ich an dich denke und weiß, dass das in diesem Moment etwas besonderes ist, weil sich alles in und außerhalb von mir vereinigt hat. Mein Gefühl ist ein Bild. Ich will dir nachschauen, solange ich kann. In der Gegend zu Hause werde ich andere Dinge finden an die ich dann werde denken müssen und die dieses Gleichgewicht stören. Es ist klar, dass mir dieser Moment entgleiten wird. Es ist schade, dass ich ihn dann nicht mehr verstehen werde, wenn ich zurückdenke, weil es kein Gedächtnis gibt dafür.
Gestern Abend noch haben wir zusammen in deiner Laube gesessen unter dem Balkon des oberen Geschosses. Wie immer sind wir aus dem Küchenfenster gestiegen, haben uns die Gartenstühle in deinen winzigen, verwachsenen Vorgarten gestellt. Du hast Sekt getrunken, ich Bier. Unsere Gespräche waren schleppend, wir mussten sie uns erarbeiten. Zwei Themen haben wir uns freigeschaufelt zu denen wir immer Zuflucht nehmen können. Ich glaube, wir haben wieder ein Stückchen geschafft. Du bist mir vertrauter und ich habe mein Gefühl für dich wiedergefunden. Es passiert mir sogar, dass mir ganz ungefragt Erinnerungen in den Sinn kommen von früher, als wir noch am gleichen Punkt waren, uns noch durchschauen konnten, noch nicht begonnen hatten, am anderen zu zweifeln und wussten, wieviel uns an ihm gehört. In den vielen Abschieden konnten wir es am schmerzlichsten sehen und am deutlichsten. Durch dich habe ich überhaupt erst den Abschied kennengelernt. Genau so:
“Wie hab ich das gefühlt, was Abschied heißt.
wie weiß ichs noch, ein dunkles unverwundnes
grausames Etwas, das ein schön Verbundnes
noch einmal zeigt und hinhält und zerreißt.”*
Es war schwer, jene Sicht auf dich aufzugeben und ich habe lange am Glauben an die Unveränderlichkeit dieser Dinge festgehalten, länger als du. Vielleicht hast du dich mir weggenommen, genau wie ich mich dir. Vielleicht sogar früher. Ich hätte nie geahnt, dass selbst die echten Dingen zu Posen werden können. Das hässlichste Schicksal, das ihnen drohen kann.
Menschen, die man an etwas anderes verloren hat, können wichtig bleiben, obwohl man Gefühl und Verbindung zu ihnen vergessen hat, obwohl man ganz unabhängig von ihnen lebt, obwohl man es nicht weiß.
Für jetzt und hier ist es klar: dass niemand anders mir dieses Gleichgewicht geben kann. Du warst und bist immer meine andere Seite, auch wenn du für mich jetzt die meißte Zeit hinter Glas stehst.
*R. M. Rilke: "Abschied", 1. Strophe
#2
von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte
Landzug
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 28.07.2006 14:15von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte
Hi Motte
Das gefällt mir wirklich gut! Wunderschöne Abschiedsstimmung mit all den Nachgedanken und Nachwehen, die dabei entstehen können. Ich glaube, Solches kann man nur in einem Zug verfassen. Dieses Transportmittel ist geradezu prädestiniert dafür, sich seinen Gedanken zu ergeben.
Zu Anfang sind mir die - durchaus poetischen - Beschreibungen der Natur etwas zu viel, aber sie passen sich gut ein. Meine persönliche Neugier und mein schnelles Lesen bleiben aber daran etwas kleben.
Irgendwo fiel mir ein Rechtschreibfehler auf... auffangen war's. Sonst kann ich dich nur loben. Sehr schön!
Gruss
Margot
Das gefällt mir wirklich gut! Wunderschöne Abschiedsstimmung mit all den Nachgedanken und Nachwehen, die dabei entstehen können. Ich glaube, Solches kann man nur in einem Zug verfassen. Dieses Transportmittel ist geradezu prädestiniert dafür, sich seinen Gedanken zu ergeben.
Zu Anfang sind mir die - durchaus poetischen - Beschreibungen der Natur etwas zu viel, aber sie passen sich gut ein. Meine persönliche Neugier und mein schnelles Lesen bleiben aber daran etwas kleben.
Irgendwo fiel mir ein Rechtschreibfehler auf... auffangen war's. Sonst kann ich dich nur loben. Sehr schön!
Gruss
Margot
#3
von Motte (gelöscht)
Landzug
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 02.08.2006 23:48von Motte (gelöscht)
Danke, Margot, für deine wohlwollenden Worte! Es stimmt: im Zug kann man perfekt seine Gedankenmonologe führen, angeregt von der sich ständig verändernden Umgebung. Vielleicht läuft man dann aber auch Gefahr seine Gedanken für beweglicher zu halten als sie sind...
Es passiert in dem Text ja eigentlich nichts, ist reine Beschreibung. Das wirkt vielleicht etwas ermüdend.. passiert beim Zugfahren ja auch nicht selten, dass man so einen Gedankenfaden an den nächsten knüpft und irgendwann darüber hin einschlummert. Naja, dann ist die Stimmung wenigstens gut getroffen!
Ich hatte erst Bedenken, dass der Text irgendwie zu tagebuchartig-schmalzig rüberkommt, aber wenn´s nur die Beschreibunswut ist...
Liebe Grüße,
Motte
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