#1

Bezwergstelligung

in Diverse 07.10.2006 18:25
von Ulli Nois | 554 Beiträge | 554 Punkte
Mein lieber Herr Gesangsverein, pardon: Geratewohl!

Dein Gedicht hab ich jetzt zehn Mal laut gelesen, nur um mich an der Form zu berauschen. Drei- und Vierheber im Kreuzreim ergeben normalerweise nur kuzatmige Stotterverse oder bestenfalls Kinderlieder. Du aber hast in dieses strenge Reimbett einen Satz gefügt, der über 15 (!) Zeilen fließt, ohne dass er stolpert oder gezwungen wikd. Das finde ich für sich genommen schon eine virtuose Leistung.

Das zehnmalige Lesen brauchte ich allerdings auch, um mich in der Aussage zurecht zu finden. Du machst es dem Leser nicht gerade leicht. Vielleicht liegt es auch an mir, dass ich heute besonders langsam bin. Doch jetzt, wo ich zu verstehen meine, fügt sich das Ganze inhaltlich und formal zu einem stimmigen Ganzen zusammen.

Zu deiner Kontrolle gebe ich mein Verständnis in Kurzfassung wieder. Thema ist das Über-sich-hinaus-wachsen. Wer große Dinge vor Augen hat, überschätzt häufig seine tasächliche Leistungsfähigkeit. Das nur Vorgestellte entpuppt sich in der sog. Wirklichkeit als (über)große Harausforderung. Gedanklich läßt sich vieles einfach "überspringen", faktisch bringen einen schon kleinste Hindernisse ins Stolpern. "Große Dinge werfen Schatten" - heisst dann wohl auch, dass wir - sobald wir uns große Dinge vornehmen - die flachen Schatten, die die Dinge werfen, für die Dinge selbst halten. Welch Irrtum, kleiner Mann! Denn über Schatten stolperst und fällst du nicht. Die (für dich) wirklich großen Dinge aber kannst du nur erreichen, wenn du über dich hinauswächst.

Dieser Wachstumprozess wird am Bild des Hauses beschrieben. Der Mensch ist eine Baustelle. Er muss sich ständig umbauen, um den wachsenden Herausforderungen gerecht zu werden. Er ist immer auf dem Sprung zu noch Größerem. Das, was er gedanklich erfasst, "erleitert", aber kann er nur dann gewinnen, wenn er sich nicht im Fertigen einrichtet. Er muss seine Räume öffnen, sich (menatal) weiterentwickeln, entfalten, - Steine verrücken, den Dachstuhl ausbauen.

Bei großen Dingen ist das Scheitern der Normalfall. Deswegen spricht Nietzsche von der ewigen Wiederkehr des kleinen Mannes. Geratewohl wohl auch. Der Mensch ist klein und zugleich "Übermensch", weil er die Fähigkeit hat, ja den Wesenstrieb, über sich hinaus zu wollen. N. war kein reilgiöser Schwärmer. Und auch Geratewohl sagt ausdrücklich, dass uns kleinen Menschen nichts geschenkt wird.. Das Über-sich-hinaus-wachsen (Trans-zendieren) ist ein hartes, dem Handwerk vergleichbares Stück Arbeit, eine Bewerkstelligung.

Der Titel faßt das treffend zusammen. Dennoch finde ich ihn nicht gelungen. Er klingt zu sehr nach Kalau. Das aber hat dieses grandios durchkomponierte Gedicht nicht verdient.

Meine Nominierung für den Monat Oktober!

Beste grüße, Ulli






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#2

Bezwergstelligung

in Diverse 09.10.2006 09:24
von GerateWohl • Mitglied | 2.015 Beiträge | 2015 Punkte
Hallo Ulli,

dank Dir für die lobenden Worte.
Deine Deutung der Verse deckt sich zum großen Teil mit der meinen. Zu viel will ich jetzt nicht sagen. Aber das Du, "der kleine Mann" ist schon jemand der vor den Herausforderungen zurück schreckt. Wie real diese Heraus- oder Überforderung ist, kann gewiss nur jeder für sich selber herausfinden. Aber von nix kommt ja bekanntlich nix. Also ran!

Vielen Dank für die Nominierung.

Lieben Gruß,
GW

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