#1

Desintegration

in Gesellschaft 29.11.2006 19:45
von Don Carvalho • Mitglied | 1.880 Beiträge | 1880 Punkte
Desintegration
meng-âmok, in blinder Wut

Der Abschaum hat es doch verdient,
dass ich ihn hart bestrafe;
auf einmal ängstlich, niederkniend
vorm Herrn, der einstmals Sklave.

Der Willkür lange ausgesetzt,
dreh ich den Spieß jetzt um:
ab heute wird zurückgehetzt
und Ihr seid Publikum.

Und Euer Aufschrei schafft, was mir
noch nie gelingen wollte -
Respekt und Achtung im Revier,
die früher niemand zollte.

(c) Don Carvalho
- November 2006

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#2

Desintegration

in Gesellschaft 29.11.2006 20:55
von Arno Boldt | 2.760 Beiträge | 2760 Punkte
S1 - Wechsel der Machtpositionen + Ausleben der (ererbten oder erbeuteten) Macht; Rache
S2 - rückt die Rache wieder in den Fokus (meiner Meinung nach überflüssig, da schon in S1 benannt); einzig Z4 zeigt, dass es noch einen Dritten gibt, neben Sklave und Herr. Zum ersten Mal eine direkte Ansprache dabei (Ihr, das Publikum).
S3 - Entsetzen des Publikums. Letztlich geht es dem Lyr. Ich nicht nur um seine Rache gegenüber den einstigen Herrn, sondern auch um den Machtanspruch gegenüber dem Publikum - was aus der Herr/Sklave-Sache eigentlich außen vor ist... und doch wieder nicht, weil es mit seinem Voyeurismus dafür sorgt, dass bestehendes bleibt. Insofern ist das Publikum hier auch eine Art Stütze der vorherrschenden Macht; was letztlich auch der Grund sein kann, weshalb das Lyr. Ich es schocken will.. damals hatte sich das Publikum ja nicht für das Lyr. Ich eingesetzt. Hier greift auch der Titel: Desintegration, weil ewige Konfrontation/Kampf vorherrscht. Es erinnert mich jetzt an politische Ereignisse, wo es im Land eine Macht gab, die gestürzt wurde - in beiden Fällen ist die Außenwelt (Publikum) entsetzt, was passiert - sie reagiert jedoch nicht und schaut nur zu. Unterstützt vielleicht auch wieder den gerade da seienden Herrscher. Mit etwas mehr Spannweite kann man auch die Medien ins Boot der Fotografen bekommen; und so die Schelte weiter schicken. Es kommt eben ganz darauf an, wie lang der Arm des Lesers ist.

Einfach, aber es ist was dabei. *g (Toller Satz, oder ). Wenn die Strophe zwei nicht fast eine Wiederholung der ersten wäre, dann könnte ich mich jedoch mehr damit anfreunden.

Beste Grüße,
arno.

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#3

Desintegration

in Gesellschaft 29.11.2006 22:32
von Joame Plebis | 3.690 Beiträge | 3826 Punkte
Hallo Don!

(In schneller Kürze, denn mir brennt sonst die VGA ab.)
Du liegst da ganz auf meiner Linie, ein wenig kurz; Du
hättest so richtig 'die Sau rauslassen' können!

Leider sehe ich ein Ding der Unmöglichkeit:

Der Abschaum hat es doch verdient,
dass ich ihn hart bestrafe;
auf einmal ängstlich, niederkniend

So etwas kann vorkommen, nur eines darf es nicht:
stehen bleiben!

Freundlichen Gruß
Joame

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#4

Desintegration

in Gesellschaft 30.11.2006 10:49
von Knud_Knudsen • Mitglied | 994 Beiträge | 994 Punkte
hi Don,
Arno hat die meisten Punkte schon angesprochen, und trotzdem will ich mal:

Die Form, wie immer auch bei "Verdient und "niederkniend". Diese vermeindlichen "unsauberen" Reime sind erlaubt.
Zum Inhalt:
Der Titel "Desintegration" (schön). Das lyr I. war bis zum "Aufstand", sreiner eigenen Revolution "voll integriert" und viel dabei nicht auf.
(ich vermute hier eine gesellschaftliche Gruppe)
Es war mit seiner Gruppe im Rest der Gesellschaft eingebettet und als Minderheit wurde es dominiert. Dann der Aufstand, der Machtgewinn gegenüber dem Rest.

Zitat:

Der Willkür lange ausgesetzt,
dreh ich den Spieß jetzt um:



Hier wird Vergeltung angestrebt.

Zitat:

Der Abschaum hat es doch verdient,
dass ich ihn hart bestrafe;



Machtpositionen sind verändert

Zitat:

auf einmal ängstlich, niederkniend
vorm Herrn, der einstmals Sklave.


und sollen vor dem Rest der Gesellschaft auch demonstriert werden.

Zitat:

ab heute wird zurückgehetzt
und Ihr seid Publikum.



ja fast wie aus dem Lehrbuch in der "Fürst" von Marchavelli.
("begehe Grausamkeiten sofort und belohne nur in kleinen Dosen")

Zitat:

Und Euer Aufschrei schafft, was mir
noch nie gelingen wollte -
Respekt und Achtung im Revier,
die früher niemand zollte.



Das gefällt mir ist es doch ein Spot auf unsere pluralistische Gesellschaft.
Gruss
Knud

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#5

Desintegration

in Gesellschaft 30.11.2006 17:05
von Joame Plebis | 3.690 Beiträge | 3826 Punkte
Da, lieber Knud, bin ich anderer Ansicht,
weil hierzulande das Wort niederkniend mit 4 Silben
gesprochen wird (nie-der-knie-end, ein Wort in einem
Zug gesprochen als kniend gibt es nicht.
Gruß
Joame

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#6

Desintegration

in Gesellschaft 01.12.2006 11:18
von Don Carvalho • Mitglied | 1.880 Beiträge | 1880 Punkte
Hallo Arno, Knud und Joame,

der Vorwurf, dass sich die Strophen 2 und 3 zuwenig inahltlich voneinander abgrenzen, den mus ich gelten lassen, Arno, wobei ich - da es sich insgesamt um ja nur 2 Strophen handelt - das nicht so dramatisch finde.

Inhaltlich gehen Arno und Knud ja grob in eine Richtung, wobei Arno das Gedicht eher in ein politisches Umfeld bettet, Knud aber - vermutlich aufgrund des Titel - eher soziologische Ursachen vermutet.

Ich selbst habe die Hintergründe betreffend eher ein Knuds Ausührungen ähnelndes Szenario vor Augen gehabt, jedoch weniger an eine Gruppe gedacht. Allerdings wollte ich den Interpretationsspielraum offenhalten und eben auch weitere Spielwiesen ermöglichen, weshalb ich den eigentlich geplanten Untertitel weggelassen hatte:

meng-âmok, in blinder Wut.

Wobei er eigentlich auch zu Euren Interpretationen passt, ich werde ihn daher wohl doch wieder hinzufügen. Aber vielleicht wird mittels dieses Alternativtitels deutlicher, in welchem Rahmen ich gedacht hatte...

Noch kurz zum Reim: ich habe da kurz gezögert und ihn mehrfach laut vorgetragen und dann doch genommen. Dass verdient/kniend nicht jederman schmeckt, habe ich dabei schon gedacht, bei einem anderen Autoren würde ich selbst vermutlich am Lautesten schreien . Ich finde, man kann aber das kniend - zumindest wenn man weiß wie es hier gedacht ist - auch etwas "lässig" einsilbig aussprechen; zumindest ist es Arno entgangen und für Knud war es ebenfalls möglich, weshalb ich hoffe, dass es zumindest geht.

Euch allen Drei vielen Dank für Eure Kommentare und die Aufmerksamkeit,

Don

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#7

Desintegration

in Gesellschaft 01.12.2006 12:00
von Joame Plebis | 3.690 Beiträge | 3826 Punkte
Hallo Don!

Deshalb sind ja Audioversionen sehr gut; man kann dem Vortrag folgen und wird durch nichts abgelenkt.
Mit der gewollten Betonung kommt es dann so richtig zur Geltung.

Gruß
Joame

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#8

Desintegration

in Gesellschaft 01.12.2006 12:10
von Arno Boldt | 2.760 Beiträge | 2760 Punkte
Hallo Don. [13]

Was heißt hier "entgangen"? [1] Nee, ich fand ihn unsauber - bin aber - so glaube ich - noch nie einer gewesen, der unreine Reime verteufelte.

Ich kann mir jetzt vorstellen, dass du die Ereignisse in Emsdetten als Anlass genommen hast. Allerdings wird vielfach falsch berichtet, es handelte sich um einen "Amokläufer". Amok wurde im frühen 20. Jahrhundert ergründet. Da reisten europäische Wissenschaftler nach Afrika, um den Phänomen dort auf die Spuren zu kommen. Amok heißt nicht einfach, da läuft einer mit ner Knarre/Waffe durch die Gegend und tötet Menschen. Amok bedeutet, dass eine bestimmte Situation dem Amokläufer den "Anlass" gibt. Anlass in Anführungszeichen, weil er das nicht bewusst wahrnehmen muss. Ein Amokläufer nimmt das das erstbeste, was er findet und tötet wahllos Menschen - ad-hoc.

Der EX-Schüler von Emsdetten hatte ein paar Jahre Vorlauf und war - was Waffen anging ja so einigermaßen geschult. Er hat aber (nach meinem Wissen) keinen umgebracht. Das ist schon komisch. Wenn er hätte welche umbringen wollen, dann lief da so einiges schief - oder er wollte eben nicht. Wenn er nicht wollte, dann konnte er sich kontrollieren. Ein Amok-läufer kontrolliert sich nicht - er würde jeden nehmen, egal, wer das ist. Der wäre wie eine Lokomotive, die außer Kontrolle geraten ist.

Oh, sorry, ich merke gerade, dass ich ins (nebensächlich?)-Schreiben komme. Wollte nur sagen, dass der Begriff "Amok"-Läufer immer falsch von den Medien genutzt wird - so auch im Fall "Emsdetten". [13]

Grüße,
arno.

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#9

Desintegration

in Gesellschaft 06.12.2006 14:12
von Don Carvalho • Mitglied | 1.880 Beiträge | 1880 Punkte
Hi Arno,

da möchte ich Dir widersprechen (auch wenn das für den Text selbst eh ohne Belang ist), denn soweit ich im Vorfeld gelesen habe, ist das alles in der Soziologie reichlich umstritten. Zumindest aber hast Du recht, dass die von Dir geschilderten Abläufe nicht dem klassischen Amoklauf entsprechen; das Phänomen "school shooting" nimmt aber meines Wissens inzwischen ein eigenes Kapitel in der soziologischen Amokforschung ein.


Zitat:

Auch stellte sich heraus, dass diese Art von Amok in den seltensten Fällen als blindwütige Raserei angelegt war, das heißt sich schnell und impulsiv aus einer entsprechenden Situation heraus aufgebaut hat. Denn fast alle Täter hatten sich zuvor durchaus einige Zeit gedanklich mit dem bevorstehenden Gewaltakt beschäftigt. Bei mehr als der Hälfte ging eine mehrtägige Planung voraus. Auch die Tatsache, dass in den meisten Fällen die Opfer bewusst ausgewählt worden waren und oftmals sogar regelrechte Todeslisten existierten, zeigt, dass die Vorbereitungsphase eher die Regel als die Ausnahme war.


Prof. Dr. med. Volker Faust vom Zentrum für Psychiatrie - Die Weissenau,
Abt. Psychiatrie I der Uni Ulm zum sog. Schul-Amok (Psychosoziale Gesundheit)


Aber auch wenn der Emstetten-Vorfall der Anlass zu diesen Zeilen war, habe ich nicht speziell (und ausschließlich) einen Amoklauf thematisieren wollen, weshalb ich ja auch zunächst den Untertitel wegließ, der die Gedanken womöglich ausschließlich in eine Richtung gehen lassen könnten.
Thema sollte sein die Desintegration des lyrIchs, also die Auflösung des sozialen Umfeldes, mit möglichen Folgen. Das malaiische meng-âmok sollte da mit seiner ursprünglichen Bedeutung: "In blinder Wut angreifen" die Folgen charakterisieren, ohne dass das zwingend ein Amoklauf sein muss.

Grüße,

Don

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