#1

Fortschritt mit Nebenwirkungen

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 03.06.2007 16:23
von Epiklord (gelöscht)
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Fortschritt mit Nebenwirkungen

Was hatte der Lehrer der kleinen Dorfschule in Hundehausen den Fortschritt gelobt, besonders in der Hauptstadt Dogcity sollte ein großer innovativer Schub erzielt worden sein. Und der Jungterrier Biffi wendete sich sofort an seinen Großvater Wuff, der erst vor drei Tagen Dogcity besucht hatte: „Opa Wuff, ich bin stolz jetzt zu leben.“
„Aber Biffi, warum?“
„Na, mein Lehrer hat gesagt: `Die Moderne hat ihren Zenit in der Stadt erreicht.` Du warst ja gerade dort.“
Wuff kratzte sich am Kopf: „Nun Biffi, ich habe noch die Zeit miterlebt, als das mit dem Fortschritt losging.“
„Oh prima, Opa Wuff, erzähl mir alles von Anfang an.“

„Nun ja, Biffi, unser hündisches Weltbild war immer sehr eingeengt gewesen. Gleichgültig registrierten wir unsere Hundevisagen, während das Interesse einzig den ungezählten Ärschen galt, die einem ständig ins Gesichtsfeld drängten. Hier auf dem Lande genoss man noch den Anblick eines jeden und schnüffelte lustvoll herum. Und kam mal ein Nachbarshund nicht nach draußen, litt man, als wenn drei fehlten. Aber in der Hauptstadt entwickelte sich diese Lust zum Frust.“
„Ja, Opa Wuff, das ist ja alles schön und gut. Aber wo blieb der Fortschritt?“

„Biffi, nun hab Geduld. Also einige sehr sensible Hunde reagierten total überspannt. Sie hatten die Nasen voll von dieser ewigen Präsenz unzähliger Ärsche und flüchteten sich in andere Forschungsgebiete. So kamen sie darauf, dass unsere Stöckchen Phallussymbole wären. Um so größer der Stock, desto kleiner der...na, du weißt schon. Und Hündinnen trügen Stöcke aus Penisneid als deren Ersatz.“
„Aber Opa, das ist doch alles Quatsch.“

„Ja, Biffi, erst hat es auch keinen interessiert. Es blieb forscherintern. Aber zeitgleich entstand im Stadtpark von Dogcity ein Problem. Unsere lieben Artgenossen hatten überall verstreut ihre prächtigen Stöckchen einfach liegen lassen. Ein chaotisches Bild bot sich und kleine Hunde stolperten immer wieder. So wurden die Stöckchen von der Stadtreinigung entsorgt und man hängte Tafeln mit der Aufforderung auf, die Stöcke nach dem Gassigehen unverzüglich mit nach Hause zu nehmen. Ergebnislos.“
„Na Opa, Stadthunde sind eben schlampig. Aber wie kam’ s nun zum Fortschritt?“

„Nun Biffi, ein Herr vom Stadtrat hatte von der Stöckchenforschung erfahren und es weit und breit publik gemacht.“
„Ach, Opa Wuff, du meinst die Sache mit dem größten Stöckchen beim kleinsten Pillermann tragen und so.“
„Genau Biffi. Und einige Stunden später sah man nur noch Rüden mit Minihölzchen demonstrativ promenieren, und die Hündinnen gingen ohne.“
„Aber Opa, das ist doch ein toller Erfolg gewesen. Die Zwerghunde konnten so nicht mehr stolpern und die winzigen Hölzchen trübten das schöne Parkbild kaum.“
„Ja Biffi, es stellte sich aber gleich eine Nebenwirkung ein. Wir Hunde hatten bis dato gerne vor unseren Hütten leckere Knochen geknabbert. Doch nun auf mal ergab sich eine zwingende Assoziation zu den phallischen Stöckchen, was uns in grässliche Zweifel trieb. Knochen wurden gemieden, und unser wichtigster Wirtschaftszweig, die Knochenfertigung, lahmgelegt.“

„Oh Opa, das war ja furchtbar. Aber konnte man da nichts machen?“
„Aber klar, Biffi, es hatte doch schon einmal funktioniert. Zunächst ehrte der Stadtrat die Stöckchenforscher. Und in deren Namen erfolgte eine öffentliche Proklamation zukunftsweisender Thesen. Man behauptete, das Fressen von Knochen wäre als Gehirnnahrung sehr zu empfehlen. Und im übertragenem Sinne würde dabei der Phallus bzw. die Clitoris vernichtet. So stelle es ein imaginäres Zeichen für den Überwindungswillen der genitalen Phase dar, in der wir bis dahin gefangen waren, und an welche die bis hierher unbekannte erstrebenswerte geistige Hoch- und Endphase direkt anknüpfen sollte. Nur durch Knochenfressen gelänge man dorthin. Und mehr Knochen als je zuvor wurden verzehrt, dass deren Produktion brummte.“
„Ein toller politischer Streich, Opa, und ein Triumph der Wirtschaft.“

„Klar, lieber Biffi, aber ich muss dich erneut enttäuschen. Auch hier gab’s eine Tücke. Jeder Hund litt nun an heftiger Verstopfung. Der Hintern juckte und man rutschte auf ihm herum. Die Menschen nennen es „Schlittenfahren“. Rizinusöl fand zwar kurzzeitig regen Absatz, aber die Dosierung blieb schwierig.“
„Ja, Opa Wuff, man hätte den Knochenverzehr einschränken müssen.“
„Biffi, du hast vergessen, dass man die genitale Phase durchbrechen wollte. Und man musste diese unangenehmen Nebenwirkungen halt ertragen. So ist das eben beim Fortschritt.“
„Gut, Opa Wuff, das ist Schnee von gestern. Nun hat man endlich den ultimativen Durchbruch geschafft, mit einer genialen Erfindung, hat mein Lehrer gesagt.“
„Ja, Biffi, aber auch dies ist wiedereinmal mit einem riesigen Wehmutstropfen verbunden. Sämtliche Bäume in der Stadt, also auch die ungezählten Stammbäume, sind abgeholzt worden. Für so eine ungewisse und zunächst geheimgehaltene Neuschöpfung wollte kein Dörfler seinen Wald hergeben. Holz zum Heizen hat bei uns höchste Priorität. In der Stadt befinden sich jetzt überall Verkaufsstellen des neuen Produkts. Ich besorgte mir auch eins. Denn ohne gehen schickt sich in Dogcity nicht.“

„Cool, Opa, du hast mir aber noch nicht gesagt, um was für eine Erfindung es sich genau handelt.“
„Ja, Biffi, da wollte ich jetzt drauf kommen. Die Erfindung enthebt einem gleichsam vom Problem des Schlittenfahrens in eine höhere Sphäre mit Weitsicht. So schwärmen die Konstrukteure.“
„Klasse, Opa, ein Fortschritt also mit Perspektive.“
„Naja Biffi, man hat einfach aus den gefällten Bäumen Stelzen gefertigt, einen halben Meter hoch und nicht ganz bequem.“
„Geil, Opi, die einfachen Dinge sind meistens die genialen oder umgekehrt. So ähnlich hat sich mein Lehrer ausgedrückt.“
„Du überrascht mich, Biffi. Aber es ist wohl deiner Jugend zuzuschreiben.“

„Opa, ich muss unbedingt in die Stadt. Diesen irren Kick auf den Stelzen darf ich mir nicht entgehen lassen. Das ist wahrer Fortschritt. Eine neue Dimension.“
„Komisch Biffi, ich kapiere nicht, von was du redest. Diese blöden Stelzen drückten an den Pfoten.“
„Och, Opa Wuff. Dass ihr Alten immer an den neuen Dingen herumnörgeln müsst. Die Hunde in Dogcity sollen sehr stolz sein. Und ihr Bewusstsein hat sich enorm erweitert, hat mein Lehrer gesagt.“

„Ja, Biffi, ihre Köpfe tragen sie nun einen halben Meter höher. Doch die Blicklinie ist unverändert geblieben und darin drängen sich immer noch die gleichen Arschlöcher wie früher.“

* * *
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#2

Fortschritt mit Nebenwirkungen

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 23.06.2007 12:21
von Arno Boldt | 2.760 Beiträge | 2760 Punkte
Hallo Lord.

War witzig zu lesen. Habe auch nur wenige Kleinigkeiten: Ich dachte immer "Biffi" wäre ein weiblicher Name. Im vierten Abschnitt von unten - erste Zeile - wurde sie vermännlicht. Dann würde ich den Satz mit dem Pillermann wie folgt abkürzen: „Ach, Opa Wuff, du meinst die Sache mit dem größten Stöckchen und so...?“ Der Grund ist, dass ich Biffi als noch jungen Hund sehe - und da würde es (in meinen Augen) nicht reinpassen. Kann aber durchaus sein, dass ich da ein anderes Empfinden habe.
Und auch den Satz, in dem Biffi sagt, dass Stadthunde schlampig sind, würde ich etwas ändern, da er doch schon einen lehrerhaften Ton innehat.

Ansonsten aber gern lesen, da es nicht zuletzt auch weisheitsverpackt geschrieben ist.

BG,
arno.

http://arnoboldt.wordpress.com/
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#3

Fortschritt mit Nebenwirkungen

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 23.06.2007 17:00
von Joame Plebis | 3.690 Beiträge | 3826 Punkte
Guten Tag, Epiklord!

Jetzt nehme ich einmal an, Du bist keine 'Mimose'; dann
wirst Du Dich auch nicht sonderlich grämen,
wenn ich ganz freimütig die Frage schreibe, die sich
mir nach dem Lesen der Geschichte stellte und die lautete:
soll ich lachen oder weinen?

Um zu lachen, war sie mir nicht lustig genug.
Weder Inhalt oder Stil konnten mich etwas faszinieren.
Für diesmal habe ich keine bessere Rückmeldung.

Sobald ich eine Gelegenheit sehe, bin ich gerne bereit, Lob und erfreuende Kritik anzuwenden.

Joame
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#4

Fortschritt mit Nebenwirkungen

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 24.06.2007 19:37
von Epiklord (gelöscht)
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Lieber Arno, danke. Lieber Joame, ich habe ein „Problem“; mir befällt bei jedem Leseversuch von Belletristik am Anfang der Texte bereits eine innere Schwere, und das bei Autoren wie Erich Kästner. Nun, bei dem lag es wohl daran, dass ebenfalls Weisheiten verpackt waren. Und Weisheiten kundig ist heute jeder Grundschüler. Zwar hat es mich nicht abgehalten, derartiges zu schreiben. Sind halt Übungen. Eigentlich war mir auch klar, ich habe der Welt nichts zu sagen. Habe aber viele Erfahrungen in den Netz-Foren sammeln können. Am 7. Juli gehe ich (vorerst?) aus dem Netz, um mich konzentriert meinem eigentlichen Interessengebiet, der Biologie und Natur, wieder zuzuwenden. Und ich würde mich freuen, wenn ihr mir noch einen Lesetipp für schöngeistige Literatur mit auf den Weg geben könntet. Vielleicht Kurzgeschichten der hohen Literatur (wenn’s die gibt), mit der Musikalität und Gedankentiefe von Nietzschetexten, Kühnheit in der Form und Dynamik eines Büchner wie in „Lenz“, Esprit von Voltaire. Es sollte also etwas sein, was beispielhaft ist, wo dran man sich orientieren könnte. Und zeitgemäße Thematik. Mit so einem Büchlein könnte ich mich zukünftig denn gelegentlich in Ruhe nochmals mit Literatur auseinander setzen. Im Netz war alles sehr verwirrend, die Antworten oft gegenläufig usw. Dem Wesen der wahren Literatur (was ich drunter verstehe) bin ich hier nicht begegnet bzw. habe es nicht erkannt. Aber kann ja noch kommen.

LG E.
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#5

Fortschritt mit Nebenwirkungen

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 24.06.2007 21:52
von Joame Plebis | 3.690 Beiträge | 3826 Punkte
Hallo Epiklord!

Das gibt mir zu denken, wenn Dich beim Lesen von Erich Kästner eine Schwere befällt. - Ganz frei von tiefen Gedanken sind seine Werke ja nicht. Vielleicht könntest Du
ein Gegenmittel in seiner 'Lyrischen Hausapotheke' finden.

Vielleicht stellst Du an Dich selbst zu hohe Ansprühe, willst zu viel auf einmal verwirklichen. Greife zu dem Thema, das Dir nach Deiner Tagesverfassung am besten liegt.
Nur nichts mit 'Muß' erzwingen wollen und stets locker bleiben!

Deine Interessensgebiet der Biologie ist ein sehr schönes Gebiet, das auch mir nahesteht - es sagt schon einiges über Dich aus.
Schreibe einfach Deine Worte, eifere nicht unbedingt anderen nach, nur das kann ich empfehlen.

Für den 7. Juli, wo Du Dich vorübergehend aus dem Netz gehst und Dich möglicherweise entspannender Lektüre widmen kannst, fände ich Nietsche, ebenso Voltaire weniger geeignet. - Wie wäre es, einfach einige Gedichte älterer Meister zu lesen. - Zeitgemäße Thematik, an deren Vielfalt und Widersprüchlichkeiten mir kaum eine Orientierung möglich scheint, wird vermutlich wenig helfen, Deine innere Ruhe ud Deinen Standpunkt zu finden; da müßtest Du schon einen glücklichen Griff haben.

Wäre es nich alleine schon eine Aufgabe, uns zu erklären,
was Du unter dem Wesen der wahren Literatur verstehst, dem Du hier nicht begegnet bist?
Gegenläufige Antworten und Verwirrendes im Netz sollten Dich nicht beunruhigen. Hier gibt es sehr gegensätzliche Meinungen - und nur wenig Großartiges.

Freundlichen Gruß!
Joame
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#6

Fortschritt mit Nebenwirkungen

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 25.06.2007 16:14
von Epiklord (gelöscht)
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Ja, „wahre Literatur“, da habe ich ja schön etwas geschrieben. Nun, ich meine, bisher habe ich ja Texte verfasst mit dem Vorsatz, ein gedrängter Beginn, Mittelteil, möglichst am Ende eine Pointe, und alles unterhaltsam gestalten. Man nennt es wohl handwerkliche Versuche. Umsonst waren die vier Jahre Netzarbeit an den Geschichten nicht, hat sich doch mein Sprachvermögen etwas optimiert. Ich bin zufrieden. Aber es gibt doch noch die anspruchsvolle zeitgenössische Literatur. So etwas zu versuchen, wäre doch eine nächste Herausforderung. Dazu könnte ich mir vorstellen, sagen wir mal, fünf vorbildliche Musterkurzgeschichten des anspruchsvollen Typus verschiedenster Art zu Studienzwecken zur Verfügung zu haben. Wissenschaftliche Sachtexte halte ich für nicht so geeignet. Leider habe ich aber keine Ahnung, was in Frage kommen könnte. Und da würde ich mich freuen, könnte mir jemand entsprechende Autoren bzw. deren Kurzprosa empfehlen. Nachahmung ist natürlich nicht das Ziel. Zu erforschen, anhand der Texte, was Literatur überhaupt ausmacht, wäre zunächst notwendig.

LG E.
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#7

Fortschritt mit Nebenwirkungen

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 25.06.2007 16:51
von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte

Zitat:

Epiklord schrieb am 25.06.2007 16:14 Uhr:
Dazu könnte ich mir vorstellen, sagen wir mal, fünf vorbildliche Musterkurzgeschichten des anspruchsvollen Typus verschiedenster Art zu Studienzwecken zur Verfügung zu haben.



Probier es mal mit Alice Munro. Infos über sie findest Du überall im Netz und ich habe sie auch schon im Büchertread vorgestellt.

Gutes Gelingen!

Gruss
Margot

Die Frau in Rot

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#8

Fortschritt mit Nebenwirkungen

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 25.06.2007 22:59
von Arno Boldt | 2.760 Beiträge | 2760 Punkte
Ich finde auch die Prosa von Heiner Müller nicht nur in der Forschung total unterschätzt. Dort sind zwar die - für Müller - altbekannten Themen verarbeitet; das aber nichtsdestoweniger hervorragend.

BG,
AB.

http://arnoboldt.wordpress.com/
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#9

Fortschritt mit Nebenwirkungen

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 28.06.2007 17:44
von Epiklord (gelöscht)
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Ich habe bisher längere Textsorten wie Romane und Novellen nur angelesen (außer leidige Pflichtlektüre). Schnell habe ich jedes mal aufgegeben, weiter zu lesen, genau wie ich bald nicht mehr hinhörte, wenn meine Nachbarin ihre Anekdoten über ihre Freundin zum Besten gab. Aber ich werde mir das vielversprechende Buch „Tricks“ von Alice Munro zulegen. Kann ja sein, dass sich mir doch noch eine Lust an Literatur begegnet.

Danke für eure Empfehlungen.

LG E.
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