Redendes Buch
Ich stehe mit anderen Werken im Bücherregal meines neuerlichen Besitzers. Vielleicht habe ich sieben Siegeln, eventuell bin ich eines der offenen. Jeder Leser hat seine ganz eigene Sichtweise, persönliche Erfahrungen, Phantasien und Empfindungen. So würde wohl ein Jeder anders antworten.
Mein Erinnerungsvermögen reicht gerade aus, um sagen zu können, wann ich gedruckt wurde. Über meinen Verfasser weiß ich nicht sonderlich viel außer seinem Namen und dass er teils Tag und Nacht an mir und meinen Inhalt arbeitete. Nicht selten hielt er seine Fingerspitzen an Stirn und Schläfen gepresst, während er unruhig durch die Wohnung lief, hin und her.
Man kann sich das vorstellen wie bei einem Mozart, einem Haydn, einem Beethoven als Schüler beider, wie er abends komponierend mit Kerzen am Flügel das siebente Notenblatt zerreißt.. Irgendwo in einer kleinen Kammer in Wien die weiße Langhaar- Lockenperücke mit dem vielleicht samtschwarzen Bändchen um den Zopf sich vom Schädel zerrt, um seine Kreativität zu befreien. Von einem Schädel, von dem das Haar schon ab Mitte Zwanzig den Kopf wie welkes Blattwerk den Baum verlassen hat.
Verzweifelt hatte er das Manuskript seinerzeit zu mehreren Verlagen gesandt, sich selbst unschlüssig, ob nun die endgültige Version vorläge.
Das ist sozusagen mein Blick in die Vorvergangenheit, und ich denke, eigene meiner Mitbücher vermögen ihre Werdung ebenso zu erinnern. Was mir Sorgen macht, ist die spätere Vergangenheit, die jüngere. Weil ich sie nicht erinnere. Wer nahm mich das erste Mal zur Hand – wer schlug mich als erster Leser auf? Durch wie viele Hände bin ich seither gereicht worden?
Ich stehe also im Regal, zwischen andere Bücher gequetscht, mein Einband ist an den Ecken eingedrückt, viele Seiten wurden mit 'Eselsohren' versehen – oder es ist einfach passiert. Einige Textstellen wurden markiert, auf etlichen Seiten wurden Fußnoten angebracht.
Ich erinnere mich an Sonnenschein und dass ich schon mehrfach aufgeblättert auf einem Tisch lag, der Wind meine Seiten flattern ließ, ein wenig Regen mein Papier tränkte. Und wie ich dann rasch geschnappt und schützend in einen Rucksack zwischen feuchte Badesachen gestopft wurde.
Allerdings habe ich mittlerweile zu viel Zeit im Dunkel verbracht, in Kisten, in Kellern, in Containern. Als Stütze wackliger Schränke sogar fungierte ich. Manchmal wäre mir lieber gewesen, ich wäre endlich einfach vermüllt worden, zerrissen, geschreddert oder verbrannt. Blättert heutzutage jemand in mir, riecht er leichten kellerüblichen Moder. Auf dem speckigen ledernen Lesezeichen, das zwischen Hauptteil und Epilog klebt, steht in eingeprägten Lettern mein Titel: 'Mea culpa'. Es mag Jemanden gegeben haben, der sich dadurch angesprochen fühlte.