#1

Andacht

in Diverse 07.05.2008 17:58
von Alcedo • Mitglied | 2.708 Beiträge | 2838 Punkte
Andacht


Eines grauen Oktobermorgens
lenkte ein gläsernes Knistern zu meinen Füßen,
meinen Blick herab zu Dir, blaue Libelle:
es war dein lahmes Schwirren
im Riede des Sumpfes;
die Kälte des Herbstes
hatte dich des Fluges beraubt.
Ich reichte dir meine Hand
und wir warteten beide
bis die Sonne dich wärmte.

Heute gedenke ich Deiner,
blaue Libelle.
Während die Halme des bereiften,
dorren Grases
im Licht des Vollmonds bleichten,
erlosch das Leben in Dir, blaue Libelle.

An meinen Finger geklammert,
spürt' ich dein Leben -
ein Vibrieren der Muskel
in blauem Chitin;
vertiefte meinen Blick in schillernde Augen
und tausendmal sah ich
den grauen Himmel,
die kahlen Äste der Eichen
und das fahle Gras,
aus dem ich mich mit Dir erhob.
Im Schatten des Riedes
brachst Du deine Flügel -
ein vergeblich Bemühn,
ein Verbrauch letzter Kraft.
Verbrüdertes Leben
verwandelt Dein Streben
in geduldiges Warten
auf der Wärme der Hand.

Wir warteten beide.
(Wart ich noch immer?)
Noch wärmt deine Sonne,
verflüchtigt die Nebel
und gibt dir die Kraft
dich zum Flug zu erheben.
Beschwingter Gedanke,
entflieh meinem Willen
und träum die Vision einer glücklichen Welt!
Ich ahn' es im Denken
und fühl es im Lieben:
das Warten wird enden,
ich werd' mit dir fliegen,
von Hoffnung geleitet
stets vorwärts getrieben -
die Grenzen des grauen Alltags
will ich durchbrechen
durch Denken und Fühlen
und liebend.
Kein Nebel der Sinne,
kein Herbst der Gefühle,
kein Mensch wird mich halten!
Nur Liebe und Freude
und Glück will ich sehen
und die Farben des Frühlings
als Libellen im Fluge!



e-Gut
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#2

Andacht

in Diverse 12.05.2008 18:34
von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte
Hallo Alcedo

Ich mag Libellen, auch wenn sie mir immer etwas unheimlich sind.

Das ist ja ein bombastisches Werk, das Du hier abgeliefert hast ... und irgendwie ... ich weiss nicht recht, ein wenig atypisch für Dich. Vor allem die Zeilenschaltungen sind mir zu unüberlegt gesetzt, bzw. sehe ich an vielen Stellen nicht, weshalb und wieso. Gibt’s dafür eine Erklärung?

Im Weiteren fällt mir der Zeitensprung auf. Du fängst in der Vergangenheit an, fährst dann im Heute weiter, um gleich wieder in die Vergangenheit zu fallen. Wenn die Zeilen: Heute gedenke ich Dir, blaue Libelle.... als Einleitung zu einer Rückblende fungieren sollen, dann musst Du das besser Kennzeichnen, bzw. gehört dort auf alle Fälle eine Zeilenschaltung hin.

Irgendwie ist mir der Text auch ein wenig zu unausgegoren. Will heissen, es wechseln sich munter poetische Begriffe (Riede) mit normalen ab und plötzlich tauchen Elisionen auf (spürt’, vergeblich Bemühn), die eigentlich unnötig sind. Gibt’s dafür eine Erklärung? *g

Am Ende wird das Werk wahnsinnig pathetisch, und ich frage mich, ob so ein kleines Insekt wirklich der Auslöser für eine solche Fülle von Wünschen und Hoffnungen sein kann, oder ob der Protagonist nicht einfach einen an der Klatsche hat. Lach .... kleiner Scherz ... aber Du weißt sicher, wie ich das meine.

Ein paar Begriffe und Bilder finde ich sehr gelungen: gläsernes Knirschen / die tausend Himmel, gespiegelt in den Facettenaugen ... zum Beispiel. Ansonsten ist es mir persönlich aber viel zu lang, mit unnötigen Wiederholungen und etwas aufgebauscht, als hättest Du versucht, unbedingt poetisch über die blaue Libelle zu schreiben. Wenn ich könnte, würde ich mit dem Rotstift vehement kürzen. Aber ich bin ja keine Lehrerin, gelle.

Gruss
Margot


P.S. Und die letzte Zeile solltest Du überdenken, bzw. muss da doch Einzahl hin ... oder gibt's dafür eine Erklärung?


Die Frau in Rot

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#3

Andacht

in Diverse 13.05.2008 10:58
von bipontina (gelöscht)
avatar
Lieber Alcedo,

ich l i e b e Naturgedichte, auch wenn sie (wie hier wohl) teilweise symbolisch gemeint sind.
Zwei Fragen/Anmerkungen seien mir erlaubt:


Heute gedenke ich Dir, (Heute gedenke ich Deiner...??)
blaue Libelle.
Während die Halme des bereiften,
dorren Grases
im Licht des Vollmonds bleichten,
erlosch das Leben in Dir, blaue Libelle.

An meinen Finger geklammert, (Als Du meinen Finger umklammertest...... /ich weiß, das klingt nicht elegant, aber Deines ist sehr mißverständlich bzw. kann als ungeschickt betrachtet werden **)
spürt' ich dein Leben -
ein Vibrieren der Muskel (schön gesagt, aber enthält Chitin eine(n) Muskel ?)
in blauem Chitin


**): Beispiel:
Der Dichter saß in seiner Kammer.
Kaum die Finger gerungen habend,
brach die Nacht herein. //// Schlechtes Beispiel, ich weiß. Aber vielleicht erkennst Du, was ich meine.

Das Gedicht ist, obwohl ich so freie Formen nicht bevorzuge, ein wunderschönes Natur-Liebes-Hoffnungs-Gedicht.
Der Aufbruch in den letzten Zeilen ist bezaubernd.

Lieben Gruß
von
bipontina
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#4

Andacht

in Diverse 20.05.2008 10:14
von Alcedo • Mitglied | 2.708 Beiträge | 2838 Punkte
hallo Margot

für das Atypische gibt es eine Erklärung: es ist mein Erstes Gedicht. ich hatte es im zarten Alter von 22 Herbsten zu Papier gebracht. es ist also schon eine Weile her.

mittlerweile hab ich aber ein wenig daran herumgefeilt.

Zitat:

Margot schrieb am 12.05.2008 18:34 Uhr:
Wenn die Zeilen: Heute gedenke ich Dir, blaue Libelle.... als Einleitung zu einer Rückblende fungieren sollen, dann musst Du das besser Kennzeichnen, bzw. gehört dort auf alle Fälle eine Zeilenschaltung hin.


das kann ich somit nicht gelten lassen. schließlich hab ich die Zeilenumbrüche bei einer Handvoll Zeilen optimiert (dachte ich) und die Leerzeilen bei der aktuellen Überarbeitung (speziell für den Tümpel) extra eingebaut. diese Präsens-Strophe hebt sich doch optisch schön ab. ich möchte das eigentlich nicht spezieller, etwa kursiv, kennzeichnen. der Text soll aus einem Guss erscheinen und nicht wie eine Montage wirken (ursprünglich war es e i n großer Block mit zwei Absätzen gewesen).

die Libellen braucht es in der Mehrzahl um die volle Farbpalette zu haben. bei der Großen Königslibelle (-> Anax imperator), die ich hier besang, ist z.B. nur das Männchen so schön Blau. das Weibchen ist Grün. hier braucht es dann schon zumindest ein Pärchen für die Mehrfarbigkeit. übrigens sind es keine kleinen Insekten. Körperlänge und Flügelspannweite sind grösser als bei einigen Vögeln. auch die Flugkünste und -geräusche sind auffällig. so ein Tier ist über jedem Tümpel und auf jeder Lichtung eine eindrucksvolle Erscheinung und erregt fast zwangsläufig die Aufmerksamkeit des Betrachters.

die Elisionen dachte ich zu brauchen, damit das Metrum zuletzt deutlich vom Trochäus in den vorwärtsdrängenden Anapäst umschlagen kann und weil teilweise damit die Betonung des "ich" vermieden wird. ausserdem wollte ich eine gewisse enthusiastische Hastigkeit im Sprachfluss beibehalten.

den Satz mit der Klatsche nahm ich sofort persönlich. nicht nur wegen dem Scherz, und weil ich solche Scherze noch nie verstanden habe, sondern auch weil du dem Text einen "Protagonisten" und kein lyrisches Ich zubilligst. deshalb möchte ich an der Stelle nachhaken: ist dir der Text von den ersten Zeilen an lyrisch vorgekommen, oder nicht?
natürlich weiß ich auch, Margot, dass Scherze und Albernheiten nicht überbewertet werden sollten. auch grolle ich dir deswegen nicht. aber bitte versuch das zu verstehen: du kannst immer getrost davon ausgehen dass ich n i c h t weiß was Du meinst, oder was andere meinen.

freut mich dass du wenigstens ein paar Begriffe lobenswert fandest. wahrscheinlich bist du eine Leserin, die alle Oden des Pathos wegen scheut, wie die Mehrzahl aller Lyrik-Konsumenten. ich wiederum ertappe mich aber auch heute noch häufig dabei, wie ich pathetische Verse aufs Papier kritzele und oft nicht den Mut, oder die Ausdauer habe, solche Ideen auszuarbeiten. aber man fällt sich ja auch selber in die Feder weil letztlich die leidige Qualität viel zu oft zu wünschen übrig lässt.
ich weiß es gibt viel zu wenige, die Oden etwas abgewinnen könnten, aber ich glaube ich sollte vor allem daran arbeiten, dass mir dies gleichgültig sein kann. und - hej - vielleicht betreibe ich auch mal etwas Werbung in eigener Sache:

Leute, schreibt Oden! mehr Oden bitte! ich konsumiere Oden wahnsinnig gerne. mir läuft schon das Wasser im lyrischen Schlund zusammen, wenn ich nur das Wörtchen "An" in einer Überschrift lese oder "Ode", hach, Ode ...
aber beginnt jetzt bitte nicht den humoristischen oder den satirischen Sektor zu füllen nur um dem Alcedo eins auszuwischen. das wäre leicht, viel zu leicht! öffnet die Schleusen: lasst puren Pathos mutig zwischen die Zeilen strömen, lasst euch von Schiller und Hölderlin beseelen und all ihren Brüdern und Schwestern im Geiste. lasst hören! und sorgt euch nicht! schlechte Qualität verschwindet zuverlässig und auf bewährte Weise unter Schwemmschlamm und bedeckt von der Algenblüte grünen Zeitgeistes, am Grunde des Tümpels.


so, wo waren wir geblieben? was? Margot, du schmunzelst? na warte, wenn ich mal einen guten Tag habe, schreib ich eine Ode aufs Abschiedsgedicht, dass dir vor Pathos hören und sehen vergeht, du Schuppenechse, du!

ach, und last but not least: danke für deine ausführliche Rückmeldung zu meinem ersten Text und sorry dass ich abgeschweift bin.

Gruß
Alcedo

____________________________

hallo bipontina

freut mich, dass zumindest der Aufbruch in den letzten Zeilen bezaubern konnte.

ein Vibrieren der Muskel
in blauem Chitin;


die Ummantelung der Muskeln besteht aus Chitin. das ist sicher richtig. ob man hier aber "Muskel" oder "Muskeln" schreiben sollte weiß ich nicht. vielleicht ist ja beides korrekt.

deine anderen Vorschläge erscheinen mir wenig vorteilhaft. trotzdem: merci.

Gruß
Alcedo



e-Gut
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#5

Andacht

in Diverse 20.05.2008 13:50
von Joame Plebis | 3.690 Beiträge | 3826 Punkte
Guten Tag, Alcedo!

Andächtiges Denken gleitet in eine Vision über, die den Schreiber ergreift und sich auch auf den sensiblen Leser übertragen kann.
In diesem Fall ist es, gut gewählt, die Libelle, die als zartes zerbrechliches Wesen gedanken- und gefühlsauslösend fungiert. Die Stimmung inklusive der so schwer zu vermittelnden und auch nicht niederzuschreibenden Gedanken, die unausgesprochen blieben, sind für mich voll nachvollziehbar.

(Der erwähnten Hinweis zu 'gedenke ich Deiner'
ist ernst zu nehmen.)

Tatsächlich ist es ein Werk von Dir, das mich sehr überrascht!

Gruß
Joame
nehmen.)

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#6

Andacht

in Diverse 20.05.2008 22:41
von Alcedo • Mitglied | 2.708 Beiträge | 2838 Punkte
hallo Joame

die Nachvollziehbarkeit und das implizierte spröde Lob freut mich sehr.

du meinst bipontinas Vorschlag "gedenke ich Deiner" wäre zu bevorzugen, oder gar als einziges korrekt?
hab ich das vorschnell verworfen?

hm, ich dachte das einzig das "gedenke ich Dir" wäre korrekt.
aber ich kann es nicht begründen und womöglich liege ich (wieder mal) falsch.

verwendet man beim weiblichen Dativ-Objekt "Deiner"
und bei maskulinem Dativ-Objekt "Dir"?
also dann wäre:

Heute gedenke ich Dir, Udo.
und
Heute gedenke ich Deiner, Ute.

dann müsste ich es natürlich gleich ändern.
wer ist versiert in deutscher Grammatik? bitte klärt mich auf.

Gruß
Alcedo




e-Gut
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#7

Andacht

in Diverse 20.05.2008 23:03
von Joame Plebis | 3.690 Beiträge | 3826 Punkte
Schönen Abend!

In beiden Fällen gedenkst Du ihrer, also 'ich gedenke Deiner, Udo und Deiner, Ute.
Zwar wenig gebräuchlich im täglichen Sprachumgang, dennoch nur so richtig. Hier merkt man, wie sich seltener Schriftverkehr auswirkt. Die Korrespondenz an den Chef um Gehaltserhöhung kann wohl nicht mitgezählt werden.

Das Lob kommt nur von spröden Lippen, soll aber nicht spröde sein. Auch habe ich Deinen Ruf nach Oden nicht vergessen, der fast schon auf Süchtigkeit hinwies.

Flüchtiger gelesen mag Dein Werk unscheinbarer wirken,
doch wer es bedächtig und situationsversinkend einwirken läßt, er wird es als verwandt erkennen.

Gruß
Joame
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#8

Andacht

in Diverse 20.05.2008 23:41
von Alcedo • Mitglied | 2.708 Beiträge | 2838 Punkte
Vielen Dank, Joame.
deine orthographische Selbstsicherheit färbte sogleich ab: jetzt glaube ich mich sogar zu erinnern dass mir das mit "ihrer" und "deiner" mal jemand beibrachte.

nunmehr überzeugt
Alcedo


e-Gut
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#9

Andacht

in Diverse 21.05.2008 12:07
von bipontina (gelöscht)
avatar
Lieber Alcedo,

Du bist mir doch hoffentlich nicht gram gewesen!
Das " gedenken...." ist eine so herrliche Formulierung, daß sie pfleglichst behandelt sein will.
Und jetzt ist es perfekt (Dein Gedicht)!
Ich lasse mich von ihm in köstliche Weiten entführen. Dort bette ich mich dann hinein (dort bette ich mich darein).

Ein wundervolles Gedicht!

Lieben Gruß
von
bipontina
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#10

Andacht

in Diverse 21.05.2008 12:19
von Alcedo • Mitglied | 2.708 Beiträge | 2838 Punkte
nein, ich bin dir dankbar, denn ich hab wieder was gelernt.
die deutsche Rechtschreibung hat auch ihre köstliche Weiten.

Gruß
Alcedo



e-Gut
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