Branitz, 5.12.2019
Liebe Petra,
von Angesicht zu Angesicht, scheint alles wahr. Wir sind noch zu Zweit, Eheleute, Gefährten im Spiegel. Du schaust immer zurück, streckst mir die Zunge raus, gibst mir einen dicken Kuss auf die Wange, lachst lausbübisch und mahnst mich, den Strauchdieb und Seeräuber, endlich mal wieder zu rasieren. Ich weiche dann zum zweiten Waschbecken aus, bin brav und nach der Rasurtortur, mit den üblichen Schnittwunden, erhalte ich den ersehnten zweiten Kuss. Er glüht lange nach, erinnert, es ist über sieben Monate her, dass du so schrecklich gestürzt bist, der letzte Kuss war eine halbe Stunde zuvor, im Nachhinein war es ein vorletzter Liebesbeweis, ein vorgezogenes Lebewohl und wir waren noch im Glück, obwohl ein unsichtbares Damoklesschwert über uns und unsre unbekümmerte Ahnungslosigkeit schwebte. Hätten wir es wissen können, was mit uns bald danach geschehen würde? Mir wird kalt! Ich stecke in einer Zwangsjacke, wenn ich immerzu an das elende, noch mit schrecklichen Bildern Nachbohrende zurückdenken muss. Ich werde okkupiert, von Treibeis zerquetscht, die Bilder des Unglücks, die Treppe verschallen. Du bist verschollen, der Kampf gegen den Tod, gegen dein völliges Verschwinden vergeblich. Die Odyssee durch die Seelenhölle hilft nicht. Die Gewissheit, nichts wird mehr gut, erreicht alle Fasern des Körpers, der verloren zurückbleibt und aushält, was er eigentlich nicht aushalten kann und der sich trotzdem gegen den Untergang eines Familienglücks stemmt. Doch die Erkenntnis wächst, dein Tod aus Erbarmen, das Abschalten der Lebenserhaltungsmaschinen hinterlässt eine erbarmungslose Einöde, der man schwerlich entrinnen kann, ohne selbst beschädigt zu werden, denn es ist eigentlich eine Öde der Strohhalme, die der Zweisamkeit pö a pö jeden einzelnen Halm entzieht und uns Sterblichen nicht mehr zurückgibt. Du bist tot und ich taumle in unsrem Eigenheim zwischen aufgeschlagenen Büchern Stendals „Rot und Schwarz“, Moravias „Die Römerin“, Gogols „Die toten Seelen“ und Hugos „Dreiundneunzig“ und erlebe 2019 als mein dunkelstes Jahr. Draußen bellt der Hund wie eh und je, könntest du mir doch wieder über deine Gefühle erzählen, wenn er zu kläglich und verloren bellt, weil sein Herrchen gestorben ist!
Nachdem ich das schwankende Treppenlicht auf ein Minimum anlasse, erfasst mich wieder eine seltsame Dunkelheit, das ungestirnte Nachthimmel-Schwarz eines phantasierten Nachtwächters von Hans-Christian Andersen, dessen Märchen du immer so gern gelesen hast gespenstert, die Treppe unten knarrt, mein Herz hüpft, ich rufe Petra, stoße die Schlafzimmertür weit auf, eile die Treppe hinunter und finde nur dieselbe Dunkelheit von oben, die sich in der Wohnstube breit macht und alles ehemalig Lebendige erobert. Noch immer habe ich es nicht geschafft, den Advent zuzulassen, nirgends glimmt es vorweihnachtlich, sondern der April hat sich in den Ecken festgesetzt, deine Kissen auf den Sofa liegen noch so, als ob du gleich deine Position einnimmst, um mit mir über die Playstation zu scrabbeln und mich wieder zu überraschen, wieviele Worte du parat hast und wie wenig Chancen ich habe, dich auf diesem Spielfeld zu besiegen. Das Bücherregal mit den viele Artia-Sagen und -Märchen staubt ein und das Bild, was Tobi mir mit seiner Freundin Nicole aus Griechenland mitgebracht hat, blinzelt in einem Mittelmeerblau, dass mir sehr schwer ums Herz wird und die akustische Halluzination sich ausweitet. Welle über Welle überrollt mich, ich schlucke zu viel Wasser und schmecke das Salzige und bin erstaunt wie damals, wie viel salziger das Wasser des Mittelmeers ist als das von der Ostsee. Doch diesmal ist es das Salz meiner Tränen, die nicht aufhören wollen zu fließen und ich stemme mich umsonst gegen die halluzinativen Wellen, die mich nicht entlassen, mir zusetzen. Es ist die Welt von gestern.
Andy