#1

Grenzübertritt

in Gesellschaft 02.10.2016 06:03
von Antigone | 85 Beiträge | 85 Punkte

Hier war ich nie
in dieser Stadt, die doch
die meine ist, hier war ich einst
und bin es nie gewesen.

Fremd bin ich
den Mauern, Fensterkreuze
erkennen mich nicht -
fremd die Fremde.

Erinnern löschen
ist, was mir geblieben,
ein kleiner Schmerz.
Erklärbar nicht.

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#2

RE: Grenzübertritt

in Gesellschaft 06.10.2016 09:51
von Alcedo • Mitglied | 2.708 Beiträge | 2838 Punkte

hallo Antigone

hier wird ein fiktiver Grenzübertritt beschrieben. fiktiv was die unsichtbare Grenze betrifft. die Begehung scheint real. das lyrische Ich überwindet innere Hemmungen, nach Erklärungen für diese suchend, ohne sie letztlich zu finden. die Grenze scheint wohl vom Ich selbst irgendwann gezogen worden zu sein, zur Abgrenzung eines einst vertrauten Gebietes.
lässt sich Erinnerung löschen? diese ganz konkrete Begehung, diese Überwindung kostende Grenzerfahrung scheint der Versuch zu sein, schmerzhafte Erinnerungen bewusst tilgen zu wollen.

Gruß
Alcedo


e-Gut
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#3

RE: Grenzübertritt

in Gesellschaft 06.10.2016 10:07
von mcberry • Administrator | 3.230 Beiträge | 3490 Punkte

Hallo miteinander,

die Zeilen lese ich anders. Seine innere Hemmung überwindet das LI m. E. eben nicht. Ein kaltes LI hat mit der eigenen Entfremdung zu tun, die so weit geht, daß nicht einmal der kleine Schmerz noch bezogen werden kann.
Auch gelingt es der Verfasserin authentisch, diese hoffnungslose innere Position zu beschreiben. HG - mcberry

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#4

RE: Grenzübertritt

in Gesellschaft 06.10.2016 16:39
von Antigone | 85 Beiträge | 85 Punkte

Danke Alcedo, danke Mcberry,

dieses Gedicht gehört in die Reihe meiner Berlin-Begehungen. Wie der Titel schon sagt, übertritt das Ich die Grenze, und zwar die von Ost- nach Westberlin. Als ich 89 wieder in meine alte Straße in Westberlin kam, war sie fremd, kaum noch erkennbar, andere Leute wohnten dort, ich, also meine Protagonistin, war die Fremde. Sie versucht mit dieser Fremdheit zurechtzukommen, aber ihr bleibt nur, die lange zurückliegenden Kindheitserinnerungen zu löschen. Wobei sie sich fragt, ob es sich lohnt, sich mit ihnen überhaupt noch zu beschäftigen. Sie hat lange ein anderes Leben gelebt, das keinerlei Bezug mehr zu ihrem früheren Leben hatte, das ihr heute eher unwirklich vorkommt. Nein, Alcedo, es ist kein "innerer" Grenzübertritt, sondern ein realer. Aber du liest das Gedicht richtig, das ist für den Schreiber immer eine Freude. Mcberry, du wertest, und so etwas geht immer, auch ungewollt, am Text vorbei.

Aber herzlichen Dank euch beiden fürs Reinsehen und Schreiben.

Gruß, Antigone

zuletzt bearbeitet 06.10.2016 16:51 | nach oben


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