#1

Grashalm im Orkan

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 10.10.2011 20:27
von Rainek Radar | 360 Beiträge | 360 Punkte

Jakob war vertraut mit der Tristesse. Harte Betten in kahlen Räumen. Kurzgeschorene Haare, wegen der Läuse. Jakob trug sein Haar am liebsten lang. Honiggelb und Lockig. Mit Langweile konnte Jakob umgehen. Er konnte einen Stein übers Wasser springen lassen. Mindestens neun Mal, bevor er endgültig unterging. Er konnte ein Liedchen trällern. Mit gespitzten Lippen oder auf einem Grashalm. Er konnte jonglieren. Mit sieben Bällen. Jakob konnte trinken. Bis zum Umfallen. Er konnte rauchen. Zwei Päckchen Zigaretten am Tag. Und Jakob konnte Gewichte heben. Bis zu 95 Kilo drückte er. Auch wenn dabei sein Kopf so rot wurde, dass man hätte meinen können, er würde jeden Moment zerplatzen. Jakob dachte eigentlich, dass er ganz der Mann war, der er immer hatte sein wollen. Er war überzeugt, dass sein Vater stolz auf ihn wäre, wenn er ihn heute sehen könnte.
Vor zwei Monaten hatte er eine Frau kennengelernt. Sabine. Sabine war anders als die restlichen Mädchen, die sich sonst so in der Disco herumtrieben. Da war zu einem die Tatsache, dass Sabine richtig gut aussah. Besser als die übrigen Mädchen hier, fand Jakob. Und dann war da noch ihre Anmut. Als Jakub Sabine das erste Mal auf der Tanzfläche hatte stehen sehen, sich windend und drehend zum wummernden Bass von „One Love“, da wusste er, dass er einem der beeindruckendsten Naturschauspiele beiwohnte. Ein Grashalm im Orkan, eine gleitende Welle bei ruhiger See, eine Königskobra, die ihre Beute hypnotiserte. Das waren die Worte, die Jakob an diesem Abend wählte, um Piet von Sabine zu erzählen. Lass mal die Kirche im Dorf, sagte Piet grinsend, über die ist schon die halbe Bude hier drübergerutscht. Jakob hat ihm eine reingehauen. Voll in die Zähne. Dabei hat er sich den kleinen Finger gebrochen. Er musste in die Notaufnahme und sich den Finger schienen lassen. Dem Arzt, der das tat, hat Jakob erzählt, wie er die Ehre eines Mädchens verteidigt hatte. Gegen fünf Georgier. Einer davon hatte ein Messer.
Die Schiene sorgte dann auch dafür, dass Jakob Sabine kennenlernte. Einen Tag, nachdem er Piet eine reingehauen hatte, was übrigens nichts an ihrer Freundschaft änderte, den beide, Jakob und Piet waren der Ansicht, dass es sich für eine wahre Männerfreundschaft durchaus geziemte, sich hin und wieder zu prügeln, also einen Tag später klingelte Jakobs Handy. Sabine. Sie hatte gehört, dass sich Jakob wegen ihr geprügelt hatte. Voll geil, meinte Sabine und verabredete sich mit Jakob noch für den gleichen Abend. So lernten sie sich also kennen. Sabine und Jakob. An diesem Abend bekam Jakob von Sabine einen geblasen. Als Dankeschön sozusagen. Nachdem sie fertig war und Sabine mit dem Kopf in seinem Schoß lag, da gestand Jakob ihr seine Liebe. Voll krass, sagte Sabine. Ja, antwortete Jakob, der sich eigentlich eine andere Antwort darauf erhofft hatte. Voll krass. Sabine schlief an diesem Abend nicht bei Jakob. Ich muss morgen früh raus, arbeiten. Jakob verstand das natürlich und verabschiedete sich von Sabine mit einem langen, feuchten Zungenkuss. Einem, der Sabine klar machen sollte, wie viel er für sie empfand. Er versprach ihr, sie am nächsten Tag anzurufen. Mach das mal, meinte Sabine im Treppenhaus, bevor sie sich ihren Mopedhelm aufsetzte und abrauschte.
Sendepause. Jakob und Sabine sahen sich die ganze nächste Woche nicht. Auch das mit dem telefonieren klappte nicht so richtig. Die ersten zehn Mal ging Sabine nicht ins Handy. Dann war es ausgeschalten. Jakob versuchte es einen Tag später mit unterdrückter Nummer. Eine Madeleine meldete sich. Sabine ist nicht da, meinte diese und kicherte, ich weiß nicht wo sie ist. Kannst mir ja was für sie ausrichten. Sie soll mich zurückrufen, sagte Jakob. Dringend. Aber Sabine meldete sich nicht. Sie kam auch nicht mehr in die Disco.
Sabine? , sagte Piet am nächsten Sonntag. Die hab ich gesehen, ja. Im „Jederzeit“, in der Meldemannstrasse, gestern. Alleine?, fragte Jakob durch zusammengebissene Zähne. Ne. Mit einem Typen. Den mach ich kalt.
Den Typen hat Jakub nicht erwischt. Aber Sabine und Madeleine. Piet kannte Madelaine. Er wusste, wo sie wohnte. Seine kleine Schwester war mit ihr in die Oberstufe gegangen. Er hat sie öfters von dort abgeholt, erzählte er. Voll die Sau, sagte Piet und meinte damit Madeleine. Am nächsten Freitag gingen er und Jakob zu ihrer Wohnung und warteten darauf, dass sie aus dem Haus kam. Dort wohnt sie, sagte Piet und deutete auf ein Fenster im zweiten Stock. Siehst du? Da ist das Licht an. Sie ist zuhause.
Um halb zehn kam sie aus dem Haus. Mit Sabine. Da ist ja die kleine Fotze, sagte Piet, als die beiden Mädchen in das automatisch angehende Licht der Parklampe traten. Beide Mädchen trugen kurze Röcke, hohe Schuhe und entsetzte Blicke, als sie herankamen und sahen, wer auf sie wartete. Na ihr Nutten?, fragte Piet, was solls´n kosten? Madeleine fand ihre Fassung als Erste wieder. Ist das der Spasti?, fragte sie Sabine. Sabine nickte und beide Mädchen lachten hysterisch. Komm, Jakob, die machen wir alle, sagte Piet und Jakob war einverstanden. Bevor sich die Mädchen versehen hatten, waren die beiden heran und begannen zu schubsen. Madelaine stürzte. Sabine kreischte, trommelte mir ihren kleinen Fäusten auf die Lederjacke von Jakob ein. Und dann ein Messer. Nutte! schrie Piet. Die Mädchen kreischten zuerst. Dann heulten sie. Irgendwo schrie ein Nachbar, dass die Scheisskinder im Hof endlich eine Scheissruhe geben sollten, bevor er die Scheissbullen riefe. Die Mädchen heulten, vergaßen dabei aber, um Hilfe zu rufen. Klappe! Schrie der Mieter aus dem vierten Stock nochmal, dann schloss er sein Fenster. Bitte! stammelte Sabine und das war der Augenblick, in dem Jakob sich entschied, davonzulaufen. Zu seiner Schande, wie er dem Polizisten noch in der gleichen Nacht am Revier erzählte. Da wären zwei Türken gewesen, die hätten versucht die Mädchen zu vergewaltigen. Einer von denen habe eine Pistole gehabt. Jakob war sich nicht sicher, ob es eine richtige war. Eher schon eine Gaspistole. Aber immerhin. Piet und er hätten sich mit dem Messer auf die beiden Türken gestürzt. Todesmutig. Das eigene Leben verachtend. Nur, um die beiden Mädchen zu beschützen. Aber dann wären noch vier Türken um die Ecke gestürmt. Und das war einfach zu viel. Mutig sein ist gut, sagte Jakob, aber am Leben sein finde ich besser.
Jakob fand die Besserungsanstalt eigentlich nicht so schlimm. Erinnerte ihn ein bisschen an zuhause. Was Jakob am meisten mochte, war das Fußball und die Stunde, die sie nach dem Abendessen zur freien Verfügung hatten, bevor das Licht gelöscht wurde. Meistens nutzte Jakob diese Stunde, um Briefe an Sabine zu schreiben. Entschuldigungsbriefe. Du musst verstehen, so begannen die meisten. Er hätte nicht gewusst, dass Piet ein Messer einstecken habe. Er hätte nicht gewusst, dass Piet Madeleine so gut kannte. Er hätte nicht gewusst, dass Madeleine das Kind von Piet abgetrieben habe. Es täte ihm leid. Aber er verstünde auch Piet ein bisschen. Schließlich sei niemand ernsthaft zu Schaden gekommen und alles sei nur passiert, weil so viel Gefühl im Spiel gewesen wäre. Sie wollten nur verstanden werde. ER wollte nur verstanden werden. Ernstgenommen werden. Und alle Briefe endeten gleich: Ich liebe dich und hege die Hoffnung, dass du mich besuchen kommst. Das du uns noch ein zweite Chance gibst. Das hätten wir nämlich verdient.
Jakob war vertraut, mit der Tristesse. Er wusste, dass man sich ihr nicht ergeben durfte. Niemals.

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#2

RE: Grashalm im Orkan

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 10.10.2011 22:59
von Gast (gelöscht)
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Diese Geschichte gefällt mir gut. Und ich habe heute auch kein Tippfehlerchen oder Mini-Ungereimtheiten entdeckt.
Einfach nur eine großartige Geschichte, bei der bis zum Ende für mich nicht klar ist, ob Sabine noch lebte oder nicht. Auch der Schluss stimmt nachträglich. Einfach mein Geschmack!

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#3

RE: Grashalm im Orkan

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 11.10.2011 11:25
von pistacia vera (gelöscht)
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Hallo Rainer,
du schreibst wirklich sehr professionell.
Bezogen auf den Stoff wird klar, dass sich aus dem Alltäglichen viel, manchmal alles ziehen lässt.
Vielleicht war es eine der heute so beliebten Bermerkungen, die im Vorübergehen aufgeschnappt wurden: "voll krass", "voll gut" etc, die den Autor inspirierten?
Kurz, knapp, auf das Wesentliche beschränkt, folgt der Text seinem eigenen Rhythmus und wirkt in sich geschlossen, obwohl der Ausgang offen bleibt. - Der gute Klang fällt mir besonders auf, der den (heimlichen) Lyriker erahnen lässt.
Kurzum: Voll schön!
pista

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#4

RE: Grashalm im Orkan

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 11.10.2011 19:30
von Rainek Radar | 360 Beiträge | 360 Punkte

hallo die damen;

schön, dass der text zu unterhalten wusste;
ja, ich denke, dass es durchaus zum handewerk gehört, die innere erzählstimme zu takten und melo-dosieren (genauso wie ent-) um´s lebendiger und spürbarer zu machen; wie alles andere im leben lebt mmn auch die literatur vom rhythmus und der melodie;

danke für die kommentare
mfg
rainek

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