#1

Kompostiert

in Märchen, Fabeln, Sci-Fi und Fantastisches 22.05.2011 11:37
von otto | 637 Beiträge | 645 Punkte

Er saß im Café.
Wie jeden Tag immer so.
Ihm gegenüber die Frau.
Atemberaubend schön; so fand er jeden Tag.
Las auf der Speisekarte: " Heute lieber Gast!"
Na denn.
Was denn?

Er konnte nicht absehen von ihr.
Sie konnte nicht von ihm absehen, war eingeschlafen.

Ihre Schläfen durchsichtig, jadegetöntes Chinaporzellan, seit Menschengedenken stundenkostbar dem Gast.
Lippen kupfrig im Zitter, abgeküßt, Stich ins depressive Grünoxid.
Auf klappten ihre Augen an den Scharnieren,
ein Klick, ein Klack, Stöckelschuhelider, links rechts.
Katzengelbe, mandelförmige, Tigerin, gefährlich, sprungwütig bereit.
Sie sah durch und durch ihn hindurch.
Hindurchblick starr.
Tiefgeschnitten das Kleid,
transparente Glasseide bodenlang.
Brüste marmon, Leib, südwärts marmon.
Übersteigungsgebirge im Café.

Eine Zigarette aus Silberetui,
goldenes Mundstück zu golden die Frau,
zeigt wer was hat,
sog tief.
Eine bunte Frau,
für nicht jeden Fall.
Kurzgeschnittene Haare, zinnfarben, streng, nach hinten gezogen,
erhob sich die strenge Frau,
mechanische Schritte ging sie,
zu auf ihn und war nah an ihm,
ihn schwindelte,
Säure aus den Lenden, stieg auf.

Ein Messer aus dem Nichts zwischen den langen Fingern,
-die hätten Debussy vom debüssieren abgehalten-
das Messer in seine Hand,
blitzblank, schnittwartend.

" Schneiden Sie bitte.
Die Gummibänder sind mir porös.
Und schneiden Sie sofort, erneuern sie mir das Ausgeleierte, Erschlaffte.
Unsereiner ist ausgelegen nach jedem Tag,
nachts erschlaffen die Bänder,
Träume dehnen,
kürzen sie.
Ja ausgelenkt will neu geknüpft sein und gestrafft.
Einer muß mir täglich besorgen.
Keinen Spaß macht es keinem sonst.
Ran!"

In Trance war er.
Erkannte die Nahtstelle.
Stelle wo Kopf und Rumpf berühren.

Tief führte er das Messer ein, sicher in den Spalt.
Rasch schnitt er, ein Blitz am Hals.

Er klappte das Messer zusammen.
Die Frau klappte zusammen.
Zerfiel vor ihm, bodenglatt jetzt lagernd.
Gestückelt rundum.
Ihr Kopf vom Schnitt noch lächelnd.

Kopf, Arme, Beine, Rumpf.
Schöne Bescherung.
Und der Kopf sagte kein einziges Wort.

Gäste traten heran.
Das Kind fragte die Mutter:
" War d a s die Puppe? Mutter!

Der Kellner trat dazu.
Champagner den Gästen reichend:

" Seien Sie unbesorgt, Damen und Herren.
Jeden Tag kommt sie zur gleichen Stunde.
Begehrt den Schnitt von diesem und jenem.
Am nächsten Tag ist sie wieder ganz beisammen.
Schauen Sie auf die Menükarte.
Morgen könnten sie an der Reihe sein.
Sie wählt.
Hat es ihnen nicht gefallen?
Sie müssen nicht wiederkommen.
Wie bitte?
Ich selbst bin längst gelangweilt.
Prost die Herrschaften.
Die Damen können stehen lassen.
.............................................................................................................................................................

Versuch für einen expressionistischen Text.

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#2

RE: Kompostiert

in Märchen, Fabeln, Sci-Fi und Fantastisches 24.05.2011 12:17
von Rubberduck | 558 Beiträge | 558 Punkte

Lieber Otto,

Ich bin vom Hocker....

Hier meine Schlüsselwörter zum Text:
stundenkostbar
Hindurchblick
marmon
mechanische
schnittwartend
ausgelegen
besorgen
Puppe
Sie wählt

Eine edle Puppe, die du hier beschreibst, doch bleibt sie Puppe, auch wenn sie selbst erwählt wem ihre Stunde kostbar ist. Eine Marionette, mechanisch ihre Bewegung, der Blick ohne Halt, die um Lösung bittet und doch tags darauf wie durch Zauberei wieder am Start ist. Verachtet und begehrt zugleich, deren Menue nicht für jeden bekömmlich ist.

Ein Meisterstück aus deiner Feder,

findet
Bärbel

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#3

RE: Kompostiert

in Märchen, Fabeln, Sci-Fi und Fantastisches 24.05.2011 14:30
von otto | 637 Beiträge | 645 Punkte

Liebste Leserin, die Du mir bist.

Du warst es ja, die mich zum Text inspirierte. Ich sprach bereits darauf an.
"Debussieren" habe ich substantiviert, mußte also groß geschrieben werden, na ja...

Dein Lob bedeutet mir viel.
Natürlich galt den Expressionisten maßlose Übertreibung.
Aber ihnen galt mehr noch den bürgerlichen Schein von den Scheiben zu wischen. Das gefiel vielen nicht.
Ich verstehe, dass Du den Text richtig eingeordnet hast.
Ich habe vermutet, dass die Foren ihn nicht bringen würden.
Noch etwas: Auch der Gast ist anfangs mechanistisch gedacht. Als er die Puppe zerstückelt, verändert sich etwas in ihm. Nie wieder wird er das Café betreten. Aber immer wird es Gäste in diesem Café geben.

Danke für das Lesen, danke für Deine Empfehlung. Auch das Lesen will gelernt sein.

Grüße an die einzige wirkliche Dame im Café.

otto.

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#4

RE: Kompostiert

in Märchen, Fabeln, Sci-Fi und Fantastisches 25.05.2011 08:53
von Rubberduck | 558 Beiträge | 558 Punkte

Lieber Otto,

du irrst, ich bin weder Dame noch Dirne, nur Mensch.

Denn ich sitze gerne breitbeinig da (weswegen ich Hosen in der Freizeit vorziehe) oder ziehe den Rock bei sommerlichen Temperaturen über die Knie. Ich lache zu viel und zu laut. Alles nicht gerade damenhaft und könnte durchaus als fragwürdiges Benehmen gedeutet werden. Doch so möchte ich diese Gesten nicht gedeutet wissen. Ich genieße lediglich meine Beinfreiheit und mag auch mein Lachen nicht zugunsten damenhaftem Getue einschränken.

Wenn allerdings ein Mann nach üppigem Mahl den Gürtel lockert und den Knopf öffnet, dann hält niemand das für anstandslos...

Ich schweife ab.

Der Gast, von dem du die Freundlichkeit hattest, ihn erneut in den Fokus zu rücken, ich habe über ihn nachgedacht. Ich lese gerade eine Biografie über Kafka, wie du weißt. Dort las ich, dass er seine erste Erfahrung mit einem Mädchen von Gegenüber machte. Eine „schnelle“ Liebe, ein leichtes Mädchen, man würde es heute einen One-Night-Stand nennen. Interessanterweise berichtet er, dass er zunächst nicht die Augen von ihr lassen konnte, nach dieser Nacht aber einen Ekel gegen sie entwickelte und sie nicht wiedersehen wollte.

Ich las etwas ähnliches über Absalom, einen israelitischen Prinzen, der seine Halbschwester Tamar
so sehr begehrte, dass er zu einer List griff, um sie zu haben. Doch sofort nach Gebrauch hasste er sie stärker als er sie zuvor geliebt hatte und das, obwohl in diesem Fall die Frau nicht mit dem einverstanden war, was ihr geschah.

Ein Versuch:
Ich stelle folgende These: Die Befriedigung der körperlichen Liebe ohne emotionale Nähe hat emotionale Folgen. Der Benutzer wirft alle evtl. Zweifel an seinem Tun von sich und projiziert mögliche aufkommende Negationen auf den Benutzten, so dass er sich selbst noch erträglich ist, nicht aber der Benutzte, der unsauber, ja „schmutzig“ (so formulierte Kafka es) bestenfalls gleichgültig erscheint. Man sucht das Weite. (Natürlich wenden jetzt viele ein, dass das ein angestaubtes Bild einer Prostituierten ist, dass das heute ein ganz normaler Dienstleistungszweig wäre. Und doch fällt den meisten der Ausstieg aus diesem Gewerbe unsagbar schwer, der Rückweg in ein „normales“ Leben erscheint ihnen erstrebenswert aber nicht machbar. Wie du weißt, hatte ich mich ja mal im Verbindung mit einem Gedicht eingehender mit dieser Problematik beschäftigt.)

Auch in deinem Text wird durch den Kellner diejenigen der Gesellschaft dargestellt, die das Vorhandensein dieser Frau zwar als gegeben hinnehmen, sie aber abwerten, die Nase rümpfen. Die anderen sind Schaulustige, die sich an ihrem zerstückelten Zustand weiden, gerade so wie es auch immer Schaulustige an Unfallorten gibt. Nach einer Weile löst sich der Knoten, alles setzt sich wieder an seine Plätze.

So mag auch der Gast, der zuerst von der Frau geblendet war, sich etwas anderes von dem Kontakt erhofft haben als er bekam. Er wurde durch die Benutzung verändert und betrat dieses Café nie wieder. Natürlich hakt meine These, denn es gibt allerdings genügend andere, die ein solches Café wiederholt aufsuchen.

Zum Schluss gestatte mir noch folgendes:
Ich habe d a s Lesen nie gelernt. Natürlich habe ich Lesen in der Schule gelernt, nicht aber das Lesen im Sinne der Interpretation.

Wenn ich es doch erlernt habe, dann von den Lyrikern, die mir gütiger weise meine Fragen nach dem „Warum“ zu ihren Texten erläutert haben, die ich zwar erfühlen aber nicht verstehen konnte.

Danke,
Bärbel

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