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Second Life
in Märchen, Fabeln, Sci-Fi und Fantastisches 18.04.2011 17:19von hans beislschmidt • | 160 Beiträge | 245 Punkte
Cita blickte am Monitor vorbei, hinunter auf die riesige Trabantenstadt mit ihren gigantischen Betonklötzen, als der Türsummer dreimal kurz hintereinander ertönte.
„Ich bin beschäftigt, hau ab!“ schrie sie in Richtung Tür.
„Controller Kain“ kam die gedämpfte Antwort durch die Tür.
Cita erhob sich ächzend aus ihrem Gamersessel und nahm die Elektroden ab. Vorsichtig schob sie die beiden Riegel zurück und öffnete. Der Controller betrat wortlos die Wohneinheit und stellte die zwei Container Protolac in die Ecke . Mit prüfendem Blick schaute er sich um und zog sein kleines Terminal aus der Tasche.
„Bitte einmal quittieren“, murmelte er mit tonloser Stimme - „und hier habe ich noch ein Schreiben von New Life, wenn sie bitte auch hier den Empfang quittieren würden“.
„Ich unterschreibe nichts, gar nichts! Nie wieder werde ich etwas unterschreiben“, sagte sie und ließ sich in ihren Sessel fallen.
Kains Blick fiel auf die spärliche Einrichtung. Eine Pritsche, eine kleine Toilette mit Waschbecken, zwei Kartons mit Schmutzwäsche, die riesige Spielkonsole mit den drei Monitoren.
„Sie wissen, was passiert, wenn sie nicht unterschreiben“, antwortete er mit gleichgültigem Tonfall. Seine Stimme wurde etwas schärfer „wir mussten ihren Account schon zweimal für eine Woche sperren“.
“Ihr seid doch gnadenlose Schweine, alle miteinander“ sagte Cita voller Abscheu und begann sich wieder die Elektroden anzulegen.
„Machen sie doch keine Schwierigkeiten und geben sie ihren Arm her“ sagte Kain und riss die Folie mit der Kanüle auf. Resigniert hielt Cita ihm den linken Arm hin und prüfte mit der anderen Hand den Sitz ihrer Elektroden am Kopf.
„Dann könnten sie wenigstens die beiden Klemmdioden befestigen. Sie sehen doch, dass ich nur eine Hand frei habe“.
Kain nahm die beiden Klemmen und machte sie an ihren Brustwarzen fest. Dann stach er die Kanüle in ihren Unterarm. Langsam begann das Blut durch den dünnen Schlauch zu wandern und den Plastikbeutel zu füllen.
„Was ist mit den anderen Klemmen?“ flüsterte Cita und begann auf der Tastatur zu klappern. Die drei Monitore wechselten prompt vom Standbild auf Szene. Fasziniert beobachtete Kain die Handlung auf den drei Welten.
„Da siehst du, was ich mit dir machen kann, wenn ich dich mal auf Urgent Island zu fassen kriege“, sagte sie und deutete auf den mittleren Monitor.
„Für die Mitarbeiter ist die Teilnahme an New Life strengstens verboten“ sagte Kain und holte einen zweiten Beutel hervor. „Sind sie immer so streng?“
„Was glaubst du denn? Es hat lange genug gedauert, bis ich auf diesem Level war. Auf Antar World bin ich sogar Oberstaatsanwältin. Was ist nun mit den anderen Klemmen?“
Cita rückte etwas nach vorne auf ihrem Sessel und Kain beugte sich nach unten, um zwei weitere Klemmen anzubringen. Für einen kurzen Moment zuckte Cita zusammen.
„Mich hat schon lange kein Mensch mehr angefasst“ sagte sie, während sie weiter die verschiedenen Personen auf den Monitoren dirigierte.
Kain wechselte geschickt den Blutbeutel und sagte „sie sind sicher eine wichtige Person in New Life. Das nächste Mal brauche ich etwas Rückenmarksflüssigkeit von Ihnen“.
„Was?“ – sagte sie und drehte sich um. „Niemals! - wagt euch“.
„Ist doch für einen guten Zweck. Medizinische Forschung – sie wissen schon. Die brauchen das für die Synapsen Regeneration. Sie haben sicher sehr gute Synapsen“.
„Woher willst du das wissen? Du bist doch nur ein kleiner Controller.“
„Das sehe ich“ sagte Kain und beobachtete, wie die blauen Adern auf ihrem kahl rasierten Schädel pulsierten. Kain versorgte die Einstichwunde und verstaute die beiden Beutel.
„Pfff, gar nichts siehst du“ schnauzte sie.
„Ich muss jetzt los. Vergessen sie nicht etwas zu essen“ sagte Kain mit sanfter Stimme und deutete auf die beiden Plastikcontainer - „und machen sie mehr Pausen. Ihr Timer sagt, dass sie schon 72 Stunden online sind“.
„Hau endlich ab, du Loser“ sagte sie und kicherte leise.
Vorsichtig zog Kain die Tür zu.
Das Leben ist kurz aber es geht vorbei
RE: Second Life
in Märchen, Fabeln, Sci-Fi und Fantastisches 18.04.2011 17:46von mcberry • Administrator | 3.230 Beiträge | 3490 Punkte
Hallo Hans Beislschmidt,
dieser Typ Kain ist bekannter als ich dachte. Aber auch sonst trifft der Text voll ins Schwarze.
In der Klemme sitzen und das Maul riesengroß aufreissen: Figuren wie aus dem wirklichen Leben.
Zum First Life fällt mir ein:
Zuhause als Roomboy im Dauereinsatz und online Administrieren, das kenne ich auch irgendwoher.
Die Sache mit dem Aderlaß hätte ich eher dem Finanzamt zugetraut. Durchaus möglich, dass Inkasso
Eintreiber für mehrere Interessengruppen gleichzeitig unterwegs sind. Gelungene Inszenierung. - mcberry
RE: Second Life
in Märchen, Fabeln, Sci-Fi und Fantastisches 18.04.2011 21:02von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte
Hallo Hans, finde ich auch gut! Eine glaubhafte Zukunftsvision, Menschen, die ihre zweiten Leben auf irgendwelchen virtuellen Welten der fleischlichen Existenz vorziehen. Sagte ich Zukunftsvision? Bis auf Controller Kain und die Elektroden, die auf eine raffiniertere Version der Virtualität hinweisen, auf ausgefeiltere Pixelwelten, ist das ja gar nicht so weit weg. Kenne da ein paar Leute, die tagelang online sind, und von der Kiste total eingesaugt zu werden scheinen. Gut eingefangen ihre Schnauze, die kommt vielleicht vom Widerwillen mit jemand aus Fleisch zu kommunizieren? Sie sagt ja auch, dass sie schon lange nicht mehr berührt wurde. Wobei ich ihren Standpunkt nachvollziehen kann, nichts unterschreiben zu wollen - in dem Punkt ist mir die Frau Oberstaatsanwältin nah.
Kjub
RE: Second Life
in Märchen, Fabeln, Sci-Fi und Fantastisches 19.04.2011 08:44von hans beislschmidt • | 160 Beiträge | 245 Punkte
Hey, Dank euch beiden für Kommentar und Gedanken.
Sinn und Anliegen habt ihr genau verstanden.
Wie stark das Spiel „Second Life“ (mal reinschnuppern? http://secondlife.com) Besitz von jemanden ergreifen kann, habe ich vor kurzem bei einer Bekannten erfahren müssen. Den Zeitfaden noch weiterzuspinnen, ist da nur ein kleiner Schritt.
Kurze Romanvorlage:
Die Angst vor der Realität, lässt die Menschen, die in „Real Life“ nicht mehr Schritt halten können, abdriften in ein virtuelles Dasein mit multiplen Persönlichkeiten. Bezahlen können sie schon lange nicht mehr für ihre eigene Versklavung. Alles was sie noch haben, ist ihr Körper, den sie sogar bereitwillig opfern. Das Zahlungsmittel ist zuerst Blutplasma, dann Rückenmarksflüssigkeit und zum Schluss Organe und Gliedmaßen. Wenn alles ausgeschöpft ist, was die gequälte Kreatur zu geben hat, kommt zum Schluss die finale Körperspende durch Suizid.
Eine Zukunftsvision? Ich bin sicher, dass uns lediglich die gesetzlichen Vorgaben vor einem solchen Ersatzteillager trennen.
Gruß vom Hans
Das Leben ist kurz aber es geht vorbei
RE: Second Life
in Märchen, Fabeln, Sci-Fi und Fantastisches 21.04.2011 10:55von Rubberduck • | 558 Beiträge | 558 Punkte
Hallo Hans,
die Geschichte erinnert mich sehr stark an einen Film, den ich mal sah, mit Bruce Willis in der Hauptrolle. Ich weiß nicht mehr wie er heißt, aber es ging auch darum, dass die Menschen sich Roboter bedienten, um ihr leben zu leben, sie selbst lagen verkabelt im Bett. Die Roboter waren natürlich alle jung, schön und schlank. Doch Bruce wollte lieber seine richtige Frau zurück, die aus Fleisch und Blut. Ein Film, der mich sehr nachdenklich stimmte, so wie auch deine Geschichte. Gut geschrieben, aktuelles Thema. Hast du den Film auch gesehen?
LG,
Bärbel
RE: Second Life
in Märchen, Fabeln, Sci-Fi und Fantastisches 26.04.2011 08:42von phil • | 200 Beiträge | 200 Punkte
hallo hans,
mir scheint du hast damit ganz allgemein sucht und abhängigkeit beschrieben. cita ("die stadt" - die gesellschaft?) bedient sich gleich mehrerer davon, als beweis, dass sie durchaus anders kann und hinter die dinge sieht und alles im griff hat, wenn nur der nächste level erreicht ist.
elegant und spannend geschrieben.
dass cita allerdings am ende kichert, verstehe ich nicht, meine vorstellung ist: "... schrie sie.", als wiederholung des einstiegs, oder "zischte sie" in der steigerung zum vorhergehenden "schnauzte sie".
alles im präsens würde die gegenwart der sucht vielleicht noch
deutlicher ausdrücken ... oder?
ciao! phil
RE: Second Life
in Märchen, Fabeln, Sci-Fi und Fantastisches 27.04.2011 10:16von hans beislschmidt • | 160 Beiträge | 245 Punkte
Hey, dank euch beiden für Kommentar und Gedanken.
Rubberduck, ich hab mal nen Film mit Bruce Willis gesehen, der hieß „twelve monkeys“ ... meinst du den? Leider hab ich den genauen Inhalt nicht mehr präsent.
Phil, das Kichern am Ende drückt die Verrücktheit von Cita aus. Eigentlich verkennt sie die Situation, denn sie ist ja die Loserin in der Szene. Längst hat sie sich wieder in die virtuelle Welt eingeklinkt und nimmt alle äußeren Signale nur noch peripher wahr.
Gruß vom Hans
Das Leben ist kurz aber es geht vorbei
RE: Second Life
in Märchen, Fabeln, Sci-Fi und Fantastisches 27.04.2011 11:32von Rubberduck • | 558 Beiträge | 558 Punkte
RE: Second Life
in Märchen, Fabeln, Sci-Fi und Fantastisches 13.05.2011 11:22von hans beislschmidt • | 160 Beiträge | 245 Punkte
RE: Second Life
in Märchen, Fabeln, Sci-Fi und Fantastisches 13.05.2011 13:36von Rubberduck • | 558 Beiträge | 558 Punkte
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