#1

Anagramm

in Parodien und Persiflagen 15.12.2010 19:30
von otto | 637 Beiträge | 645 Punkte

Als Herr Nerdom wie jeden Abend nach einem Nachmittagsschläfchen durch das Dorf lief, kam ihm die Dämmerung als abendliche Verwandte entgegen. Auf seinen Spaziergang wollte er nicht verzichten. Und so pfiff er schmutzig über das Ende des Dorfes hinaus, was er sich gemerkt hatte. Hinterher schreien sie aus, was ihnen nicht gefällt, dachte Herr Nerdom, der die Dorfbewohner feige fand, weil sie aus den Fenstern hingen, und seine Pfeiferei mit dem längst bekannten Geschrei mißbilligten.

Wo er auf dem Waldweg eilig war, gab der Mond Licht genug klar zu sehen, ihm die Schritte zu lenken. Da sah er einen Mann nicht weit von vor ihm, der beinahe die kleine Tür zum Waldfriedhof erreicht hatte. Irgendwann würden sie alle dort landen, aber was will der jetzt auf dem Friedhof ?, überlegte Herr Nerdom. Noch mehr wunderte er sich darüber, dass er dem anderen um keinen Schritt näher zu kommen schien, obwohl er immer mehr sein Schritttempo erhöhte, nur um an dem Fremden vorbei zu kommen. Doch auch der Fremde schien die letzten Schritte bis zum Friedhof nicht zu schaffen, wobei es sein konnte, dass er nur am Friedhof vorbei kommen wollte. Nein, Herr Nerdom wollte keine Begegnung riskieren. Denn was wollte man sich schon in der inzwischen nach zwölf Uhr eingetretenen Nacht berichten, was nicht längst bekannt war? Um allen drohenden Unwägbarkeiten sofort aus dem Wege zu gehen, blieb Herr Nerdom einfach stehen. Und als wäre dies nicht genug, damit sich möglicherweise entstandene Mißverständnisse wie von selbst auflösen konnten, so wie sie eingetreten waren, lief Herr Nerdom den gerade zurück gelegten Weg zurück ins Dorf, wo die Dorfbewohner immer noch über die Fensterbretter hingen, und ihn mit haßerfülltem Indianergebrüll empfinden. Natürlich hatten sie nicht geahnt, sondern gewußt, dass er umkehren würde. Schließlich waren sie informiert.

Ich werde hier wegziehen, dachte Herr Nerdom, griff in seine Hosentasche und langte seiner weinerlichen Nase ein Taschentuch heraus. Dann, genau an der Grenze zwischen Dorf und Feld, hielt er an, drehte sich um, weil er leichtsinniger Weise der Meinung geworden war, dass er den Fremden in der Nähe des Friedhofes abgeschüttelt hatte. Daneben! Der Fremde war genau so weit von ihm entfernt, wie zuvor. Wieder schritt Nerdom rüstig darauf los, das " Darauf " war ihm jetzt endgültig der Fremde, und wieder kam er diesem um nichts näher, wie auch dieser um nichts weiter von ihm weg. Ein bißchen hatte er sich an die gleich bleibende Distanz zwischen ihm und dem anderen schon gewöhnt. Ja ihm war, als sei es nie anders gewesen, allerdings immer unter gänzlich anderen Umständen, doch immer mit der gleichen Wirkung.

" Hallo! Du da!", rief er den Fremden wie einen alten Bekannten an, den er lange nicht gesehen hatte, und jetzt seiner nicht ganz sicher war. So als würde eine ausbleibende Antwort oder ein erklärender Hinweis für das längst schon wie Vertraute ausreichen an einander ohne weitere Erklärung vorbei huschen zu können.

" Ach das", schrie der Fremde wie eine vorläufige Erklärung, und Nerdom fürchtete um das, was noch nachkommen könnte. " Du mußt nur auf dem Weg bleiben. Überholen können wir natürlich nicht, begegnen aus dem gleichen Grunde auch nicht."

" Dann können wir nicht unbeobachtet unserer Wege gehen", rief Nerdom mit zitternder Stimme und es klang dennoch zufrieden. Dabei hielt er beide Hände als Trichter vor seinen Mund. Denn er wollte, dass dem Fremden kein Wort entgehen sollte. Wichtig war, dass die an und für sich alltägliche Begebenheit endlich im beiderseitigen
Einvernehmen zu Ende gebracht werden konnte. Denn man mußte nicht alles weiter ansprechen, worüber man uneins war.

" Nein", schrie der andere zurück." Neu ist, dass wir uns auf einem während der letzten Nacht in den Weg eingelassenen Laufband bewegen. Das ist erst seit heute alltäglich. Ich bin der Ingenieur für eine U.-Bahnstrecke bis zum Wald mit Zwischenstation am Friedhofeingang. Das Laufband ist der erste Schritt für die Rolltreppe. Jeder der vorwärts will, bleibt immer im gleichen Abstand zu dem ihm Vorauseilenden. Wer sich umdreht setzt den Mechanismus in Gang, der die Bewegungsrichtung der Rolltreppe- denn um diese handelt es sich bei dem Kaufband- einfach umkehrt.

" Kein Wunder" lachte Nerdom, " aber es ist ärgerlich, dass ich nicht nach meinem Einverständnis als Dorfbewohner gefragt wurde. Oder?

" Das war überflüssig. Es war ja von Anbeginn so geplant. Der Plan ist es, der bestimmt den Weg zum Friedhof und zum Wald abzukürzen. Übrigens wird man den Wald abholzen, denn niemand kann voraussehen, ob sich Pläne als richtig im Sinne ihrer ursprünglichen Absicht herausstellen. Das Abholzen ist also ein vorbeugender Planakt, um möglichen Veränderungen vorauszueilen. Doch was rede ich hier, das geht Sie nichts an, ist nicht ihre Sorge."

" Sie haben in Ihrer Erklärung kaum Eigenschaftswörter verwendet. Hat der Plan so wenig Eigenschaften?"

" Unzählige. Sie sind nicht einmal dem Plan bekannt. Wie also könnte ich Sie ihnen benennen. Abgesehen davon macht es keinen Unterschied davon zu wissen, denn es ist die vornehmste Eigenschaft des Planes, dass er sich ständig ändert, ja ändern muß. Schon unsere Begegnung erfordert völlig neue Veränderungen. Nun sehe ich Ihnen an, dass sich eine Mißtrauensfalte steil zwischen die Augenbrauen gestellt hat. Denn, so denken Sie vermutlich, jede Veränderung ist neu, deshalb müsse man das Neue an ihr nicht besonders hervorheben. Doch hier erliegen sie einem schwerem Irrtum , wehrter Herr. Denn eine eingeführte veränderung ist nie so völlig neu, als das sie das bisher Bestehende in Gänze ersetzt. Meistens sind es also Teilveränderungen, ich sage meistens Herzneuveränderungen, wo man einem Zustand wieder neuen Antrieb gestattet. Man kann beruhigt vom Stopfen eines Loches sprechen, dass nämlich an irgendeiner Stelle sich etwas aufgetan hat, für das der Plan einen chirurgischen Eingriff vorsehen muß, damit er nicht zunehmend verlöchert und etwa wie ein von menschlicher Hand zerissenes Spinnennetz im Winde flattert, ohne noch neue Opfer abzufangen. Sie werden einwenden, dass meine Beispiele sie wenig überzeugen. Aber ich kann ihre Bedenken sozuagen handstreichartig hinwegfegen, und dies mit einem einzigen Wort: Plan. Und weiter, werden Sie denken? Ja nehmen Sie es für alles Weitere an: der Plan ist an und für sich unverletzlich. Alle Veränderungen sind in Wirklichkeit nur Ablenkmanöver vom Ewigleichen des Planes. Denn natürlich will der Plan bei allen Betroffenen das Gefühl erhalten, dass es Anpassungen gibt, die neueste Bedingungen nutzerfreundlich berücksichtigen. Also schließlich doch im alten Trott, und keiner weiß davon? Der Plan setzt sich also in Wirklichkeit unverändert durch? Sehen Sie, das ist was Sie nicht glauben wollen. Und ich durfte Ihnen dies Geheimnis anvertrauen, weil Sie es nicht glauben. Aber Sie haben damit Zeit für Ihre persönliche Anpassung an den Plan bekommen. Was am Ende sein wird wissen wir beide nicht. Und denken Sie daran. Bei ähnlichen Vorhaben sind immer wieder ungezählte Menschen mit den Baggern untergelöffelt worden. Keiner fragte später nach ihnen. Doch damit verschwanden sie heldenhaft, denn sie wurden gewissermaßen in die Umsetzung des Planes mit eingearbeitet. Die neue U.-Bahn- ich selbst bemerke gerade, dass ich vergessen hatte, worum es bei diesem Plan eigentlich geht- ist später dann ein Denkmal für die Unerschütterlichkeit des Planvorhabens unter der Erde. Züge werden pausenlos durch die Röhren rauschen, und vielleicht werden Ihre Gebeine den Windhauch der Bahnen spüren, vielleicht wenn sie hinter den Tunnelwänden als vormals Untergebaggerter festgefügter Bestandteil der Strecke geworden sind.Das allerdings sind die besten Aussichten, die ich ihnen vermachen kann. Doch bedenken Sie: nur im Glauben finden sie Garantie dem Denkmal anzugehören.

Und schließlich noch etwas in Ihr privates Kontor geschrieben: Herr Nerdom, wir kennen Ihresgleichen. Wollten wir solchen wie Ihresgleichen alles Eigenschaftliche in unseren Plänen erklären, dann würden sie sicherlich nicht mehr zum Friedhof oder zum Wald wollen. Damit es garnicht dazu kommt, ebnen wir den Friedhof ein, fällen wir die Bäume."

" Fremder, wie heißen Sie"

" Modern, ich heiße wie Sie Herr Nerdom. Nur umgekehrt, liebes Anagramm."

" Dies also soll eine fiktive Kurzgeschichte über unser kurze Begegnung werden?"

" Sehr wohl! Nach der hemingwayschen Icebergmethode".

" Aber der schrieb doch seine Geschichten auf der Grundlage von wirklichen Erfahrungen!"

" Und erschoß sich danach. Also. Sie haben die Aussicht untergebuddelt zu werden, das walte Bärbel und
Pista!"

zuletzt bearbeitet 16.12.2010 09:34 | nach oben

#2

RE: Anagramm

in Parodien und Persiflagen 15.12.2010 19:35
von der.hannes | 1.768 Beiträge | 1750 Punkte

welch schönes gedicht ;)

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#3

RE: Anagramm

in Parodien und Persiflagen 16.12.2010 11:43
von Rubberduck | 558 Beiträge | 558 Punkte

Lieber Otto,

Fischlein im tiefblauen Ozean,

am schönsten fand ich folgende Stelle:

Zitat
und langte seiner weinerlichen Nase ein Taschentuch heraus



Liebe Grüße,
Bärbel

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#4

RE: Anagramm

in Parodien und Persiflagen 16.12.2010 12:01
von otto | 637 Beiträge | 645 Punkte

Ja ich bin halt halb durch, rosa. Danke für das Herauslösen meiner Markgedanken (... ihr bleibt mir offenlesbar umtückt). Und Dank auch dem " der, hannes". Dein Kommentar, der hannes" ,eine short story!

Grüße an alle Überlesenden,

otto, o-Ton

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