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Ciao
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 17.08.2010 12:00von Ame&Umi (gelöscht)
Auf dem Küchentisch lag ein Zettel:
„Ich kann nicht leben vom Wind.
Ciao.“
Er nahm den Zettel in die Hand und las ein Wort nach dem anderen mit einem Ausdruck von kindlichem Erstaunen in den Augen. Als ihm der Sinn der Wörter nach zwei Minuten endlich ins Bewusstsein drang, ließ er die Hand langsam sinken und legte den Zettel zurück auf den Küchentisch.
Er streifte durchs Haus. Alle Türen standen offen. Im Schlafzimmer lagen Schuhkartons herum. Die getrockneten Rosen waren aus dem Badezimmer verschwunden. Er ging zurück in die Küche. Aus dem Radio tönte langsam und träge klassische Musik. Die Töne hingen tief und schwer in der Luft, drückten die Atmosphäre im Raum nach unten. Er wagte es nicht, das Radio auszuschalten. Stattdessen verließ er das Haus, schloss die Tür ab und streifte den ganzen Tag durch die Gegend.
Die Straßenbeleuchtung war bereits eingeschaltet, als er heimkehrte. Er war ganz ruhig, in die Gewissheit gehüllt, alles sei wieder beim Alten, wenn er nur die Tür öffnete. Er öffnete sie, rief ihren Namen, erhielt jedoch keine Antwort. Er rief lauter und lauter, doch eine Antwort blieb ihm verwehrt. Langsam wurde er unruhig. Er ging ins Schlafzimmer, sah mit Verwunderung die Schuhkartons und war sich sicher, das alles wie in einem Traum schon einmal erlebt zu haben. Vom Schlafzimmer eilte er ins Wohnzimmer, ins Atelier und wurde immer hektischer. In der Waschküche, im Badezimmer, nirgends eine Spur von ihr. Er fand sich im Flur wieder. Aus all den offenstehenden Zimmertüren drang Panik auf ihn ein.
Er flüchtete zurück in die Küche. Dort sah er ihn immer noch auf dem Tisch liegen - den Zettel - unbeweglich. Aus dem Radio drang jetzt ein kräftiges, donnerndes Orchester. Er stellte die Lautstärke auf das Maximum und hockte sich vor den Kühlschrank auf den Boden. Das Papier fest in beiden Händen, starrte er auf die geschwungenen Linien, die getrocknete Tinte, die klare, schöne Handschrift. Nichts von all dem gab ihm einen Hinweis, eine Antwort auf die Frage, die in ihm pochte: Wieso?
Wie ein nach einem kritischen Schlag zu Boden gegangener Boxer erhob er sich taumelnd und glitt an der Wand entlang zum Bad. In der Kloschüssel schwammen die getrockneten Rosen. Dort hinein übergab er sich mehrmals. Er spülte die Rosen zusammen mit seinem Erbrochenen hinunter.
Verstört und mit einem elenden Gefühl, das sich vom Magen her über seinen ganzen Körper ausbreitete, zog er sich in sein Atelier zurück. Hier sammelte er alle Portraits, die er jemals von ihr gemalt hatte, zusammen und sah sich eines nach dem anderen an, so wie man alte Photos betrachtet.
Auf einem Bild hatte er nur die Farbe Blau verwendet, um ihren Bauchnabel darzustellen. Ein anderes zeigte nichts weiter als ihre Lippen. Er besah es andächtig, war fast zu Tränen gerührt, als in ihm die Erinnerung an diese perfekt geformten, weichen Lippen, auf die er seine nur zu gerne gepresst hatte, aufstieg. Schon glaubte er, den Geschmack ihres Labellos zu schmecken, ihr heißes Verlangen nach seinem Körper und die feuchte Berührung ihrer Zunge, die sich an seine schmiegte, zu spüren. Er verteilte alle Gemälde um sich herum auf dem Boden. Ihre Lippen legte er in seinen Schoß. Links von ihm kam ihre Brust, rechts von ihm ihr Auge, dahin ihr Haaransatz, dorthin das Gesäß und ihre ausgestreckten Beine, ihr Torso, ihr Bauchnabel, ihr Geschlecht und jeder weitere Winkel ihres Körpers. So von ihr umgeben, konnte er sich der Illusion hingeben, sie sei wirklich anwesend.
Die erste Nacht ohne sie verbrachte er zusammengerollt auf dem Marmorboden seines Ateliers, umzingelt von den Puzzleteilen ihres Körpers. Zwei Tage lang verließ er sein Atelier ausschließlich zur Notdurft und, um ein paar Schlucke Wasser zu sich zu nehmen. Mit der wahllosen Verteilung der Bilder war er bald unzufrieden. Er machte sich daran, die Körperteile zu arrangieren, sie zusammen zu rücken. Er ging sogar wieder nach draußen. Aus dem Schuppen holte er eine Trittleiter. Diese stellte er auf den Marmorboden, um das entstehende Gesamtwerk von oben betrachten zu können. Immer wieder verschob er einzelne Puzzleteile, manchmal nur um wenige Zentimeter, stieg auf die Leiter, trat kopfschüttelnd wieder herunter und richtete ein Teil erneut aus, um wieder auf die Leiter zu steigen und kritisch auf das Mosaik seiner Muse hinabzublicken. Dieses Treiben beschäftigte ihn bis tief in die Nacht, bis er irgendwann vollkommen erschöpft neben ihr - ihrem kompletten Abbild - einschlief.
Am nächsten Morgen wurde er unsanft geweckt. Jemand rüttelte ihn stark an der Schulter. Er kannte den Mann flüchtig, er war einer der Aussteller, die gelegentlich vorbeikamen, um seine Werke zu begutachten. Aber bis jetzt hatte man nur an wenigem Gefallen gefunden und hatte dann auch nur in den abgelegenen Ecken und Winkeln der Galerien Platz dafür. Mühsam hievte er sich hoch und trat einen Schritt in den Flur hinaus. Die Haustüre stand sperrangelweit offen. Stimmt, er hatte sie nicht abgeschlossen. Er kam zurück in das Atelier und beobachtete voller Unruhe, wie der Mann von der obersten Stufe der Trittleiter herab begeisterte Lobeshymnen über seine Muse trällerte. Der Gedanke, dass der Aussteller sie, ihren Körper, ihre vollkommenen Lippen so begierig und unverhohlen angaffte, missfiel ihm. Sie sollte nur von ihm selbst bewundert werden. Nur vor ihm hatte sie sich so gezeigt. Dieser Anblick war ihm vorbehalten. Ihm allein.
Der Mann kam auf ihn zu. Fast wollte er vor dessen Hand zurück weichen, die beherzt und übermütig nach seiner Schulter griff. Der Mann behielt die Hand dort, während er ihn mit einem Schwall von Worten übergoss. Er hörte ihm nicht wirklich zu, nickte nur ab und zu, wenn er es für richtig hielt. Seine ganze Konzentration galt der fleischigen, mit Goldringen bespickten Hand, die sich in seine knochige Schulter grub. Dorthin, an diese Schulter, hatte sie ihm ihren letzten Kuss gehaucht.
Er sah es vor sich.
Sie lag im Bett. Er saß auf der Bettkante und wandte ihr seinen Rücken zu. Er spürte, wie die Federn der Matratze nachgaben, als sie sich aufsetzte. Lange, weiße Arme schlangen sich um seinen Hals. An seiner Schulter spürte er ihre Lippen. Im nächsten Moment erhob er sich. Sie blieb im Bett zurück. Er stand im Raum seiner Erinnerungen in einer Ecke und beobachtete den letzten Akt. Er wollte schreien: Geh nicht! Idiot! Dreh um! Sie ist perfekt! Wieso verlässt du sie? Wieso lässt du sie allein? Doch er bekam nur ein elendes Krächzen heraus.
Die Tür schloss sich hinter seinem anderen Ich. Die Vergangenheit war unveränderbar. Mit dieser Tür fielen auch die Türen zu seiner Erinnerung ins Schloss. Er wollte sie nicht noch einmal öffnen. Das schwor er sich, als er mit einem verbleibenden, stechenden Schmerz wieder ins Hier und Jetzt zurückkehrte. Seine Ohren fingen den letzten Satz des Ausstellers auf:
„Dann ist es beschlossen.“
Der einzige Anzug, den er je besessen hatte, hing schlaff an ihm hinab. Er schlotterte bei jedem Schritt und verriet das Skelett, das sich darunter versteckte. Es waren erstaunlich viele Interessierte gekommen. Außer seiner Muse hatte der Galerist auch ein paar seiner anderen Bilder ausstellen lassen. Wohl wissend, das sie unbedeutend waren. Alle Besucher, die in das Gebäude kamen, strömten zu seiner Muse, ohne die anderen Bilder eines Blickes zu würdigen.
Der Mann mit den vielen Goldringen holte ihn herbei, drückte ihn in seinen Speck, der ihn zu verschlingen drohte. Er sah in die Gesichter der Gaffer, sah ihre Gier, ihr Entzücken und es widerte ihn an. Unter dem Aufgebot all seiner Kraft löste er sich aus dem Klammergriff des Ausstellers und verschwand unter dem Vorwand, ihm wäre nicht wohl, durch die Menge in eine abgeschiedene Ecke der Galerie. Dort wo seine Bilder eigentlich hingehörten, gehörte auch er hin. Er warf einen Blick zurück auf seine Muse und verabschiedete sich im Stillen von ihr. Sie gehörte nun nicht mehr ihm, sondern der Öffentlichkeit.
Ihm wurde schlecht und er lehnte sich an einen Pfeiler. Aus den Augenwinkeln heraus nahm er eine Frau wahr, die abseits des Mobs in der anderen Ecke des Saales stand. Sie betrachtete eines seiner anderen Bilder, tief in Gedanken versunken. Er näherte sich ihr unauffällig von der Seite und trat dann so nah an sie heran, dass sie seine Gegenwart bemerkte, sich aber nicht bedrängt fühlte.
„Was halten Sie von diesem Werk?“
„Es ist bis jetzt das einzige Stück von wirklichem Interesse, das ich hier entdeckt habe.“
„Ach ja? Und wieso?“
„Wegen der Aufschrift auf dem abgebildeten Zettel: ,Ich kann nicht leben vom Wind. Ciao.’ Man spürt eindeutig die Verzweiflung, die widersprüchlichen Gefühle, mit der die Person den Raum verlassen hat. Das Arrangement , das der Künstler gewählt hat: ein einfacher Zettel, geklebt auf das Photo einer Art Tischplatte, erweckt den Eindruck eines wahren Abschieds und ruft diese Gefühle im Betrachter wach.“
Sie drehte sich um und sah ihm jetzt direkt ins Gesicht.
„ Was halten Sie davon?“
Das Erste, was ihm an ihr aufgefallen war, waren diese großen, leuchtenden, unschuldigen Augen. Die Sorte, die der Welt dabei zusah, wie sie sich langsam veränderte, während sie sich stetig um ihre eigene Achse drehte. So schöne Augen. Perfekt. Vollkommen. Er wollte sie für immer einfangen. Eine alte Begierde übermannte ihn, übermütig warf er sein Netz aus.
„Was halten Sie davon, meine Muse zu werden?“
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Der Text auf dem Zettel ist einem Lied von Hermann van Veen entnommen, der Rest ist von mir (mit freundlicher Unterstützung von Landloper ;-)
Danke fürs Lesen.
RE: Ciao
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 20.08.2010 20:50von Ame&Umi (gelöscht)
Huch, das ging ja schnell.
Mit dieser Version kann ich gut leben. Wie du sicherlich gemerkt hast, schluse ich gerne mal beim Ausdruck und lasse ihn wirr im Raum stehen. Mir persönlich gefällt das, aber ich denke für diese Foren sollte ich meine persönlichen Vorlieben etwas eindämmen und mich um korrekte Form bemühen.
Vielen Dank für deine Überarbeitung :-)
Wenn du nichts dagegen hast, werde ich sie so verwenden.
LG Ame&Umi
RE: Ciao
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 20.08.2010 21:14von Ame&Umi (gelöscht)
Von Verdrängen sprach ich nicht. Natürlich schreibe ich weiter in meinem Stil und mit den Worten, die ich für richtig halte:-) Nur werde ich die Worte etwas vorsichtiger wählen, anstatt sie einfach aus dem Bauch heraus auf das Papier zu übertragen. Ich glaube, das kommt dann am Ende auf das gleiche heraus, was du sagtest.
Naja ich wünsche uns Freude am Schreiben, denn das sollte das fundamentale bei der ganzen Sache bleiben.
Ciao,
Ame&Umi
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