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Kongo

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 10.07.2010 17:47
von Ringelroth | 213 Beiträge | 213 Punkte

Die Welt ist voller Wunder und Mysterien, voller Zauber und Magie.
Unsere Fantasie kann der Schlüssel zu einer der Türen sein, hinter denen sich diese zauberhafte Welt verbirgt.
Ist es uns gelungen eine solche Tür einmal zu öffnen, so sollten wir nicht leichtfertig und unüberlegt hindurch gehen.
Denn manchmal gibt es kein zurück mehr.

Bis zu meinem zwölften Lebensjahr lebte ich mit meinen Eltern in einem winzigen, verschlafenen Weiler im Hochwald, südlich der Eifel. In unserem Ort gab es einen Milch- und Käsehändler und einen Bäcker, der auch die nötigsten Lebensmittel anbot. Es war eine Zeit, nicht sehr lange nach dem großen Krieg, als die Begriffe Discounter und Supermarkt für uns noch zur Sprache der Außerirdischen, oder der Zulu-Kaffer gehört hätten, wären sie seinerzeit von jemandem ausgesprochen worden.

Vier Häuser neben dem, in welchem ich wohnte, lebte die Familie Maloschyk. Zur Familie Maloschyk gehörten die Eltern und zwei Kinder, nämlich Gertrud und Gregor. Gertrud war drei Jahre älter als ihr Bruder und Gregor war ein halbes Jahr älter als ich und er war mein bester Freund.
Dass Gertrud und Gregor einen so komischen Nachnamen hatten, kam daher, dass ihre Eltern im Krieg aus Schlesien fliehen mussten.
Damals fand ich Gregors Nachnamen schöner, oder besser gesagt interessanter, als meinen eigenen. Ich heiße nämlich Weber. Peter Weber. Das klingt so einfach und langweilig – jedenfalls war das meine damalige Ansicht.
Nun, Gregor und ich waren praktisch den ganzen Tag zusammen. Die Leute machten Scherze und nannten uns Max und Moritz.
„Ihr seid genau solche Lausbuben wie Max und Moritz“, sagten sie und streichelten uns über die Köpfe.
Gregors Kopf war pechschwarz. Nein, nicht sein ganzer Kopf, nur seine Haare. Dagegen waren meine hellblond. Und ich hatte Sommersprossen. Diese verhassten Tupfen im Gesicht und an den Unterarmen, die sich im Sonnenlicht von Tausend Stück zu Milliarden vermehrten. Ich mochte sie nicht, und habe mich oft über ihr Dasein beschwert.
„Lass doch“, sagte dann Gregor. „Wenn ich sie hätte, würde mich das nicht ärgern.“

Eines Abends im Sommer, nachdem ich mal wieder eine Schimpfkanonade gegen die blöden Sprossen losgelassen hatte, meinte Gregor: „Weißt du was? Heute Abend, wenn wir ins Bett gehen und das Nachtgebet sprechen, bitten wir den lieben Gott, dass er mir deine Sommersprossen gibt. Dann bist du sie los und mir machen sie nichts aus.“
Und so haben wir es auch gemacht. Es hat aber nichts genützt. Warum der liebe Gott unserem Wunsch nicht nachgekommen war, weiß ich nicht. Vielleicht hatte er an diesem Abend Wichtigeres zu tun.

In der warmen Jahreszeit waren wir, wie es damals üblich war, von morgens bis abends draußen. Die Hälfte der Dorfbewohner verdiente sich ihren Lebensunterhalt mit Landwirtschaft und so war unser Ort umgeben von Äckern und Wiesen. Dorf und Felder wiederum waren in ein riesiges Waldgebiet eingebettet. Ein Paradies für uns Kinder.
Wenn wir unser Dorf in östliche Richtung verließen, kamen wir nach etwa zwei Kilometern an einen kleinen Weiher. Dort war zwar das Schwimmen verboten, aber wer sollte uns schon davon abhalten? Alle Leute hatten tagsüber ihre Arbeit und wir waren immer auf der Hut, falls doch mal jemand vorbeikommen sollte. Jedenfalls hat uns nie jemand erwischt. Außerdem waren alle Verbotsschilder so verrostet, dass wir uns sagten: Wenn die so verrostet sind, dann gelten sie auch bestimmt nicht mehr.

Weil es in jener Zeit in allen Wintern noch ordentlich Schnee gab, war es selbstverständlich, dass auch wir stolze Besitzer eines Schlittens waren. Mein Opa war ein hervorragender Zimmermann und er hatte für Gregor und mich, als wir ungefähr sechs Jahre alt waren, zu Weihnachten jedem einen Rodelschlitten gebaut. Unsere Rodelbahn war auch nicht sehr weit weg. Wir mussten nur in Richtung Weiher laufen und auf halbem Wege nach links abbiegen und an Bauer Berwangers Maisfeldern längs bis zum Waldrand. Dort war ein kleiner Hügel – nicht sehr hoch, aber sehr lang. Ideal um ordentlich Fahrt aufzunehmen.

Damals waren Entfernungen von drei, vier, fünf Kilometern, die man zu Fuß zurücklegen musste, kein Thema. Unsere Schule war im Nachbarort und ungefähr drei Kilometer Fußweg von zu Hause weg. Zu jener Zeit hatten die Eltern weniger Angst um ihre Kinder, wenn diese außer Haus waren, als heute. Ihre Sorgen beschränkten sich darauf, dass der Bub vom Baum fallen und sich den Arm brechen könnte. Oder dass sich die Tochter in dem alten, gesprengten Bunker das schöne Kleid an einer Stahlarmierung zerreißen könnte.
Pädophilie, Kindesmissbrauch oder gar Kindstötung hatte es damals sicherlich auch gegeben, aber wohl in einem so geringen Maße, dass uns Kindern jedenfalls nie so etwas zu Ohren gekommen war.
Dass es in unserem Dorf, unserer kleinen, heilen Welt, trotzdem zu einer unfassbaren Katastrophe kommen konnte, hätte keiner je für möglich gehalten.

Mein erstes Fahrrad bekam ich zu meinem achten Geburtstag. Gregor bekam seines ein Dreivierteljahr später. Es war das Jahr, in dem das Entsetzliche passierte.

Als wir Räder hatten, erweiterten wir natürlich unseren Horizont. Einmal kam mir die Idee, meinen Onkel zu Besuchen. Er wohnte etwa fünfundzwanzig Kilometer weit entfernt. Wir hatten Ferien und das Wetter war warm und trocken. Also machten wir uns früh morgens auf den Weg. Es war ganz schön kompliziert zu meinem Onkel zu kommen, lag doch eine große Stadt zwischen unserem und seinem Dorf. Und da mussten wir durch. Überall fuhren Autos und Straßenbahnen. Wir entschlossen uns, bis wir aus der Stadt raus sind, unserer Räder zu schieben nachdem ich einmal beim Straßenüberqueren mit dem Vorderrad in einer Straßenbahnschiene stecken blieb und beinahe samt Fahrrad umgefallen wäre.

Als wir nach gefühlten hundert Stunden an unserem Ziel ankamen, war mein Onkel gar nicht zu Hause. Wir hatten vergessen, dass er arbeiten musste.
Aber meine Tante versorgte uns mit Kakao und Keksen und so fuhren wir nach kurzem Aufenthalt mit vollem Magen wieder Richtung Heimat.

Wir hatten bereits auf dem Hinweg die breite Straße entdeckt, die parallel zu dem Fluss verlief, der die große Stadt teilte. Da gab es keine Straßenbahn und keine Fußgänger, keine Ampeln und keinen Gegenverkehr. So beschlossen wir auf dem Rückweg, diese Straße für den Heimweg zu benutzen. Nachdem wir ungefähr einen Kilometer auf dieser Straße unterwegs waren, überholte uns ein Polizeifahrzeug und hielt direkt vor uns an, sodass wir bremsen und absteigen mussten. Die beiden netten Polizisten fragten uns, ob wir nicht wüssten, dass wir uns auf der Stadtautobahn befänden, und dass hier nur Autos, aber keine Fahrräder fahren dürften. Natürlich wussten wir das nicht, aber die Standspur war tadellos geeignet zum Radfahren, und wenn man hintereinander fuhr, war sie auch breit genug.
Die Polizisten schickten uns wieder zurück, also drehten wir um, und schoben unsere Räder entgegen der Fahrtrichtung bis zur Autobahnauffahrt. Danach quälten wir uns wieder durch den Stadtverkehr, bis wir am späten Nachmittag fix und fertig, durstig und hungrig zu Hause ankamen.
Ich glaube nicht, dass die Polizei heute genauso reagieren würde. Wahrscheinlich hätten wir unsere Räder hinter der Leitplanke deponieren müssen und zu den Beamten in den Wagen einsteigen müssen. Aber damals war eben damals.

Nach diesem aufregenden Sommer kam ein langer, nasskalter Herbst. Wenn es draußen so ungemütlich war, spielten wir abwechselnd bei Gregor oder bei mir in der Wohnung.
Ich hatte einen Mechanik-Baukasten, für den sich Gregor mehr interessierte als ich, und er
hatte einige Plastikfiguren mit denen ich mich lieber als er beschäftigte. Es waren Cowboys und Indianer. Manche saßen auf Pferden, andere standen auf ihren Füßen und schwangen Lasso oder Tomahawk. Dazu gab es zwei Zelte und eine Pferdekutsche. Trotz unserer Vorlieben für das eine, oder das andere Spiel, spielten wir immer zusammen. Außer mit dem Baukasten oder den Figuren spielten wir Schwarzer Peter, was Gregor immer zu Neckereien mit meinem Vornamen veranlasste, oder wir malten.
Malen war etwas, was wir beide sehr gerne taten. Das Problem war allerdings, dass zu jener Zeit weißes Papier, auf dem man zeichnen konnte, sehr teuer war und man es auch nicht an jeder Ecke kaufen konnte.

Also nutzten wir zum Zeichnen den unbedruckten Rand von alten Zeitungen, oder die Rückseite von Tapetenresten. Einmal schenkte uns Bäcker Niedermaier, der wusste, dass wir gerne malten, fünf Papierrollen, die eigentlich für seine Kasse gedacht waren. Unglücklicherweise waren sie ihm beim Kramen in einer Schublade heraus gefallen und im darunter stehenden Putzeimer gelandet. So waren sie nach dem Trockenen ganz wellig und gelblich-braun verfärbt, sodass er sie als Kassenquittung nicht mehr nutzen konnte.

An diesem Tag hatten wir bis zum Abendessen bereits zwei komplette Rollen auf der Vorder- und Rückseite voll gemalt. Mit Mal- und Bleistiften versorgte uns meistens Frau Zöllner, eine Nachbarin der Maloschyks. Sie arbeitete dreimal die Woche in der Stadt in einem Schreibwarenladen. Dort gab es immer mal wieder Zeichenstifte die gebrochen waren, oder deren Verpackung zerrissen war, sodass man sie nicht mehr verkaufen konnte. So erklärte sie uns, wie sie zu den Stiften kam. Heute glaube ich, sie hat die Stifte gekauft, weil sie wusste, dass wir gerne zeichneten. Sie selbst war unverheiratet und kinderlos.

Wenn wir aber auch vom Malen genug hatten, blätterten wir in Gregors Buch über Afrika.
Das war ein dicker Wälzer mit vielen Schwarz-Weiß-Fotos von wilden Tieren und von Landschaften und Menschen des Kontinents. Gregor sagte oft, dass er Afrika-Forscher werden will, wenn er groß ist.
Ich weiß nicht, wie viele Male wir dieses Buch aus Gregors Wäschekommode holten und aufschlugen, wir fanden immer etwas Neues, was uns zuvor nicht aufgefallen war. Er hatte mich mit seiner Begeisterung zwar angesteckt, aber ich wollte lieber nach Amerika und Cowboy werden.
Hatten wir genug vom Bildergucken, nahmen wir eine von seinen Reiterfiguren, und hockten uns an die Wand neben die Zimmertür. Das war die unheimlichste Wand, die ich je gesehen hatte. In unserer Fantasie verwandelte sie sich in ein gefährliches Abenteuerland.
Und diese Wand sollte eines Tages das Leben von Gregor und mir und unseren Familien auf grausame Weise für immer verändern.
Es war an einem trüben Nachmittag Ende Oktober. Den ganzen Tag über hatte es geregnet und nun kam ein lauwarmer Wind auf. Gregors Vater meinte, dass wären die besten Voraussetzungen für ein Gewitter. Wir saßen auf Gregors Bett und blätterten wieder mal in seinem Afrikawälzer. Das Licht, das durch das kleine Fenster in die Stube fiel wurde immer spärlicher. Der Wind trieb welke Blätter und kleine Äste über die Straße. Wir konnten die Fotos kaum noch erkennen, so dunkel war es mittlerweile geworden. Daher beschlossen wir das Licht anzumachen und nach Afrika zu gehen.
Afrika lag an der Wand zwischen Eingangstür und Zimmerecke.
Die untere Hälfte dieser Wand war mit einer ganz besonderen Tapete verkleidet. Während die anderen drei Wände des Zimmers, wenn ich mich recht erinnere, irgendein langweiliges Blümchenmuster hatten, so hatte diese Tapete ein Wege- und Pfadmuster. So sah es in Afrika aus. Jedenfalls für uns. Die Tapete reichte von der Fußleiste genauso hoch, wie wir uns, mit erhobenem Arm und auf Zehenspitzen stehend, strecken konnten. Der Rest der Wand darüber war mit weißer Raufaser beklebt.
Die Grundfarbe unserer Abenteuertapete war ein helles Grün, das durchzogen war, von sich schlängelnden hellgelben Streifen. Wie eine endlose, ständig die Richtung wechselnde Straße, durchbrach das gelbe Band diese große Grasebene. Die gelbe Linie begann an der rechten Zimmerecke ganz unten oberhalb der Fußleiste und endete links oben neben dem Türrahmen. In unregelmäßigen Abständen waren überall fast kreisrunde, schwarzgrüne Flächen, die uns wie geheimnisvolle dunkle Augen zu beobachten schienen. Darin erkannten wir die dichten, unerforschten Urwälder, die voller Gefahren und Geheimnisse waren.
Dort lebten wilde, menschenfressende Wesen, die nur darauf lauerten, dass ein unvorsichtiger Abenteurer einen unbedachten Schritt in ihr Revier machte. Und sollte der Unglückliche den Reißzähnen der Urwaldbestien entkommen sein, so würde ihn der vergiftete Pfeil eines eingeborenen Kriegers töten.
Das war für Gregor ganz klar, und ich träumte mit, wenn ich auch lieber durch die Prärie geritten wäre. Aber dazu fehlte eine passende Tapete.
Wir nahmen also die Pferdefiguren mit den Cowboys und Indianern drauf in die Hand und ritten über diese Wege an der Wand, die uns zu immer neuen Abenteuern führten.
Einer dieser gefährlichen, dunkelgrünen Flecken, er war unmittelbar neben der Tür in Höhe des Schlüssellochs, schien etwas dunkler und größer als alle anderen zu sein. Gregor sah in ihm ein besonders verwunschenes und gefährliches Stück Urwald. Er gab ihm den Namen Kongo. Diesen Namen hatte er im Afrikabuch gelesen und er war sein Synonym für Wildheit und Gefahr. Um diesen Kongo machten wir auch immer einen Bogen. Obwohl eine Straße beinahe den gesamten Flecken umschloss, vermieden wir es, diesen Weg zu benutzen.

„Aber wir müssen unbedingt über alle Wege reiten und dürfen keinen auslassen. Wir müssen unten anfangen und dort oben rauskommen“, sagte Gregor und zeigte auf das obere Ende der Tapete. „Nur dann finden wir am Ende der Straße die goldene Schatztruhe.“

Das war nämlich unser Ziel: die goldene Schatztruhe, die oben neben dem Türrahmen, am Ende der Straße vergraben war.

Wir knieten nebeneinander auf dem Fußboden. Als Knieschoner benutzten wir unsere Pullover.
Inzwischen kam das Gewitter immer näher. Wir erschraken jedes Mal, wenn es so heftig donnerte, dass die Fensterscheiben erzitterten.
Da die Straßen zu schmal waren, um die beiden Reiterfiguren nebeneinander führen zu können, ließ ich Gregor den Vortritt und folgte ihm. Schließlich war er der Ältere und es war ja auch seine Idee und seine Wand.

Wir ritten hintereinander her und kamen schon bald in die Nähe des ersten Urwaldes. Er lag auf unserer linken Seite und Gregor warnte mich: „Peter, pass auf die neunköpfige Schlange auf. Sie ist riesig. Sie wird versuchen, dich mit einem ihrer Köpfe vom Pferd zu schubsen und dann zu fressen.“
Er hatte es kaum ausgesprochen, da sahen wir, wie sich das Dickicht des Urwaldes an einer Stelle teilte. Wir waren bereits auf gleicher Höhe und konnten in die gelb leuchtenden Augen der Bestie blicken. Zu unserem Schutz hielten wir uns an den rechten Rand des Pfades und gaben unseren Pferden die Sporen.
„Du darfst ihr nicht in die Augen schauen!“, rief ich, und wir rasten mit klopfendem Herzen weiter bis links und rechts vom Weg nur noch offenes Land war.
„Das ging noch mal gut“, stellte Gregor erleichtert fest und stoppte sein Pferd.
„Ja“, antwortete ich und blieb ebenfalls stehen. „Das wird spannend. In jedem Urwald hausen Ungeheuer, die uns an den Kragen wollen.“
„Wir müssen immer ganz außen auf der anderen Straßenseite reiten und ganz schnell, dann kriegen sie uns nicht“, wusste Gregor. Mit vorgeschobenem Kinn und zusammengekniffenen Augen gab er seinem Gaul die Sporen.
Der gelbe Pfad durchschnitt nahezu schnurgerade die flache Landschaft. Aber schon hinter der nächsten Biegung führte er am zweiten Urwald vorbei. Diesmal auf der rechten Seite.
Und wieder durchzuckte das helle Licht eines Blitzes das kleine Zimmer. Zwei Sekunden später folgte der krachende Donner. Und wieder vibrierten leise die Fensterscheiben.

Unsere Fantasie ließ uns zwischen Neugier und Angst hin und her pendeln. Schwarzgrün stand der Wald und tausend glühende Augen nahmen uns ins Visier. Wir gaben den Pferden die Sporen, doch es schien als nähme der Wald kein Ende, als bewege er sich mit uns mit.
„Ich kann sie hören!“, schrie Gregor. „Sie schreien und zischen.“
„Ja!“, schrie ich zurück. „Das sind die riesigen Saurierlöwen. Wir dürfen nicht hinsehen. Sie könnten uns hypnotisieren!“

Es war ein ausgesprochen kribbliges Gefühl, das wir verspürten. Eine Mischung aus Spieltrieb, dem Erfinden von neuen Monstern, der Angst, die wir uns damit selbst einflößten, die uns gleichzeitig aber auch Spaß machte. Es war wie das Anschauen eines Horrorfilmes – man weiß zwar, dass man Ängste ausstehen wird und sich erschrickt, aber es ist die Freude am Nervenkitzel die uns zuschauen lässt.

Das Gewitter war nun genau über unserem Dorf angekommen. Der Regen klatschte gegen die Scheiben und der Wind war so stark, dass er durch die Ritzen des Fensters hindurch die Vorhänge schaukeln ließ.
Wir hatten ungefähr die Hälfte unseres Weges geschafft, als der dunkelste und unheimlichste Urwald auf der linken Seite vor uns auftauchte.
Gregor hielt an und ich ebenfalls. Mein rechter Arm tat mir weh, sodass ich die Gelegenheit war nahm, um mein Plastikpferd in die linke Hand zu wechseln.
„Wir müssen uns überlegen“, begann Gregor, „wie wir an am Besten an diesem supergefährlichen Monsterwald vorbei kommen.“
Ich nickte und dachte nach.
„Dort gibt’s nicht nur Saurierlöwen und mehrköpfige Todesschlangen. Da sind riesengroße Giftspinnen, die ihr Gift bis auf die Straße spritzen können und Mammutelefanten die dich tottrampeln und Echsen, die so lange klebrige Zungen haben, dass sie uns damit vom Pferd reißen können.“
Gregor hatte mir bei diesen Worten seine freie Hand auf die Schulter gelegt und mich ernst und eindringlich angeschaut. So, als müsste er mich dringend vor diesen Gefahren warnen.
Dabei war mir vollkommen klar, dass wir vor der riskantesten Aufgabe standen, die wir jemals zu bewältigen hatten.
„Aber welche Möglichkeiten haben wir denn, außer rasend schnell vorbeizureiten?“, fragte ich besorgt.
Jetzt dachte Gregor angestrengt nach.
Unser Schweigen wurde von drei unmittelbar hintereinander folgenden Blitzen, gefolgt von drei ineinanderlaufenden ohrenbetäubenden Donnerschlägen unterbrochen.
Wir blickten erschrocken zum Fenster. Der Himmel war schwarz, und der Wind peitschte den Regen gegen die Scheiben, als wolle er diese mit aller Gewalt zerbrechen.
Die Ablenkung war aber nur von kurzer Dauer. Es galt ein großes Abenteuer zu bestehen und wir standen unmittelbar vor der größten Herausforderung, die uns noch vom Schatz am Ende der Straße trennte.
Gregor hatte die Augen geschlossen. Das tat er immer, wenn er sich ernsthaft auf etwas konzentrieren musste. Ich machte es ihm nach, aber außer schnell auf der gegenüberliegenden Straßenseite vorbeizureiten, fiel mir nichts ein, so sehr ich mich auch anstrengte.
Plötzlich riss Gregor die Augen auf und rief: „Ich weiß, was wir machen. Wir reiten, so schnell wir können wie immer ganz am Rand der Straße und zusätzlich…“, an dieser Stelle hob er seine Hand und streckte den Zeigefinger nach oben, „ gehen wir aus dem Sattel und hängen uns auf die Seite, sodass wir vom Pferd verdeckt sind.“
Er hatte ganz glänzende Augen und grinste von einem Ohr zum anderen.
Ich aber konnte mir das gar nicht vorstellen. „Wie sollen wir uns auf die Seite hängen? Wir können uns doch nicht am Pferd festkleben.“
„Ich hab das mal in einem Heft gesehn mit einem Cowboy-Roman“, erklärte Gregor.
„Wir müssen doch ganz rechts reiten und stellen uns mit dem rechten Fuß in den Steigbügel. Das linke Bein heben wir über den Pferderücken, so als wollten wir absteigen, dabei halten wir uns, mit dem Zügel in der Hand, am Sattelknauf fest. Wenn wir dann den Kopf noch ein bisschen einziehen, sind wir ganz vom Pferd verdeckt und die Monster können uns nicht sehen.“
„Ach, so“, erwiderte ich. „Jetzt hab ich’s kapiert.“
„Also“, sagte Gregor. „Kann’s los gehen?“
„Ja“, hauchte ich und mir war schon etwas mulmig.
Wir hielten unsere Pferdefiguren wieder auf unsere vorherige Position und Gregor gab das Kommando: „Los!“
Wir ritten wie der Teufel und ließen uns in unserer Fantasie aus dem Sattel gleiten, wie es ein Stuntman nicht eleganter hätte machen können.
Jetzt trennten uns nur noch wenige Meter von diesem Ungetüm eines verwunschenen Monsterwaldes. Hinter unseren Pferden bildete der aufgewirbelte Staub eine dicke, gelbe Wolke, sodass ich Gregor mit seinem Pferd nur schemenhaft erkennen konnte.
Glühende Augen verfolgten uns und meterlange, züngelnde Schlangenzungen
zielten in unsere Richtung. Feuerspeiende Flugechsen kreisten zwischen Waldrand und Straßenböschung. Wir trieben unsere Pferde mit lauten Rufen an und konnten den Blick nicht vom schwarz-grünen Waldrand abwenden.
Ich beobachtete, wie sich das undurchdringlich scheinende Gebüsch an einer Stelle teilte und sah eine am ganzen Körper mit Schleim bedeckte, rotbraune Echse hervortreten. Sie riss das Maul auf und eine lange, feuerrote Zunge schoss in unsere Richtung. Das war die gefährlichste Bestie überhaupt. Ihre Zunge war so klebrig, dass locker ein ganzes Pferd daran festkleben konnte. Ich schloss blitzschnell meine Augen und zog reflexartig den Kopf ein.
Ich dachte noch, hoffentlich reitet Gregor nahe genug am Straßenrand, denn durch die Staubwolke konnte ich ihn nicht sehen.
Im selben Augenblick sah ich ein helles Licht durch meine geschlossenen Lider. Und noch bevor mir klar war, dass das Licht von einem Blitz herrührte, knallte ein Donner an mein Trommelfell, dass ich dachte das Haus sei getroffen und es fiele jeden Augenblick in sich zusammen.
Ich erinnere mich, dass ich die Augen aufriss und zum Fenster rannte, weil dies aufgesprungen war. Mit all meiner Kraft stemmte ich mich dagegen und drückte die beiden Flügel wieder zu. Trotzdem hatte der Sturm soviel Regen ins Zimmer geblasen, dass mein Gesicht und mein Oberkörper geduscht wurden.
„Mann, hast du das gesehn“, rief ich, während ich mich zu Gregor umdrehte.

Aber Gregor antwortete nicht.
Ungläubig blickte ich im Zimmer umher, doch Gregor war nicht mehr da. Wie hat er das angestellt? So schnell und ohne ein Geräusch zu verschwinden. Wie elektrisiert begann ich hinter alle Möbel zu schauen. Das war ein toller Trick, den musste er mir unbedingt erklären. Trotzdem war ich sicher, dass ich ihn gleich finden werde. Ich rief seinen Namen und schaute in seinem Schrank nach. Vielleicht war es aber auch gar kein Versteckspiel, Vielleicht hatte er wegen des schlimmen Unwetters Schiss bekommen, und sich deshalb verstecken wollen. Aber im Schrank war er nicht. Auch nicht unter seiner Bettdecke und nicht unterm Bett. Damit hatte ich alle möglichen Verstecke überprüft. Jetzt verstand ich gar nichts mehr. Ich riss die Tür auf und rannte in die Küche. Gregors Mutter stand am Fenster.

„Wo ist Gregor?“, rief ich.
Sie schaute mich entgeistert an und ich erklärte ihr, was los war. Ihren ungläubigen und doch Unheil ahnenden Blick werde ich nie vergessen. Ihre immer lauter und hysterischer werdenden Gregor-Rufe und ihr hektisches Gerenne, ließen schlagartig auch in mir Angst und Verzweiflung aufsteigen. Verdammt, das war kein Spiel. Da ist etwas Unheimliches, etwas Schreckliches passiert. Es war kein sicheres, begreifbares Gefühl. Es war wie eine langsam immer stärker werdende Übelkeit, die einem mit Sicherheit den Magen umdrehen wird. Man schluckt und schluckt und versucht panisch an etwas anderes zu denken, um das Unvermeidbare doch noch zu verhindern. Aber man schafft es nicht. Der Dämon im Innern bahnt sich brennend mit brachialer Gewalt seinen Weg nach draußen und demonstriert seine Macht.

Wir durchsuchten alle Zimmer, den Keller und den Speicher. Wir rannten im strömenden Regen hinters Haus und suchten im Schuppen. Dann spurteten wir wieder in Gregors Zimmer und drehten alle Kissen um. Wir zogen den Teppich weg und untersuchten die Dielen nach einer geheimen Falltür. Wir hämmerten gegen die Wände in der Hoffnung eine unsichtbare Tür ginge auf und der lachende Gregor streckte uns die Zunge raus.
Aber da war nichts.

Wir liefen schreiend und mit heißen Gesichtern die Straße rauf und runter und fragten alle Nachbarn. Das Gewitter tobte ungezügelt unter einem schwarzen Himmel. In Sekunden hatte uns der Regen bis auf die Haut durchnässt. Aber ich spürte nur Verzweiflung und Angst.
Unzählige Male drückte mein Daumen auf die Klingeln der Nachbarn. Unzählige Male formte mein Mund die Frage: „Haben Sie Gregor gesehen?“

Seit jenem Tag sind mehr als fünfzig Jahre vergangen.
Eine Antwort auf meine Frage von damals habe ich bis heute nicht bekommen.


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