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Fieber
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 04.04.2010 20:17von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte
Wahrscheinlich träumte ich während des Einsteigens, geschwächt von Grippe und Schlafmangel. Anders kann ich mir nicht erklären, dass alle außer mir jetzt sitzen.
Seit einigen Minuten wanke ich durch die eisernen Gänge des Zuges und suche nach einem Sitzplatz. Die Sitzenden blicken teilnahmslos weg oder durch mich hindurch, der ich mich fühle wie der möglicherweise letzte auf der Reise nach Jerusalem.
Ich brauche Erholung. Nicht wegen mir, ich scheiß auf mich.
Nein, ich brauche die Kraft für Wichtigeres. Um eine Erkenntnis umzusetzen. Die Entscheidung, die jeder einmal im Leben treffen sollte. Nach der sich das gesamte Leben umwälzt und man ins irdische Paradies eingeht.
Der scheinbar letzte Platz ist vom dunkelblauen Jackett und dem schwarzen Koffer eines Anzugtypen belegt.
„Darf ich mich setzen?“ frage ich.
Er zieht seinen sorgfältig frisierten Kopf aus einer Zeitung und sieht mich an, sieht mich aus seltsam kleinen Augen an, die in seinem länglichen Quadratschädel wie Knöpfe stecken.
„Nein.“ sagt er. Sagt es, als wenn’s das normalste der Welt wäre und versteckt sich wieder hinter der Zeitung.
In meinen Schläfen wummert Herzschlag, Kopfschmerz perforiert die hintere Schädeldecke, meine Glieder sind noch immer bleischwer, die ganze Woche schon. Ich bin krank.
„Hören Sie“, höre ich mich aus der Ferne wie von einem Berg herab sagen, „ich würde mich gerne setzen, wissen Sie, ich hatte eine harte Woche, hab nicht viel geschlafen...“ und so weiter.
„Das ist ja sehr bedauerlich, aber ich möchte den Platz eigentlich nicht frei räumen.“ Wobei er den Vorbehalt im eigentlich durch kalten Tonfall und herausfordernden Blick mehr als wett macht.
„Aber es ist kein anderer Platz mehr frei.“ sage ich.
„Dann müssen Sie eben stehen.“ erwidert er. Es klingt als falle eine Tür zu.
„Jetzt lassen Sie ihn doch sitzen!“ sagt eine dicke Frau mit geflochtenen Zöpfen, die ihm gegenüber sitzt. Sie lächelt mich mütterlich an.
„Sie sehen doch, er ist krank, einen Schnupfen hat der ärmste.“
Der Knopfaugenmensch lächelt. „Das bisschen Kranksein. Deswegen mache ich ihm noch lange keinen Platz.“
„Nun seien sie doch nicht so. Spätestens wenn der Schaffner kommt, müssen sie ihr Zeug weg nehmen. Sie haben doch einen Platz, machen Sie den anderen frei.“ mischt sich ein älterer Herr ein, der neben der dicken Frau sitzt. Er trägt einen grauen Mantel, graue Schuhe und einen grauen Hut. Vor seiner Brust baumelt eine große goldene Uhr, die an einer Kette um seinen Hals hängt.
„Es steht Ihnen frei, sich zu beschweren.“ antwortet der Anzugtyp. Meine Beine werden schwer, ich halte mich an der Rückenlehne des Alten fest, als der Zug gleichzeitig beschleunigt und in eine Kurve geht.
Als ich wieder gerade und frei stehen kann, bemerke ich, dass der Abend sich zur Nacht verdunkelte, die Landschaft fliegt nur mehr schemenhaft vorbei. Kurz verschwimmt der Blick, als ich durch die Scheibe Vertrautes zu sehen versuche. Nichts bekanntes zu erkennen.
Nur verschiedene Abstufungen der Dunkelheit, in denen sich Lagerhäuser ebenso gut verbergen könnten wie Mayatempel oder Stützpunkte von Außerirdischen. Wir könnten über einen fremden Planeten fahren, denke ich seltsamerweise und spüre, wie der Schweiß den Rücken hinunterläuft.
Umständlich lege ich meinen Rucksack ab. Luft!, Kühle!, denke ich und entschuldige mich bei dem alten Grauhaar, dessen Hut vom Rucksack gestreift wird. Auch den grünen Militärparka ziehe ich aus. Die dicke Frau weitet die Nasenflügel, als sich fiebriger Schweißgeruch verbreitet.
Den Parka lege ich über die Rückenlehne des Platzes, den die Sachen des Anzugtypen besetzen. Der reagiert nicht darauf, auch nicht, als meine Zähne wie warnende Gebeinkastagnetten zu klappern beginnen. Nehmt euch in acht, scheinen sie bedeuten zu wollen, hier kommt ein Kranker.
Ich hämmere dem Anzugtypen die Faust gegen seinen Quadratschädel. Direkt gegen die rechte Schläfe, mit einem dumpfen Geräusch, das ich eher fühle als höre. Sein Kopf prallt gegen die Fensterscheibe, er hält immer noch die Zeitung in Händen. Die dicke Frau beginnt zu schreien. „Bitte, seien Sie ruhig.“ sage ich zu ihr, dann nehme ich seinen Kopf zwischen die Hände wie einen Football vorm Abschuss und ziehe ihn zärtlich gegen mein Knie. Nur wesentlich schneller, mit geradezu flirrender Geschwindigkeit. Ich spüre das Knirschen seines Nasenbeins, höre ihn wimmern. Wieder und wieder ramme ich Knie und Gesicht gegeneinander. Blut spritzt, Zuggäste schreien. „Schnauze!“ schreie ich zurück. „Der Anzugtyp wollte mich demütigen, wie er’s mit Euch getan hat. Seht Ihr seine Zeitung? Financial Times Deutschland. Das ist einer von denen.“ Der ältere Mann schlägt den Deckel seiner goldenen Uhr auf, blickt auf’s Zifferblatt und sagt: „Nun ist es aber genug, junger Mann, übertreiben Sie nicht.“
Als hätte seine Bemerkung die geheimnisvolle Kraft eines Zaubers, verlässt mich die Begeisterung und damit die Kraft, ich lasse den Kopf des Anzugtypen los.
Seine Sachen – Jackett und Koffer – nehme ich vom Sitzplatz und lege sie dem blutigen Bündel auf den Schoß. Dann setze ich mich auf den freigewordenen Platz.
Ich fühle mich ungesund, lehne mich an und schließe die Augen. Durch ein Fenster kommt Fahrtwind und kühlt meinen aufgeheizten Körper, morgen wirst du richtig krank sein, denke ich mir noch, dann falle ich in Schlaf.
Am Hauptbahnhof wecken mich Demonstrationsschreie. Ein aufgebrachter Mob fordert entweder eine hygienischere Sprache oder die Abschaffung derselben, die Meinungen auf Plakaten und Schildern gehen auseinander.
Dunkel erinnere ich mich an einen Artikel, den ich in diesem Zusammenhang las. Die Verrohung der Sprache führe immer häufiger zum Sprachekel und sogar zur Sprachangst bei denen, die berufsmäßig mit Sprache zu tun haben, war dort geschrieben worden, namentlich bei Schriftstellern, Übersetzern, Journalisten, usw. Um mittels öffentlichkeitswirksamer Aktionen dieser Entwicklung entgegenzuwirken, bzw. sprachfreie Erholungsräume zu schaffen, veranstalteten PEN, Journalisten- und Übersetzerverband regelmäßige Demonstrationen der Sprachlosigkeit. Weiterhin berichtete der Artikel aber, dass auch in der Sprachlosigkeit ernste Probleme stattfänden. Nicht wenige empfänden das gemeinsame Schweigen als vielsagend und sahen sich jetzt den inneren Wortwelten anstelle der äußeren ausgesetzt, was dem Sprachdilemma noch das Gefühl der Unentrinnbarkeit hinzufügte.
Das grundlegendere Problem sei anscheinend die Verhirnung der Menschheit, wurde jetzt behauptet. Wie man dagegen angehen könnte, dafür wurden zum Zeitpunkt der Artikelentstehung gerade Komitees gebildet.
Ich reibe mir die Stirn, massiere Schläfen und Augäpfel. Verhirnung der Menscheit? Bullshit. Während ich nervös kichere, fällt mir ein, dass ich vor kurzem jemanden brutal verprügelt habe.
Entsetzt blicke ich auf den Nachbarplatz. Aber meine Erwartung wird enttäuscht, dort kauert kein von mir zusammengeschlagenes Menschenbündel.
Klar, eine Fieberfantasie, denke ich mir, so was gibt’s, auch, dass die sehr realistisch wirken. Fieber plus Schlafentzug, da kann’s schon mal zur Sache gehen. Erleichtert stehe ich auf, gehe durchs Abteil und aus dem Zug. Auf dem Bahnsteig drängele ich mich durch die Demonstration und tauche ein in den Menschenstrom, aus dem ich kurz vor meiner Haustür ausschere. Durch die Straße weht kühler Wind, ich ziehe meinen Parka zu und erinnere mich, dass ich etwas vorhabe. Was es ist, frage ich mich.
Lupe ist da, sie steht in der Küche und rührt in einem riesigen Topf. „Eintopf.“ beantwortet sie meinen fragenden Blick. Ich küsse sie, einen Wangenkuss lässt sie sich gefallen, aber als mein Mund weiterwandern will, schubst sie mich weg.
„Es reicht, wenn einer krank ist.“ sagt sie.
„Haben wir noch irgendwo was gegen Grippe?“ frage ich. „Mir geht’s beschissen.“
„Frag deinen Kumpel, Schotter sitzt im Wohnzimmer und baut sich Briefchen. Sag ihm gleich, dass er sich hier nicht mehr sehen zu lassen braucht, ich will mit dem Gedeale nichts zu tun haben.“ Der Topf blubbert, aus unserem kleinen Küchenradio dudeln Oldies.
Der Essensgeruch bereitet mir leichte Übelkeit.
„Warum lässt du ihn rein, wenn du ihn nicht hier haben willst?“ frage ich.
„Was erwartest du? Schotter ist dein Kumpel, ich kann dir doch den Umgang nicht verbieten.“
Ich schüttele den Kopf, gehe aus der viel zu engen Küche, in der man Aggressionen bekommt, wenn man zu lange zu zweit drin steht. „Rätselhaftes Weib“, murmele ich zu niemand bestimmtem, ohne an eine konkrete zu denken. Da fällt’s mir wieder ein.
„Ich hatte irgend was vor, erinnerst Du dich, was es sein könnte?“ rufe ich vom Flur.
Einen Moment Stille.
„Treppenhaus wischen, endlich den Badezimmerschrank montieren, mir mal wieder nen schönen Abend spendieren. Verdammt, seit nem viertel Jahr machen wir nichts als schuften. Drecksleben, wofür eigentlich?“
„Danke Süße.“ krächze ich „aber davon kann’s nichts sein.“ Da knallt’s. Sie muss etwas gegen die Tür geworfen haben, wahrscheinlich den Löffel.
Im Wohnzimmer sitzt Schotter vor einer Feinwaage, wiegt braunes Pulver und füllt kleine Häufchen in vorgefaltete Briefchen. Ich setze mich neben ihn auf die Couch und zappe durch die Programme bis ich bei einem Reality-Format hängenbleibe. Schotter wiegt unbeeindruckt weiter, meine Anwesenheit nicht beachtend.
„Sag wenigstens hallo, es ist meine Wohnung verdammt.“ knurre ich.
Er, ohne den Blick zu heben: „Hi.“
„Gib mal nen halbes.“ sage ich.
„Seit wann nimmst Du wieder Schorre?“ fragt Schotter, mich jetzt verwundert anblickend.
„Nur heute.“ sage ich „Das Zeug lindert Grippesymptome, Schnupfen, schwere Glieder und Kopfschmerzen. Wenn du dir was reinziehst ist alles weg.“
Schotter hebt die linke Augenbraue. „Wo haste denn die Weisheit her?“
„Weiß doch jeder. Sogar Fatima, die niedliche Nutte von der Ecke, hat’s vorhin erzählt.“ improvisiere ich. „War auch im Mittelalter ein bekanntes Heilmittel, Laudanum.“
Er zuckt die Schultern und schiebt mir nen Briefchen rüber. „Guten Appetit.“ sagt er.
Ich nehme Alufolie, baue Blech und Röhrchen, schütte eine kleine Menge Pulver aufs Blech, verflüssige das Pulver mittels eines Feuerzeugs und verfolge den Tropfen mit dem Röhrchen.
Die aufsteigenden Dämpfe inhaliere ich. Den Drachen jagen nennt man das. Als würde ich dem Namenspatron meines Stadtteils nacheifern, Georg, dem heiligen Drachentöter.
Nicht mal die hälfte des Briefchens schaffe ich, da beginnt die Wirkung. Das Blech fällt mir aus den Händen, mein Bewusstsein driftet in irgendwelche Halbwelten.
Wieder bin ich im Zug, der alte Mann sitzt vor mir, schaut auf seine Uhr.
„Es ist spät, Sie sollten sich beeilen.“ sagt er.
„Beeilen, womit?“ frage ich.
„Mit dem, was Sie vorhaben. Es lohnt nicht die Dinge aufzuschieben. Eines morgens werden Sie erwachen und sich fragen wofür.“ Der Zug rattert durch die Dunkelheit, Regen perlt die Scheibe hinab. Schwammige Leuchtpunkte ziehen vorbei, Laternen, denke ich.
„Lassen Sie ihn doch in Frieden, er ist krank und braucht Ruhe.“ sagt die dicke Frau mit den Zöpfen.
„Schwanger ist er zumindest nicht, keine Ahnung warum er unbedingt sitzen musste. Das bisschen Grippe.“ der Anzugtyp schnaubt verächtlich. Mit einem Seitenblick stelle ich fest, dass sein Gesicht eine Ruine ist, eine blutverschmierte Grimasse, die Knochen scheinen nicht zueinander zu passen. Der sollte eigentlich genug für heute haben, wundere ich mich.
„Ich erinnere mich nicht mehr daran was ich vorhabe.“ sage ich dem Alten.
Der klappt die Uhr zu und schüttelt den Kopf, als missbillige er meine Worte.
Da beginnt ein widerliches Geräusch durchs Abteil zu kriechen, es hört sich an wie ein Staubsauger oder eher wie ein riesiger saugender Mund.
Die Strecke führt jetzt nach unten, es ist steil wie die Abfahrt einer Achterbahn. Der Zug rattert und rattert in die Dunkelheit. Was für eine wilde Fahrt!, denke ich und halte mich an der Rückenlehne fest, so sehr schüttelt es mich durch. Das Geräusch wird lauter, lauter.
„Haben Sie eine Ahnung was es sein könnte?“ frage ich den Alten, schreie fast, um den Lärm zu übertönen.
„Wovon zum Teufel sprichst Du?“ antwortet der Alte mit Schotters Stimme.
Das Schütteln wird immer stärker, ich klammere mich an die Rückenlehne.
„Vom Leben!“ rufe ich. Aber es folgt keine Antwort, nur das Geräusch wird intensiver, lauter, durchdringender. Es zieht durch meine wehrlosen Gehörgänge wie eine Karawane von kleinen Saugrobotern. Man wird mein Gehirn wegsaugen!
Ich presse die Hände gegen die Ohren, da bockt der Zug wie ein Hengst und ich falle von meinem hart erkämpften Sitzplatz.
„Nein, nicht mein Platz!“ schreie ich und will mich wieder aufrappeln, hebe gerade den Kopf zur Orientierung, da sehe ich die Faust des Anzugtypen immer größer werden. Ich schließe die Augen und warte auf den Schlag.
Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich Schotter, der an meiner Schulter rüttelt, sehe seine ausholende Hand. Klatsch. Augenblicklich bin ich klar.
„Danke.“ murmele ich und streife seine Hand von meiner Schulter.
„Na, kommste wieder klar?“ fragt Schotter.
„Ne, aber jetzt weiß ich, was zu tun ist.“ lache ich.
Ich sehe mich um. Schotter sitzt links, Lupe rechts von mir, sie schlürft ihren stinkenden Eintopf. Dieses Geräusch, dieses Schlürfen, es kann einen wahnsinnig machen.
„Ich muss weg!“ sage ich und eile in den Flur, ziehe den Parka an und stürze aus der Wohnung. Lupe ruft mir hinterher.
Regen, Regen. In wenigen Sekunden beschlägt die Brille mit Wassertropfen. Viele kleine Blickfilter, durch die der Steindamm wie ein impressionistisches Gemälde aussieht. Aus einem Fenster kommt melancholischer Sound, der achte Titel von Tricky’s Vulnerable.
Fatima steht an derselben Ecke wie immer und fragt, ob ich mit ihr Sex machen will.
„Jetzt nicht, ich habe etwas wichtiges vor.“ antworte ich. Sie lacht.
Rund um den Hauptbahnhof patrouillieren Polizisten mit Maschinenpistolen. Mitten auf der Kreuzung steht ein Polizeiauto vor einem schwarzglänzenden Mercedes, man kontrolliert die Ausweise der Mitfahrer. In der Wandelhalle herrscht hektisches Nebeneinander, wie immer. Niemand kennt mich, genau wie ich keinen kenne. Erholsame Anonymität. Auf der Anzeigentafel sehe ich, dass der Zug nach Kopenhagen in fünf Minuten abfährt!
Ich eile die Treppen zum Bahnsteig 6a hinunter und setze mich in den Zug neben einen Herrn mit Anzug und Krawatte. Wir reden über die Wirtschaftskrise und diskutieren einen Artikel aus der Financial Times Deutschland, die er liest.
Alles ist im Arsch, da sind wir uns einig, also ist alles in Ordnung.
Zwischendurch grabe ich in meinen Taschen nach Geld und finde ein paar Scheine und die Geldkarte in meinem Portemonnaie.
„Jetzt muss ich zuerst mal den Schaffner suchen, weil ich noch keinen Fahrschein habe!“ sage ich und bitte den Herrn im Anzug, mir den Platz freizuhalten.
Nach dreieinhalb Stunden kommt der Zug in Kopenhagen an. Ich suche mir eine gemütliche Kneipe und trinke Bier. Nicht sehr lange und ich lege den Kopf auf den Tisch und schlafe ein. Merja, die blonde Kellnerin, weckt mich. Ich verspreche ihr, dass ich ihr im Tausch gegen einen Schlafplatz ein Gedicht widme.
Am nächsten morgen frühstücken wir mit Blick auf den Hafen, die Sonne spiegelt sich in den Wellen wie eine Flotte goldener Minischiffe. Möwen fliegen über die abgetakelten Segelboote des Kopenhagener Traditionshafens. Wir unterhalten uns über Merjas kaputte Waschmaschine, wovon wir keine Ahnung haben und das Leben, von dem wir viele Ahnungen haben. Als uns auffällt, wie ähnlich sich beides ist, lachen wir.
Sie fragt mich, was ich in Kopenhagen tue. Ich erzähle von dem dringenden Gefühl, dass ich eine Erkenntnis und ein Vorhaben hatte, die große Bedeutung für mich haben und dass ich beides vergaß.
„Erst als ich heute morgen über den Hafen blickte, wurde mir alles klar.“
„Was wurde dir klar?“ fragt sie.
Ich zucke die Schultern. „Dass wir alle nur kleine goldene Schiffe im Lebensmeer sind.“ antworte ich und deute auf die Sonnenreflektionen.
Sie lacht. „Das hast du dir ausgedacht!“
RE: Fieber
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 04.04.2010 20:56von Rainek Radar • | 360 Beiträge | 360 Punkte
hall kjub;
das ist für meinen geschmack, richtig gute prosa;
ich lese durch und bleibe nirgends hängen; einzig kleine inkonistenzen hier und da (die ich jetzt nicht anführe weil mir der text zu lang ist) - nichts mit dem ein guter lektr nicht fertigwerden würde;
beispiele aber doch (damit u meinen begriff von inkonsistenz verstehst):
Nun seien sie doch nicht so. seien - sind? (seien stimmt sicher sieht aber echt komisch asu, wenn man es geschrieben sieht - könnte aber geschmacksache sein)
so wirkt das eine oder andere mal ein wort deplaziert oder
kommt die phantasiereise - mayatempel ausserirdische zu abrupt zu unverbandelt (auch wenn man natürlich das fieber noch im hinterkopf hat
aber wie gesagt, nur kleinigkeiten, fast nicht der rede wert;
am stärksten ist der mittelteil (der schluß der zugfahrt und die heimkehr); hier lese ich bereits deutlich einen eigenen starken stil;
die dialoge greifen natürlich in die beschreibungen und monologe;
und die bilder wirken niemals künstlich, wirken alle wie ein und demselben geist entsrpungen, machen den text sehr dicht und einheitlich, damit den erzähler glaubhaft und für den leser greifbar;
sehr sehr gerne gelesen; das entspricht genau meinem geschmack;
hoffentlich kommt noch mehr;
lg
rainek
RE: Fieber
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 04.04.2010 21:58von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte
o vielen dank rainek, ich hab schon lang keine so positive rückmeldung bekommen - das perlt im hals des literaturfritzen!
ja zu den inkonsistenzen - also widersprüchlichkeiten, bzw unbeständigem laut duden: da gibts n paar übergänge an denen es hakt - der text ist jetzt ungefähr ein halbes jahr alt und ich las ihn vorhin nochmal mit neuem, unverbrauchten blick und da sind so paar offene enden die nicht recht zusammen finden usw. wenn ich mal viel zeit habe werde ich mich nochmal ransetzen und den text überarbeiten - so kleines flickwerk dauert bei mir manchmal länger als n komplettes geschichtchen zu schreiben.
seien ist aber keine inkonsitenz, denn inkonsistent bezieht sich wohl eher auf die inhaltliche ebene. ne also ich habe es hier als konjunktiv von bin verwendet - also sei, das angehängte en kann ich allerdings auch nicht erklären, aber es 'klingt' für mich richtig.
liebe grüße
RE: Fieber
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 04.04.2010 22:15von Rainek Radar • | 360 Beiträge | 360 Punkte
"seien" klingt nicht nur richtig, es ist auch richtig aber, wie gesagt, ich glaube ich habe es noch nie geschrieben gesehen - vielleicht deswegen meine irritation;
im gesprochenen deutsch ist es in der höflichkeits- form eigentlich ganz normal im gebrauch;
nein das "seien" ist keine inkonsistenz, da hast du recht; ich habe es nur aus dem anfang gleich rausgepickt, deswegen steht es dabei; (wie gesagt, der text ist sehr lange und ich habe kein zweites mal drübergelesen); daß mir die KLEINEN fehler so schlecht im gedächtnis geblieben sind, spricht natürlich FÜR den text;
lg
rainek
RE: Fieber
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 03.05.2010 21:14von perry • Mitglied | 1.417 Beiträge | 1417 Punkte
Hallo Kjub,
ich lese in Foren selten Kurzgeschichten, weil es einfach zuviel Zeit erfordert. Deine hat mich allerdings von Anfang an gefesselt und ich habe sie in einem "Zug" durchgelesen.
Nun die Aussage mit den "goldenen Schiffchen" ist gut, auch wenn mir das Millieu etwas zuviel Milieu sowie Fieber und Drogen etwas zuviel Halluzination ist. Einen kurzen Moment dachte ich der ältere Herr mit der goldenen Uhr wäre Gott und der Zug würde Richtung Hölle fahren. Am besten fand ich dieses Suchen nach etwas was er tun wollte, weil es die Sehnsucht nach was auch immer ausdrückt. Weniger gefiel mir, dass er am Schluss mit der Bedienung im Bett landet, außer das war es, was er wollte.
LG
Perry
RE: Fieber
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 03.05.2010 21:32von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte
He perry, ich finde es natürlich super, wenn eine meiner Geschichten fesselt. Es gibt wenig schönere Komplimente. Danke. Ja, mir viel dieser Milljöh- und Drogenoverkill auch auf und ich wundere mich, dass den bisher niemand bemängelt hat. Was allerdings schon gesagt wurde, ist, dass der Typ mit der goldenen Uhr Gott sei und die Frau das mütterlich göttliche Element. Also ich finde es faszinierend, dass man dort so eine Ebene anscheinend herauslesen kann - ich selbst denke und schreibe eigentlich sehr konkret und mache mir über das zwischen den Zeilen stehende eigentlich keine Gedanken, zumindest bei der Prosa nicht, obwohl auch das nicht so ganz stimmt... ach egal, vergiss es!
Übrigens bist du der erste, der meinen intendierten Kerngedanken anspricht! Die Sehnsucht an sich und die Unerfüllbarkeit dieses Gefühls. Er landet indes nicht zwingend mit ihr im Bett, die gewählte Formulierung lässt sich auch anders interpretieren.
Grüße
Kjub
RE: Fieber
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 04.05.2010 22:39von Ralfchen (gelöscht)
Zitat
Wahrscheinlich deliierte ich, geschwächt von Grippe und Schlafmangel, während des Einsteigens . Anders kann ich mir nicht erklären, dass alle außer mir jetzt sitzen. Seit einigen Minuten wanke ich durch die eisernen Gänge des Zuges auf der Suche nach einem Sitzplatz. Die Sitzenden blicken teilnahmslos an mir vorbei, an einem der sich fühlt, wie auf der möglicherweise letzten Reise nach Jerusalem.
Ich brauche Erholung, nicht für mich, ich scheiß auf mich. Ich brauche die Kraft für Wichtigeres. Um eine Erkenntnis umzusetzen. Die Entscheidung, die jeder einmal im Leben treffen sollte. Nach der sich das gesamte Leben überschlägt und man ins irdische Paradies eingeht.
Der erste und letzte freie Platz ist vom dunkelblauen Jackett und dem schwarzen Koffer eines Anzugtypen belegt.
„Darf ich mich setzen?“
Er zieht seinen sorgfältig frisierten Kopf aus einer Zeitung und sieht mich an. Sieht mich aus diesen kleinen Augen an, die in seinem Quadratschädel wie Knöpfe in nem Puppenkopf stecken.
„Nein.“
sagt er; als wenn’s das normalste der Welt wäre und zieht sich wieder seine Zeitung zurück.
Zitat
länglichen Quadratschädel
entweder rektangular oder quadratisch.
ich finde dass der text unglaublich viele umstellungen und entrümpelung benötigt. die idee hat potential, nur der text müsste wie eingangs geschrieben, durchgehend überarbeitet und verdichtet werden. auch gehören sorgfältige zeileneinschübe und die dialoge in einzelnen zeilen.
RE: Fieber
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 05.05.2010 22:57von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte
moin Ralfchen, freut mich dass du vorbei schaust. ich lese den text in einem monat auf der literatur-altonale hier in hamburg und so bisschen kosmetik schadet da sicher nicht.
Zitat
deliierte
da bin ich zwiegespalten. einerseits gefällt mir das konnotierte, andrerseits wärs ein verdammter zungenbrecher zu beginn der lesung! behalt ich mal im hinterkopf.
Zitat
Anders kann ich mir nicht erklären, dass alle außer mir jetzt sitzen.
ja, so isses grammatikalisch besser
Zitat
wanke ich durch die eisernen Gänge des Zuges auf der Suche nach einem Sitzplatz
ja
Zitat
wie auf der möglicherweise letzten Reise
kennst wohl das spiel reise nach jerusalem nicht? so rum gehts nicht.
Zitat
Ich brauche Erholung, nicht für mich, ich scheiß auf mich.
da find ich meine version besser. diese pause nach Erholung ist gut: atem holen für den kleinen twist.
Zitat
Wichtigeres.
iss substantiviert ja? scheiße, könnte sein. ich bin da grad ahnungslos.
Zitat
überschlägt
tschuldige, aber das klingt für mich eher nach autounfall als nach irdischem paradies.
Zitat
Der erste und letzte freie Platz
sag mal, ist das jetzt nich etwas übererklärend, also verkomplizierend? mir ist grad so. eher nicht.
Zitat
sorgfältig
anstelle von akkurat - ich glaub ja, das nehm ich. passt besser zu dem typen, stimmt. unter akkurat passte fürn militär.
Zitat
und zieht sich wieder seine Zeitung zurück.
ich glaub da nehm ich: und versteckt sich hinter seiner zeitung
Zitat
länglichen Quadratschädel
entweder rektangular oder quadratisch.
na ja, magst schon recht haben, aber ich nehm doch nicht akkurat raus und dafür rektangular rein. außerdem meint Quadratschädel auch keinen hundertprozentig quadratischen Schädel.
Zitat
ich finde dass der text unglaublich viele umstellungen und entrümpelung benötigt. die idee hat potential, nur der text müsste wie eingangs geschrieben, durchgehend überarbeitet und verdichtet werden. auch gehören sorgfältige zeileneinschübe und die dialoge in einzelnen zeilen.
für verdichtung und entrümpelung stände ich zur verfügung. wie geschrieben, den text lese ich demnächst und natürlich soll der so gut wie möglich sein.
immer, wenn ein anderer spricht, beginnt eine neue zeile. und was meinst du wohin absätze gehören?
grüße
Kjub
RE: Fieber
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 05.05.2010 23:08von Ralfchen (gelöscht)
leida hab ich keine zeit für langes nachlesen. du bist selbst scharf genug.
eingangs sprichst du von deiner grippe und hier meinst du n' paar zeilen späta:
Zitat
In meinen Schläfen wummert Herzschlag, Kopfschmerz perforiert die hintere Schädeldecke, meine Glieder sind ohnehin schwer, die ganze Woche schon. Ich werde krank.
also grippe iss: KRANK und versuche nicht inkonstistenzien am kritischen leser vorbeizuschwindeln. kopfschmerz wummert und ich wüsste nicht was perforiert.
Zitat
In meinen Schläfen pocht heißes Blut, Kopfschmerz trümmert dumpf an die hintere Schädeldecke, meine Glieder sind noch immer bleischwer; ich bin krank*).
ich kritisiere hart und ehrlich, hab schon genug super-shit gelesen um auf diese flüchtigkeiten länger als drei absätze eingehen zu wollen.
schlaf gut
*) mensch das wissen wir seit dem ersten absatz oda so
RE: Fieber
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 05.05.2010 23:21von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte
Yesss, ändere ich. Das hab ich echt nicht gesehn. Deswegen macht die Forenkultur grad für Literatur Sinn: Auch damit unverbrauchte Blicke Fehler und Inkonsistenzen sehn, denen gegenüber man selbst betriebsblind ist. Ich hab Fieber schon zigmal gelesen, korrigiert und geändert!
Guts Nächtle
perforierender Kopfschmerz ist stechender Schmerz. Keine Schmerzfläche, sondern einzelne Schmerzpunkte.
den anderen Vorschlag seh ich grad nicht im Edit-Modus, aber der sah gut aus. Den nehm ich wohl auch dankend an. Wenn wir so weitermachen, haben wir den Text in zehn Komms oder so durchgeackert. Ich hätt nix dagegen.
Zitat
mensch das wissen wir seit dem ersten absatz oda so
in dem Fall find ich die Wiederholung gut. da werden ja noch andere Aspekte benannt.
RE: Fieber
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 07.05.2010 13:56von Ralfchen (gelöscht)
Zitat
„Hören sie,“
meine Stimme tönt von der Höhe eines fernen Berggipfels,
„Ich würde mich gerne setzen, hab die letzen Nächte nix geschlafen...“
„Bedauerlich, aber ich möchte den Platz nicht räumen.“
„Aber es ist kein anderer Platz mehr frei.“
wer erzählt schon von ner harten WOCHE? es geht um die letzten ein oder zwei nächte. das was ich ausließ ist alles überflüssiges gefasel, dass du dem leser da reindrückst. du nimmst dem text jegliche dichte und machst ihn zu einem krampfhaften aufsatz in der nacht vor der maturaaufgaben-abgabe.
schau mal KJUBO du bist ein hobbyautor, der wie wir alle verliebt in seine texte ist und die schlangenhaften ausschmückungen liebt. fein, aber wenn interessiert der satz "sagte ich."? wir wissen als erfahrene leser dass nach dem quadratschädel du als nächster quargelst. ich hab ganz einfach keine kraft diese textwurst zu ende zu lesen, denn du kämst mit der hälfte der worte aus. also denk mal darüber nach.
RE: Fieber
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 07.05.2010 22:51von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte
Hab drüber nachgedacht. Ich erinnerte mich an eine andere Kritik zu meinem Erzählstil:
Zitat
Nach dem Absatz möchte ich dem Autor zurufen: Komm zur Sache oder ich steig aus. Vielsilbiges Geschwätz war bis hier hin.
Nicht schön sowas zu lesen, aber vielleicht hilfts.
Deins geht in dieselbe Richtung und da beides von Usern stammt, deren Schreibstil ich schätze, gehts nicht spurlos an mir vorüber. Werd mich nächste Woche mal ran setzen und Fieber intensiv überarbeiten - der Text ist jetzt ein halbes Jahr alt und ich will mal sehen, ob ich in der Zwischenzeit nicht das ein oder andere gelernt habe, womit ich den Text verdichten, schärfer machen und die Übergänge fließender gestalten kann.
Grüße
Kjub
RE: Fieber
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 08.05.2010 10:23von Ralfchen (gelöscht)
absolut gute idee, denn nur durch diesen harten diskurs und deine intelligent reaktion werden dein texte immer besser werden und man wird sie zeile für zeile genießen. ich denke, dass du das potential hast.
RE: Fieber
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 30.05.2010 17:34von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte
Hallo liebe Userschaft, hier ist der überarbeitete Text, den ich nächste Woche lesen werde - wenn jemandem noch was konkretes auffällt oder auch nur ganz allgemein meint, dass der Text jetzt besser oder schlechter geworden ist, nur zu: Gebt Konstruktives oder einfach euren Senf ab!
Wahrscheinlich träumte ich während des Einsteigens, geschwächt von Grippe und Schlafmangel. Anders kann ich mir nicht erklären, dass alle außer mir jetzt sitzen.
Seit einigen Minuten wanke ich durch die eisernen Gänge des Zuges und suche nach einem Sitzplatz. Die Sitzenden blicken teilnahmslos weg oder durch mich hindurch, der ich mich fühle wie der möglicherweise letzte auf der Reise nach Jerusalem.
Ich brauche Erholung. Nicht wegen mir, ne, auf meine körperliche Verfassung scheiß ich.
Ich brauche die Kraft für Wichtigeres. Ich bin auf dem Weg eine Erkenntnis umzusetzen. Die Entscheidung, die jeder einmal im Leben treffen sollte. Nach der sich das gesamte Leben umwälzt und man ins irdische Paradies eingeht, weil sie der Stein des Anstoßes ist, das erste einer langen Reihe Dominos, dessen letzter Stein genau auf den Knopf fällt, der den Jackpot freischaltet.
Zwischen mir und diesem Jackpot, dessen Beschaffenheit ich bisher nur an zerfasernden Rändern von Träumen erahnte, liegt jetzt, in genau diesem Moment, nur ein geistiger Katzensprung. Das spüre ich. Es ist verflucht knapp davor, es ist dieser Augenblick, in dem man die Inspiration anfassen zu können glaubt. Ich brauche einen Ort, an dem ich sitzen und mich sammeln kann - wissend dass das Wissen zu mir kommen wird.
Schwankend und mit fiebrigem Glanz in den Augen stehe ich vor dem scheinbar letzten Platz im Zug. Und spreche denjenigen an, dessen dunkelblaues Jackett und schwarzer Koffer den Platz belegen.
„Darf ich mich setzen?“ frage ich.
Er zieht seinen sorgfältig frisierten Kopf aus einer Zeitung und sieht mich an, sieht mich aus seltsam kleinen Augen an, die in seinem länglichen Quadratschädel wie Knöpfe stecken.
„Nein“, sagt er. Als wenn’s das normalste der Welt wäre! Und kriecht wieder in die Zeitung.
In meinen Schläfen wummert Herzschlag, Kopfschmerz perforiert den Schädel, die Glieder sind bleischwer, die Nase läuft.
„Hören Sie“, höre ich mich aus der Ferne wie von einem Berg herab sagen, „ich würde mich gerne setzen, wissen Sie, ich hatte eine harte Woche...“
„Das ist bedauerlich. Aber sie sehen doch dass meine Sachen da liegen.“
„Das ist der letzte freie Platz.“
„Dann müssen sie eben stehen.“ erwidert er.
„Lassen sie ihn doch sitzen!“ sagt eine dicke Frau mit geflochtenen Zöpfen, die ihm gegenüber sitzt. Sie lächelt mich mütterlich an und reicht mir ein Taschentuch, das ich säuerlich lächelnd annehme.
„Sie sehen doch, er ist krank. Einen Schnupfen hat der Ärmste.“
Der Knopfaugenmensch lächelt. „Das bisschen Kranksein.“
„Nun seien sie nicht so. Spätestens wenn der Schaffner kommt, müssen sie ihr Zeug weg nehmen. Sie haben einen Platz, machen Sie den anderen frei.“ mischt sich ein älterer Herr ein, der neben der dicken Frau sitzt. Er trägt einen grauen Mantel, graue Schuhe und einen grauen Hut. Auf seiner Brust liegt eine große goldene Uhr, die an einer Kette um seinen Hals hängt.
„Es steht Ihnen frei sich zu beschweren.“ antwortet der Anzugtyp.
Meine schwachen Beine knicken in den Knien ein, als der Zug gleichzeitig beschleunigt und in eine Kurve geht. Ich halte mich an der Rückenlehne des Alten fest.
Ich sehe aus dem Zugfenster in eine Welt auf dem Weg zur Nacht. Die Landschaft fliegt schemenhaft vorbei. Ich versuche den Blick zu fokussieren, um Vertrautes zu erkennen.
Aber in dem dunklen Blau an der Grenze zum Schwarz könnten sich Lagerhäuser ebenso gut verbergen wie Mayatempel oder Stützpunkte von Außerirdischen. Ich reiße den Blick los und spüre, wie der Schweiß den Rücken hinunterläuft und beginne unwillkürlich zu zittern. Zuwenig Luft!, denke ich, lege den Rucksack ab und ziehe den grünen Militärparka aus. Die dicke Frau weitet die Nasenflügel, als sich fiebriger Schweißgeruch verbreitet.
Den Parka lege ich über die Rückenlehne des Platzes, auf dem die Sachen des Anzugtypen liegen. Der reagiert nicht, auch nicht, als meine aufeinanderschlagenden Zähne Töne produzieren, die mich an die warnende Klapper eines Leprakranken erinnern. Nimm dich in acht, scheinen sie bedeuten zu wollen, hier kommt ein Kranker.
Ich schlage dem Anzugtypen die Faust gegen seinen Quadratschädel. Direkt gegen die rechte Schläfe, mit einem dumpfen Geräusch, das ich eher fühle als höre. Sein Kopf prallt gegen die Fensterscheibe, die Zeitung zerknüllt zwischen den Händen. Die dicke Frau schreit.
„Bitte, seien Sie ruhig.“ sage ich zu ihr, nehme seinen Kopf zwischen die Hände wie einen Football vorm Abschuss und ziehe ihn mit flirrender Geschwindigkeit gegen das Knie. Ich spüre das Knirschen seines Nasenbeins, höre ihn wimmern. Wieder und wieder ramme ich Knie und Gesicht gegeneinander. Blut spritzt, Zuggäste schreien. „Schnauze!“, schreie ich zurück, „der wollte mich demütigen, wie er’s mit euch getan hat. Seht Ihr seine Zeitung? Financial Times Deutschland. Das ist einer von denen!“
Der ältere Mann schlägt den Deckel seiner goldenen Uhr auf, blickt auf’s Zifferblatt und sagt: „Nun ist es aber genug, junger Mann, übertreiben Sie nicht.“
Als hätte seine Bemerkung die geheimnisvolle Kraft eines Zaubers, verlassen mich Begeisterung und Kraft. Ich lasse den Kopf des Anzugtypen los.
Seine Sachen – Jackett und Koffer – nehme ich vom Sitzplatz und lege sie dem blutigen Bündel auf den Schoß. Dann setze ich mich auf den freigewordenen Platz.
Ich fühle mich ungesund, lehne mich an und schließe die Augen. Durch ein Fenster kommt Fahrtwind und kühlt meinen aufgeheizten Körper, dann falle ich in Schlaf.
Am Bahnhof wecken mich Demonstrationsschreie. Ein aufgebrachter Mob fordert entweder eine hygienischere Sprache oder die Abschaffung derselben, die Meinungen auf Spruchbändern und Schildern gehen auseinander.
Die Verrohung der Sprache führe immer häufiger zum Sprachekel und sogar zur Sprachangst bei denen, die beruflich mit Sprache zu tun haben, wendet sich ein Redner an die Menge, namentlich bei Schriftstellern, Übersetzern, Journalisten, usw. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, bzw. sprachfreie Erholungsräume zu schaffen, würden PEN, Journalisten- und Übersetzerverband in nächster Zeit regelmäßige Demonstrationen der Sprachlosigkeit veranstalten.
Die Protestierenden jubeln stumm.
Sprache abschaffen – ginge das?, fragt sich etwas in mir. Doch bevor sich der Gedanke entwickeln kann, schiebt sich die Erinnerung an das Geschehene davor wie ein gigantisches Dollarzeichen vor die Sonne. Entsetzt blicke ich auf den Nachbarplatz. Aber dort ist niemand.
Ich stehe auf, ziehe den Parka an, schnalle den Rucksack um, gehe durchs Abteil und aus dem Zug. Auf dem Bahnsteig drängele ich mich durch die Demonstration und tauche ein in den Menschenstrom, der mich bis zur Haustür trägt. Kühler Wind zieht durch die Straße, ich verschränke die Arme vor der Brust und beobachte wie er fünf, sechs Blätter vor sich hertreibt. Wieder fällt mir ein, das ich etwas vorhabe und wieder nicht, was es ist.
Als der Wind mit kalten Fingern nach meiner Haut greift wende ich mich ab und schließe die Tür zu unserer kleinen Wohnung auf.
Ich gehe zur Garderobe und hänge den Parka daran auf, ziehe dann die Schuhe aus. Die Tür zur Küche steht offen. Lupe steht am Herd und rührt in einem riesigen Topf. Ich gehe zu ihr und küsse sie. Den Wangenkuss lässt sie sich gefallen, aber als mein Mund weiterwandern will, schubst sie mich weg.
„Steck mich nicht an“, sagt sie.
„Haben wir was gegen Grippe?“ frage ich. „Mir geht’s beschissen.“
„Dein sauberer Kumpel hat bestimmt seinen Bauchladen dabei. Schotter sitzt im Wohnzimmer und baut Briefchen. Na los, geh schon hin - und sag ihm gleich, dass er hier nicht mehr auftauchen braucht, ich will mit dem Gedeale nichts zu tun haben.“ Der Topf blubbert, aus unserem Küchenradio dudeln Oldies. Vom Essensgeruch wird mir etwas übel.
„Warum lässt du ihn rein, wenn du ihn nicht hier haben willst?“ frage ich.
“Er ist dein Kumpel. Ich kann dir doch den Umgang nicht verbieten.“
Ich schüttele den Kopf, gehe aus der viel zu engen Küche, in der man Aggressionen bekommt, wenn man zu lange zu zweit drin steht und schließe die Tür hinter mir. „Rätselhaftes Weib“, murmele ich. Da fällt’s mir wieder ein.
„Ich hatte irgend was vor, erinnerst Du dich, was es sein könnte?“ rufe ich vom Flur. Ein Moment Stille.
„Das Treppenhaus wischen, endlich den Badezimmerschrank montieren, mir mal wieder nen schönen Abend spendieren. Seit nem viertel Jahr machen wir nichts als schuften. Drecksleben, wofür eigentlich?“
„Danke Süße“, krächze ich, „das ist es nicht.“ Da knallt’s. Sie muss etwas gegen die Tür geworfen haben.
Im Wohnzimmer sitzt Schotter vor einer Feinwaage, wiegt braunes Pulver und füllt kleine Haufen in vorgefaltete Briefchen. Ich setze mich neben ihn auf die Couch und zappe durch die Programme. Schotter wiegt unbeeindruckt weiter, meine Anwesenheit nicht beachtend.
„Sag wenigstens hallo. Du hockst schließlich in meiner Wohnung“, knurre ich.
Er, ohne den Blick zu heben: „Hi.“
„Gib mal n halbes.“
„Was willste mit dem Dreck?“
„Das Zeug lindert Grippesymptome. Ich werde von Schnupfen, schweren Gliedern und Kopfschmerzen geplagt. Wenn du dir was reinziehst ist alles weg.“
Schotter hebt die linke Augenbraue. „Wo haste denn die Weisheit her?“
„Weiß doch jeder. Sogar Fatima, die niedliche Nutte von der Ecke, hat’s vorhin erzählt.“ improvisiere ich. „War auch im Mittelalter ein bekanntes Heilmittel, Laudanum. Außerdem, was geht’s dich an, he? Vielleicht suche ich auch Erleuchtung.“
Er zuckt die Schultern und schiebt mir ein Briefchen rüber. „Guten Appetit,“ sagt er.
Ich nehme Alufolie, baue Blech und Röhrchen, schütte eine kleine Menge Pulver aufs Blech, falte eine Bahn, in der der Tropfen laufen soll, halte ein Feuerzeug unter das Pulver, verflüssige es und jage den Tropfen mit dem Röhrchen. Die aufsteigenden Dämpfe inhaliere ich.
Nicht mal die Hälfte des Briefchens schaffe ich, da beginnt die Wirkung. Das Blech fällt mir aus den Händen, mein Bewusstsein driftet in irgendwelche Halbwelten. Das Zimmer verschwimmt zu einer Landschaft, auf die ich schaue während der Zug fährt.
Vor mir sitzt der alte Mann und schaut auf seine Uhr.
„Es ist spät, sie sollten sich beeilen.“ sagt er.
„Beeilen, womit?“
„Mit dem, was Sie vorhaben. Sonst werden sie eines Morgens erwachen und sich fragen wofür.“
Der Zug rattert durch die Dunkelheit, Regen perlt die Scheibe hinab. Die schwammigen Leuchtpunkte der Laternen ziehen vorbei.
„Lassen sie ihn. Er ist krank und braucht Ruhe.“ sagt die dicke Frau mit den Zöpfen.
„Schwanger ist er zumindest nicht, keine Ahnung warum er unbedingt sitzen musste. Das bisschen Grippe.“ der Anzugtyp schnaubt verächtlich. Mit einem Seitenblick stelle ich fest, dass sein Gesicht eine Ruine ist, eine blutverschmierte Grimasse, die Knochen passen nicht mehr richtig zueinander. Der sollte eigentlich genug für heute haben, wundere ich mich.
„Ich erinnere mich nicht mehr daran was ich vorhabe“, sage ich dem Alten.
Die Strecke führt jetzt steil nach unten wie die Abfahrt einer Achterbahn. Der Zug rattert und rattert in die Dunkelheit.
„Haben sie eine Ahnung wohin die Reise geht?“, frage ich den Alten, schreie fast, keine Ahnung wieso.
„Wovon zum Teufel sprichst du?“, antwortet der Alte mit Schotters Stimme.
Das Schütteln wird stärker.
„Vom Leben verdammt!“, rufe ich. Da bockt der Zug wie ein Hengst und wirft mich von dem hart erkämpften Sitzplatz.
Ich will mich wieder aufrappeln, zum Platz zurück und hebe gerade den Kopf zur Orientierung, da sehe ich die Faust des Anzugtypen immer größer werden. Ich schließe die Augen und warte auf den Schlag.
Klatsch. Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich Schotter, der sich über mich beugt und an meiner Schulter rüttelt, sehe die Hand, mit der er mich schlug.
„Danke“, murmele ich, stütze mich an der Couch ab und stehe auf.
„Na, kommste wieder zurecht?“, fragt Schotter.
„Ne, aber jetzt weiß ich, was zu tun ist“, sage ich, taumele in den Flur, ziehe meine Klamotten an und verlasse die Wohnung. Lupe ruft mir irgend etwas hinterher.
Draußen Regen, Regen, Regen. In wenigen Sekunden beschlägt die Brille mit Wassertropfen. Viele kleine Blickfilter, durch die die Straße wie ein impressionistisches Gemälde mit Neonfransen aussieht. Aus einem Fenster kommt melancholischer Sound, der achte Titel von Tricky’s Vulnerable.
„Willste ficken, Schatzi?“, ruft mir irgendeine junge Frau hinterher.
Rund um den Bahnhof patrouillieren Polizisten mit Maschinenpistolen. Auf der Kreuzung steht ein Polizeiauto vor einem schwarzglänzenden Mercedes, Ausweiskontrolle. Im Bahnhof das übliche hektische Nebeneinander. Auf der Anzeigentafel sehe ich, dass in fünf Minuten ein Zug nach Kopenhagen fährt!
Ich eile die Treppen zum Bahnsteig hinunter und setze mich in den Zug neben einen Herrn mit Anzug und Krawatte. Wir reden über die Wirtschaftskrise und diskutieren einen Artikel aus der Financial Times Deutschland, die er liest.
Alles ist im Arsch, sagen wir in unseren verschiedenen Tonlagen - da sind wir uns einig, aber so ist es doch immer und irgendwie geht’s doch immer weiter. Also ist irgendwie trotzdem alles in Ordnung.
Nach dreieinhalb Stunden kommt der Zug in Kopenhagen an. Ich suche mir eine Kneipe in Bahnhofsnähe und trinke Bier bis ich einschlafe. Eine blonde Kellnerin weckt mich. Ich verspreche ihr, dass ich ihr im Tausch gegen einen Schlafplatz ein Gedicht widme.
Am nächsten morgen frühstücken wir mit Blick auf den Hafen, die Sonne spiegelt sich in den Wellen wie eine Flotte goldener Minischiffe. Möwen fliegen über die abgetakelten Segelboote des Kopenhagener Traditionshafens. Wir unterhalten uns über ihre kaputte Waschmaschine, wovon wir keine Ahnung haben und über das Leben, von dem wir viele Ahnungen haben. Als uns auffällt, wie ähnlich sich beides ist, lachen wir.
Sie fragt mich, was ich in Kopenhagen tue. Ich erzähle von dem dringenden Gefühl, dass ich eine Erkenntnis und ein Vorhaben hatte, die große Bedeutung für mich haben und dass ich beides vergaß.
„Erst als ich heute morgen über den Hafen blickte wurde mir alles klar.“
RE: Fieber
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 31.05.2010 12:05von perry • Mitglied | 1.417 Beiträge | 1417 Punkte
Hallo Kjub,
ich glaube, das wird einen langanhaltenden Applaus geben. Die Wiederholung der Zugszene fände ich zwar verzichtbar, aber egal, irgendwie bringt es ein wenig "und täglich grüßt das Murmeltier" in die Story und das kommt immer gut an, genauso wie der verklärende Schluss, den ich satirisch lese und deshalb okay finde.
LG
Perry
RE: Fieber
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 01.06.2010 09:13von Alcedo • Mitglied | 2.708 Beiträge | 2838 Punkte
hallo Kjub
mir war diese Replik aufgefallen:
Zitat
„Danke Süße“, krächze ich, „aber davon kann’s nichts sein.“
vielleicht wäre es möglich diese Klarstellung präziser, dichter zu formulieren, auch weil "kann’s nichts" sich nicht sehr geschmeidig aussprechen lässt.
Vorschläge:
da war nichts dabei.
das ist es nicht.
das war es nicht.
(aber) nichts von alldem.
Gruß
Alcedo
RE: Fieber
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 02.06.2010 18:46von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte
Vielen Dank Alcedo, stimmt, davon kanns nichts lässt sich schlecht sprechen - von der Seite hab ichs noch gar nicht betrachtet - ich habe deinen Vorschlag übernommen: das ist es nicht lässt sich ja so lesen, dass der Protagonist von der einen Sache spricht, die er sucht.
Auch dir meinen Dank, Perry. Ich wäre schon zufrieden, wenn die Leute die Geschichte über konzentriert zuhören und sich gut unterhalten fühlen... den Schluss hab ich jetzt auch noch mal im Sinne der Verdichtung gekürzt.
So, nun reichts. Es wird keine Veränderungen mehr geben, das ist der fertige Text. Schluss mit dem Lotterleben, ab jetzt wird geübt.
Beste Grüße
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