#1

Kraus, Karl (1874-1936)

in Rumpelkammer 15.12.2009 12:18
von Gedichtbandage • Mitglied | 531 Beiträge | 525 Punkte

...ein Publizist, Satiriker, Lyriker, Aphoristiker, Dramatiker, nicht zuletzt Kritiker...

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Gedichte von Karl Kraus



Leben ohne Eitelkeit

Sieh, mein Außenbild ist fügsam,
sieh, mein Haben, so genügsam,
achtet wohl des Gleichgewichts.
Hat es wenig, dankt für viel es,
wahrt des Weges, Maßes, Zieles
und Verzichts.

Doch mein Innensein verzichtet,
eh es sich genügsam richtet,
achtet nicht des Gleichgewichts.
Immer steig' es oder fall' es,
hat es vieles, will es alles
oder nichts!

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Zwei Läufer

Zwei Läufer laufen zeitentlang,
der eine dreist, der andre bang:
Der von Nirgendher sein Ziel erwirbt;
der vom Ursprung kommt und am Wege stirbt.
Der von Nirgendher das Ziel erwarb,
macht Platz dem, der am Wege starb.
Und dieser, den es ewig bangt,
ist stets am Ursprung angelangt.

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Monolog des Nörglers

(Schluß eines Aktes.)

Nacht. Der Graben. Es regnet. Menschenleer. Vor der Pestsäule. Man kann in eine Seitengasse blicken.


So merk ich wieder, wie's von unten regnet.
Aus Schlaf und Schlamm die alte Schlamperei,
sie spricht den schlaff zerlassenen Dialekt
des letzten Wieners, der ein Pallawatsch
aus einem Wiener ist und einem Juden.
Hier ist das Herz von Wien und in dem Herzen
von Wien ist eine Pestsäule errichtet.

(Er bleibt vor der Pestsäule stehen.)


Dies Wiener Herz, es ist aus purem Gold,
drum möchte ich es gern für Eisen geben!
O ausgestorbene Welt, das ist die Nacht,
der nichts mehr als der jüngste Tag kann folgen.
Verschlungen ist der Mißton dieses Mordens
vom ewigen Gleichmaß sphärischer Musik.
Der letzte Wiener röchelt noch im Takt
und läßt die Seele irdischen Behagens
rauschend, den letzten Regen dieser Welt
durchdringend, auf das nasse Pflaster fließen.

(Er blickt in die Seitengasse und sieht dort einen Betrunkenen, der mitten auf der Straße ein Bedürfnis verrichtet.)


Hier steht er, eine Säule seiner selbst,
in riesenhafter Unzerstörbarkeit!
Er kann nicht untergehn, es überlebt
dies Wahrzeichen der staubgebornen Lüge
das Ende aller Schöpfung und er weiß,
nur er allein ist von dem allen übrig,
das Sterben geht ihn einen Schmarren an,
sein innerstes Bedürfnis muß er stillen,
es bleibt die Spur von seinen Erdentagen,
und dieses ist der Weisheit letzter Schluß.
Und gierig lausch ich seinem letzten Willen,
er hat dem Kosmos noch etwas zu sagen –

(Der Betrunkene steht unverändert da und spricht in rhythmischer Begleitung, immer wiederholend:)


Ein Genuß! – Ein Genuß! – Ein Genuß!

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Wiese im Park
(Schloß Janowitz)

Wie wird mir zeitlos. Rückwärts hingebannt
weil' ich und stehe fest im Wiesenplan,
wie in dem grünen Spiegel hier der Schwan.
Und dieses war mein Land.


Die vielen Glockenblumen! Horch und schau!
Wie lange steht er schon auf diesem Stein,
der Admiral. Es muß ein Sonntag sein
und alles läutet blau.


Nicht weiter will ich. Eitler Fuß, mach Halt!
Vor diesem Wunder ende deinen Lauf.
Ein toter Tag schlägt seine Augen auf.
Und alles bleibt so alt.

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Grabschrift

Der großen Zeit schreib' ich es ins Gesicht:
Weh dem, der sich vermißt, das Angedenken
gefallener Frauen nun gering zu achten!
Sie standen gegen einen größern Feind,
Weib gegen Mann. Nicht Zufall der Maschine,
der grad entkommt, wer ihr nicht grad verfallt,
hat sie geworfen, sondern Aug in Aug,
aus eigenem Geheiß, eins gegen alle,
im Sturm der unerbittlichen Moral
sind sie gefallen. Ehre jenen sei,
die an der Ehre starben, heldische Opfer,
geweiht dem größern Mutterland Natur!

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Abschied und Wiederkehr


Offenbarung

Löst sich die Lust von ihrem letzten Lohn,
so klammert sich ans Herz ein Klageton.

O ewiger Abschied ewiger Wiederkehr –
wohin entrinnst du und wo kommst du her!

Du Echo, das mit einer Nymphe ruft
in der Geschlechter unnennbare Kluft!

Du Stimme, die mit einer Nymphe weint,
weil die Natur so trennt, was sie vereint –

Schmerzvoller Nachhall der Unendlichkeit!
Du Angst des Blickes in die Endlichkeit!

Durch alle Schöpfung blutet dieser Riß –
Echo klagt immer wieder um Narziß.

Hat es der Schöpfer denn gewollt, gewußt?
Lust so von Lust verkürzt, ergibt Verlust.

Lebendige Lust, du klagst am Sarg der Lust,
von deren Tod du selber sterben mußt.

Du Grabwind, Leid und Lied zum eignen Grab,
du willst nicht in den finstern Tag hinab.

So leuchtend war die Nacht; der Tag ist grau.
Entläßt die Nacht den Tag, so weint sie Thau.

Stumm ist die Wonne, der das Wort entspringt.
Lust weckt den Geist, der ihr kein Wort entringt.

Du letzter Laut, der mir von weit her spricht,
mir wird die Sprache, du bist das Gedicht!

Du reichstes Glück, das im Gewinn verlor,
du größte Kraft, die an der Glut erfror,

du Augenblick der Liebestodesangst,
der du dich selber zu verlieren bangst –

verweile Augenblick, du bist so schön!
Ich sag's zu ihm. Ich hab das Aug gesehn!
_

Legende

Doch ist er fort. Sie hat ihn mitgenommen
beim Abschied ihrer selbst. Ich stand beklommen.

Wie alles Licht in Rauch und Nebel schwand –
ein armes Hündchen plötzlich vor mir stand.

Sah zu mir auf und hatte ihren Blick.
Ließ sie mir ihn als Unterpfand zurück?

Und wie es wimmernd immer zu mir schaut,
so war's ihr Schmerz, so war's ihr Klagelaut.

Ihr Abschied war's und war ihr Wiedersehn –
die Zeit bleibt stehn, ein Wunder ist geschehn.

Dies Auge, diesen Ton hab ich gekannt!
Vergehendes ist in die Zeit gebannt.

Die lustverlorne Göttin ward ein Schall;
er rief mich aller Wände aus dem All.

Nun ruf ich ihn zurück; ich warte hier –
da ruft er mich verwandelt aus dem Tier.

Wir kennen uns, ich und die Kreatur –
es ist ein Wunder: glaubet, glaubet nur!

Die letzte Spur vom Glück ist neues Glück.
Das Echo ging, ein Echo blieb zurück.

Leid klagt um Lust, ich klage um das Leid;
nun ist es da, so ist die Lust nicht weit.

Verlorner Lust verlorne Klage klingt.
Ich höre nur, daß jetzt ein Engel singt.

Verlorner Lust verlorner Ton ertönt.
Ich sehe eine Seele, die sich sehnt

und wiederkehrt. Der Abschied ist ein Spiel.
Sie ging und suchte, bis sie hin zum Ziel,

vorbei der Menschheit, irdisch unerkannt,
den Weg durch ein verlornes Hündchen fand.

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Elegisches Versmaß


Klein ist der Mann, den ein Weib ausfüllt, doch er kann dadurch wachsen.

Größer geworden hat er keinen Raum mehr für sie.

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Widmung des Wortes

In tiefster Schuld vor einem Augenpaar,
worin ich schuf, was darin immer war,
geschaffen, kund zu tun, was es nicht weiß,
dem Himmel hilft es, macht der Hölle heiß.

In tiefster Ehrerbietung dem Gesicht,
das, Besseres verschweigend als es spricht,
ein Licht zurückstrahlt, das es nie erhellt,
der Welt geopfert, zaubert eine Welt.

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Norm

Er ist bescheiden aus tieferen Gründen,
das Gegenteil hat er bei ihr nicht erkannt.
Um seine Zigarre anzuzünden,
entfacht er ihren Höllenbrand.
Das weitere, denkt er, wird sich finden,
so wie es sich seit jeher fand.

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Aus jungen Tagen

Nie kann es anders sein.
Nun wirft mein Glaube keinen Schatten mehr.
Von deinem großen Lichte kam er her,
von des Geschlechtes rätselhaftem Schein.

Nun bin ich ganz im Licht,
das milde überglänzt mein armes Haupt.
Ich habe lange nicht an Gott geglaubt.
Nun weiß ich um sein letztes Angesicht.

Wie es den Zweifel bannt!
Wie wirst du Holde klar mir ohne Rest.
Wie halt' ich dich in deinem Himmel fest!
Wie hat die Erde deinen Werth verkannt.

Du gabst dich zum Geschenk
der Welt, ich hab es für dich aufbewahrt.
Ich habe Gott den größten Schmerz erspart.
Geliebte, bleibe deiner eingedenk!

Wie glänzt mir deine Pracht.
Dein Menschliches umarmt, der beten will.
Er heiligt es im Kuß. Wie ist sie still
von Sternen, deiner Nächte tiefste Nacht.

Nie soll es anders sein.
Ob alles Irdische zerbricht und stirbt,
nur dein Zerfall ein geistig Glück verdirbt.
Vergib dich an die Erde nicht, sei Dein!

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Elegie auf den Tod eines Lautes

Weht Morgenathem an die Frühjahrsblüthe,
so siehst du Thau.
Daß Gott der Sprache dieses h behüte!
Der Reif ist rauh.

Wie haucht der werthe Laut den Thau zu Perlen
in Geistes Strahl.
Sie vor die Sau zu werfen, diesen Kerlen
ist es egal.

Kein Wort darf Seele haben, der Barbare
er lebt so auch.
Sein Stral ist Strafe, Wort ist Fertigware
zum Sprachgebrauch.

Ein jeder Wirth ist, hat er etwas Grütze,
am Wort ein Wirt.
Die Sprache ist ja als der Hausfrau Stütze
nur engagiert.

Sie streckt sich nach der Decke, keines Falles
sie Aufwand treibt.
Sie kriegt, da sie ja Mädchen nur für Alles,
was übrig bleibt.

Man ist kurz angebunden, wenn man praktisch
so mit ihr spricht.
Dann aber wird ihr noch die Notzucht faktisch
von jedem Wicht.

Der Orthograph kennt Muth nicht, hat nur Mut
vor einem Laut,
den vorschriftsmäßig er mit wilder Wut
zusammenhaut.

Nicht Wahn ist, was er tut, er ist kein Thor,
er müt sich brav.
Doch hat er wol für Gottes Wort kein Ohr,
der Ortograf.

Er ist kein Thor, er ist ein Tor, durch das
der Fortschritt ziet,
Haß habend gegen hinderliche h's
in dem Gemüt.

Der Tag ist kurz, man spart die Zeit vom Mund,
das närt das Herz.
Man knappt das Wort sich ab, das ist gesund
für den Kommerz.

Man tut und schreibt recht, scheut kein edles Wort.
Was wahr ist, war.
Die Sprache athmet nicht, sie atmet fort
fürs Komptoir.

Man schreibt und hat recht, spart die Zeit am Wort,
so gut man kann.
Das Wort ist nur ein Abteil, ein Abort
für jedermann.

Ab-ortographen gibt's in diesem Land,
die denken nach,
daß schnell wie 'n Taler get durch Mund und Hand
die theure Sprach'.

Unnütz ist doch so 'n Hauchlaut im Verkere.
Von Jar zu Jar
lert man drum eine Regel, die als Leere
recht annembar.

M.w. heißt: machen wir. Der Tag ist kurz.
Der Laut verhaucht.
Nachts widerfahrt der Regel leicht ein Sturz,
wenn sie es braucht.

Auch dret man sich galant um, ob kein Stul da,
wie sich's gebürt.
Das rürt die Werte, die im Namen Hulda
das h noch fürt.

Schreib wie du sprichst, dann macht sich deine Schose,
fro kannst du lachen.
Ein Heiligthum ist eine alte Hose,
nicht zu machen!

Bediene selbst dich, lebe nach der Elle,
schreib auf Raten.
Das kann ich raten dir, es faren schnelle
die Automaten.

Im Büro schinden sich, Genuß zu finden
der Son und Vater.
Doch get man abends auch die Sprache schinden
statt ins Teater.

Wenn lautlos, erlös, werlos diese Gute,
rot vor Scham,
so anungslos da rute, sie die Rute
gleich bekam.

Die Sprache aber denkt sich ihren Teil:
In diesem Land
parieren muß zum allgemeinen Heil
der Konsonant.

Befehl ist halt Befel, er trägt das Leid
im Jammertal.
Er weiß, nicht besser in der harten Zeit
gets dem Vokal.

Der Zan der Zeit benagt an diesem Ort
mit flinker Wal
und wolgemut das altbewärte Wort
zu einer Zal.

Wie Thon klingt's, rauer Ton, das Or zerreißt er.
Doch sei du still.
Gewonheit macht's, frü übt sich was ein Meister
werden will.

Der Geist dankt ab. Wie Wansinn ihn beschlich es,
's ist totgewiß.
Sein Wort ist leider längst ein öffentliches
Ärgernis.

Ein Tropf ist nur aus Lern, ihm felt der Hauch
von Gottes Segen,
drum wischt vom Thau den Tropfen so ein Gauch,
der Ordnung wegen.

Nichts, was ihm Zeit raubt, ist dem Kristen heilig,
der da front;
er raubt dem Ding das h, so wird es eilig.
Was sich lont.

Und keine Thräne wird den Roling hindern
für und für.
Er warf das h, der Träne Schmerz zu lindern,
raus zur Tür.

Nicht jedes Thier verwüstet tätig so
der Schöpfung Spur.
Nur manche Gattung Tier lebt irgendwo
fern der Natur.

Sie hat wol viel Gefül und dieses ist
dick wie das Tau.
Den Thau zertritt sie, Werth hat nur der Mist
für eine Sau.

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Karl Kraus

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Philosophen

Ich preise mich im Besitz der Midasgabe, daß jede Stelle eines Journals, einer Zeitschrift, eines Verlegerprospekts, die nur mein Finger berührt, vorher Blech geworden ist. Ich könnte ein Literaturblatt mit geschlossenen Augen lesen. Ich revidiere diese ganze Schmach seit elf Jahren mit unausgeruhtem Hirn, das glücklich wäre, wenn keine neuen Mißeindrücke es zur Reaktion zwängen. Ich tippe nur so durch die Kolumnen, und ein ganzer Schwärm von Dummheit erfüllt mir das Zimmer, ein ganzer Schwaden von jener hundsgemeinen Intelligenz, die verderblicher ist als ein Kometenschweif, verpestet mir die Luft. Und aus dem letzten Eckchen eines Zeitungsblattes, das noch unter meiner Lektüre liegt, lugt mir, da ich sie durchfliege, schon die Judasfratze des Jahrhunderts hervor, immer dieselbe, ob es sich um den Journalisten oder den Mediziner, den Hausierer oder den Sozialpolitiker, den Spezereikommis oder den Ästheten handelt. Immer derselbe Stupor, vom Geschmack gekräuselt und mit Bildung gefettet. Im Frisiermantel der Zeit sind alle Dummköpfe gleich, aber wenn sie sich dann erheben und von ihrem Fach zu reden beginnen, ist der eine ein Philosoph und der andere ein Börsenagent. Ich habe diese unselige Fähigkeit, sie nicht unterscheiden zu können, und ich agnosziere das Urgesicht, ohne mich um die Entlarvung bemühen zu müssen. So wie ich auf der Straße einen Redner von hinten nach der Stimme feststelle, die ich einmal vor fünfundzwanzig Jahren gehört habe, oder beim Durchsuchen jahrzehntealter Korrespondenzen aus Format oder Falte, Farbe oder Stempel eines umgelegten Briefkuverts den Absender errate. Das klingt wie Kammerjägerlatein. Aber wenn es nicht wahr wäre, so wäre auch die Aufnahme, Fixierung und Typisierung aller Eindrücke des öffentlichen Lebens, deren ich schuldig bin, eine unmögliche Leistung. Eigentlich ist sie es und was ihr not täte, wäre, daß einmal acht Tage lang die Gemeinheit der Welt, Fortschritt und Geselligkeit, ausspanne, damit wenigstens nichts Neues dazu komme, denn an dem Alten ist immer noch genug zu tun. Und da die Erfindung der Buchdruckerkunst und nicht der Komet den Weltuntergang herbeiführt, so müßte wenigstens ein Setzerstreik die ersehnte Pause bringen. Die Gesichter und Stimmen der Leute, die dann nach den Zeitungen riefen, gäben noch immer so viel fürchterliche Anregung, daß ich nicht müßig wäre, aber mir's wenigstens einteilen könnte. Jedes Ereignis, über das ich nichts lese, ist Ruhe, jedes Gebiet, das ich nicht betrete, Erholung. Je weniger ich weiß, desto besser errate ich. Ich habe nicht Soziologie studiert und weiß nicht, daß der Kapitalismus an allem schuld ist. Ich habe die christliche Entwicklung der jüdischen Dinge nicht studiert und weiß nicht, was gewesen ist. Aber ich lese in der Kleinen Chronik und weiß, was sein wird. Ich ergänze mir ein Zähnefletschen, eine Geste, einen Gesprächsfetzen, eine Notiz zu dem unvermeidlichen Pogrom der Juden auf die Ideale. Daß unsere Kultur den Einbruch des Platzagenten in das Geistesleben bedeutet, spüre ich an den kleinsten ihrer Äußerungen; und mir genügt die Ahnung, daß es Gebiete geben muß, in denen sich der Einbruch als Festzug abspielt.

Der Geist der Medizin ist leicht zu fassen und ihr Ruf als Kommiswissenschaft steht heute unbedingt fest. Die Juristerei erscheint mir als die Entschädigung von Gaunern, die nicht den Mut haben, es zu sein. Die Philosophie halte ich mir vom Leib, weil ich das Gefühl habe, daß sich hier tagaus tagein das Schlimmste begibt, und weil ich zu gut informiert werden könnte. Denn hier scheint ein Rotwelsch eigens erfunden, um den Unwert jener, die sich dem Gewerbe ergeben, als Schleichgut in die Kultur zu schmuggeln. Man muß nur den Mut haben, dem Jargon zu mißtrauen und durch Zeit und Raum, durch das intelligible Ich und die immanente Gottheit, durch die religiöse Substanz und die Monadologie hindurchzulesen, so wird man auf einen betulichen Reporter stoßen, der, wenn er Zeit und Raum zur Verfügung hat, Feuilletons im Dutzend liefert. Er heißt Oskar Ewald und kassiert derzeit den Nachruhm Otto Weiningers ein. Er hat ein Werk von über 880 Seiten geschrieben. Der Himmel, der Kometen sendet, bewahre mich davor, daß ich sagen könnte, ich hätte dieses Werk gelesen. Ich kann sogar sagen, daß ich dieses Werk nicht gelesen habe. Aber ich kenne die Aufsätze, die derselbe Ewald in deutschen und österreichischen Revuen veröffentlicht hat. Und ich habe immer die kleinen Schriften eines Autors als Warnung empfunden, die großen zu lesen, woraus es sich erklären mag, daß ich über die Autoren so gut Bescheid weiß, ohne daß ich gezwungen war, meine Bildung über Gebühr zu vermehren. Wenn einer auf neun Seiten ein Schwätzer ist, so ist es gewiß keine Frivolität, zu zweifeln, ob er auf neunhundert ein Philosoph sein werde. Dagegen ist es sicher, daß in solchen Dimensionen auch die geringste Fähigkeit einen Schein erwirbt, dessen sie in engem Spielraum sofort verlustig geht. Herr Ewald wird jetzt in den Literaturblättern als Gigant beschrieben, aber ich habe noch keinen Leser seiner Aufsätze getroffen, der Appetit auf seine grundlegenden Werke gehabt hätte, und die Unmäßigen, die diese zuerst gelesen haben, sagen, es könne nicht derselbe Ewald sein. Und doch ist es derselbe, nur daß die Philosophie ein Kostüm ist, das man nicht alle Tage anzieht, und daß nur der auch anders kann, der gar nichts kann. Ewalds großes Werk »Gründe und Abgründe«, dessen Untertitel »Präludien zu einer Philosophie des Lebens« lautet — die eigentliche Philosophie des Lebens steht noch aus und das Leben selbst nimmt sich Ewald von jenem Leben, das sich Weininger genommen hat —, sein großes Werk also wird jetzt von den Berufsflachköpfen im In- und Ausland in einer Tonart gepriesen, nicht als ob Weininger nie gelebt hätte, nein, als ob er an Ewald gestorben wäre. »Unsere Zeit täuscht uns auf allen Gebieten durch Überwuchern von Surrogaten«, beginnt einer in einem Berliner Blatt, und schon erwartet man, jetzt werde die Enthüllung kommen, daß die Gründe des Herrn Ewald seicht und seine Abgründe ungefährlich seien. Im Gegenteil, der Mann empfindet »das Dasein dieses Buches als eine Lebenssteigerung«. Ewald biete »aus dem Reichtum einer großangelegten, profunden Natur Bausteine zu einer Philosophie des Lebens«. Das ist wahr, aber es hätte der Vollständigkeit halber auch gesagt sein müssen, aus wessen Natur. Der Selbstmord Weiningers, den Herr Ewald überlebte, hat nicht nur »Geschlecht und Charakter« berühmt gemacht. Aber Herr Ewald hat, wie wir hören, nebst Nietzsche auch Weininger »innerlich verworfen«, und wie wir schon aus der Inhaltsangabe dieser Überwindung ersehen, Weininger mit Erkenntnissen, die von Nietzsche, und Nietzsche mit Erkenntnissen, die von Weininger stammen. Ewald »rührt an die tiefsten Mysterien«; aber da sie ihm nicht gehören, so hätte er sie nur besichtigen sollen, denn es wird ersucht, die ausgestellten Mysterien nicht zu berühren. Der Berliner Kritiker freilich ist anderer Ansicht. »Ich schließe mit der Konstatierung«, schreibt er, »hier endlich einmal sagen zu können, auf einen großen und erhabenen Geist gestoßen zu sein, der sicher dazu berufen ist, die Epoche Nietzsches zu überwinden usw.« Dieselben Töne hört man jetzt überall. Wo der Sitz der Korrespondenz ist, die diese falschen Nachrichten verbreitet, weiß ich noch nicht; aber irgend ein Bureau ist in voller Tätigkeit, welches der Überzeugung zu sein scheint, daß sich der Ruhm eines Um- und Umwerters durch Reklamenotizen halten lasse. Überall dieselben Versicherungen: »Gedankengebäude ... hinausragt ... Tiefe des Weltgefühls ...« Ewald »überragt Weininger an Reife und innerer Festigung«, meint die ›Österreichische Rundschau‹, die allerdings nur von den Seekranken der Lloydschiffe gelesen wird, aber die Neue Freie Presse meint, Ewald habe »den Drang in sich gefühlt, dem einsamen Meister von Sils-Maria nach-, ja über ihn hinwegzufliegen«. Dieser Drang ist Herrn Ewald schon zuzutrauen. Sein Buch habe ich, wie gesagt, nicht gelesen, aber in den Aphorismen, die sein Buch enthält, habe ich gern geblättert und da gewahre ich leider den Drang, anstatt auch über meine Aphorismen hinwegzufliegen, an sie zu rühren und sie abzuplatten. Er gibt freilich jeder Sentenz einen Titel und schmückt auch jede Seite mit netten Zusammenfassungen wie: »Distanzen«, »Mysterien«, »Hölle und Himmel«, »Höhen und Tiefen«. Aber was nützt das? Es ergibt noch immer keine Höhen, keine Tiefen, nicht Himmel und Hölle und keine Mysterien. Höchstens Distanzen. Herr Ewald ist so sprachfern, daß er sich von der Leichtigkeit, ein tausendseitiges Buch zu schreiben, verführen ließ und vor der Schwierigkeit nicht zurückschrak, Aphorismen draufzugeben. Aber er wirds gewiß nicht wieder tun. Wer wird denn umständlich in einer Zeile ausdrücken, was man bequem in hundert Seiten sagen kann? »Der Stil ist nicht das Kleid, sondern die Seele des Künstlers«, schreibt Herr Ewald. Ich will nicht sagen, daß der Gedanke von mir ist, wie mancher andere, er ist von jedem Künstler, nur nicht von Herrn Ewald; denn der Satz, in dem er ihn sagt, ist schlecht wie alle andern Sätze. Aber wenn der Stil die Seele des Künstlers ist, so habe ich die Seele des Herrn Ewald in jenen populären Artikeln gefunden, mit denen er die deutschen Zeitschriften versorgt. Und wenn die Wissenschaft nach einem andern Wahrwort heute nur aus Werken besteht, die ein Jud vom andern abschreibt, so besorgt Herr Ewald diese Aufgabe in eigener Regie, indem er seine Dünnsauce immer von neuem verdünnt. Solche Schreiberei, die noch bedenklicher ist als der landläufige Feuilletonismus (weil dieser doch an allen Fächern schmarotzt und darum auch vom Laien bequem zu entlarven ist, während jene sich das Air spezieller Wissenschaftlichkeit gibt), ist hinlänglich charakterisiert durch einen Satz, mit dem Herr Ewald in dem Artikel »Das Weib in Kunst und Weltanschauung« sichtlich zum Schlüsse eilt. Nachdem er die ganze Seichtheit eines tiefen Problems ausgeschöpft hat, schreibt er wörtlich: »Wir können zum Abschluß dies Verhältnis von einer noch tieferen Seite her beleuchten.« Nu, ist der Stil nicht die Seele des Künstlers? Natürlich hat Herr Ewald mit sämtlichen Meinungen, die er jetzt in den alten, neuen und noch nicht gegründeten deutschen Revuen vertritt, vollständig recht. Er vertritt die Meinungen so sehr, daß man sie wirklich nicht mehr über die eigenen Füße bringt. Er ist ein gutes Exempel für die Wertlosigkeit der richtigen Meinung. Er läßt es sich etwa nicht nehmen, das Genie gegen die Psychiatrie zu schützen. Wo er recht hat, hat er recht. Aber als ichs gelesen hatte, schwor ich mir zu, von jetzt an die Psychiatrie gegen das Genie zu schützen. So ganz und gar vertreten schien mir die richtige Meinung zu sein. Man wird bald wirklich nichts mehr erleben können, ohne daß einem dabei geholfen wird. Wenn nur diese Echos sich einmal verfrühen, einmal nur sich zuerst bemühen möchten, man könnte wieder Freude an seinem Ruf bekommen. Aber so laufe ich nächstens aus der Gegend! »Zu einem solchen Phänomen muß man Stellung nehmen«, schreibt Herr Ewald über die Pathologisierung des Genies, »und zwar in möglichst unparteiischer Art, alle Argumente sorgsam abwägend.« Tue er. Aber wenn er Stellung nimmt, lege ich mich nieder. »Von diesem höheren Gesichtspunkte ist es mithin begreiflich, daß wir heute, auch in unserm Verhältnis großen Geistern gegenüber, die subjektive Seite stärker hervortreten lassen, dem Persönlichen, dem Menschlichen, Allzumenschlichen, unsre Aufmerksamkeit schenken«, schreibt Herr Ewald. Er ist, wie man sieht, ein Eigener. Er fühlt den Drang in sich, über Nietzsche hinweg-, und es ist ihm sogar gelungen, dem Marco Brociner nachzufliegen. Herr Ewald hat die Psychiater aufs Korn genommen, er ist wahrscheinlich ein Satiriker. Mit bitterer Ironie bemerkt er: »Wie schade, daß sie (die Genies) nicht gesund und normal waren! Sie würden wahrscheinlich geheiratet haben und wären gute Familienväter und brauchbare Mitglieder der menschlichen Gesellschaft geworden. Aber ich will der Verlockung nicht nachgehen und an Stelle des verdienten Spottes, zu dem eine solche Betrachtungsart herausfordert, objektive Kritik treten lassen«. Wie schade, daß er der Verlockung nicht nachgegangen ist! Es hätte sich gezeigt, was schwerer ist, nachzugehen oder Stellung zu nehmen. Aber so schreibt Ewald, wenn man ihn der Verpflichtung enthebt, zu Zeit und Raum Stellung zu nehmen. Schreiben die andern anders? Und muß ich ihre philosophischen Werke lesen, um zu wissen, wie sie schreiben? Muß ich ihre Bandwürmer untersuchen, um zu wissen, was in ihnen steckt? Der Privatdozent Ewald sagt, der Stil sei die Seele des Künstlers, und erspart mir wirklich durch ein paar Zeilen die Beachtung seiner grundlegenden Werke. So praktisch sind die Philosophen, so kürzen sie das Leben ab. Der Professor Vaihinger zum Beispiel, der Kant-Gelehrte, kommt mir mit einem Waschzettel unter die Augen, den er über Nietzsche geschrieben hat. Mir genügt es: »Nietzsche ist heute ein literarischer Machthaber ersten Ranges ... Nietzsches Schlagwörter tönen überall wieder, wie ›Jenseits von Gut und Böse‹, ›der Wille zur Macht‹, ›die Vielzuvielen‹, die ›Umwertung aller Werte‹, ›der Übermensch‹ und manche andere ähnliche, schon geläufig gewordene Wendungen ... Der Gründe, welche den Erfolg Nietzsches erklären, gibt es verschiedene; der eine Grund wirkt mehr auf diesen, der andere mehr auf andere.« Und über Nietzsche als Stilkünstler: »Er handhabt die Sprache mit seltener Virtuosität ...«

Es ist praktisch. Es ist unpraktisch. Der Journalismus ist ein Übel, aber wir können ihm schließlich nicht wehren, weil wir nicht wüßten, was wir mit den Journalisten anfangen sollten, wenn es keine Zeitungen gäbe. Sie könnten höchstens, wenn sie ihr Sitzfleisch pflegen wollten, Philosophen werden. Aber die Philosophen, die den Ehrgeiz haben, auch mit der Hand zu arbeiten, sind eine überflüssige Plage. Alle Achtung vor ihrem Wissen, ihrem Fleiß und ihren sonstigen sozialen Tugenden, und mögen sie in Gottes Namen in den Hörsälen den zahlenden jungen Leuten erzählen, was sie wollen. Aber diese Gier nach Druckerschwärze ist des Teufels. Sie führt zu Verwechslungen. Man will einen Journalisten packen, und er sagt, er mache sich nichts draus, er sei ein Philosoph.


Karl Kraus, Mai 1910

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>> Du verdammter Sadist:
Du versuchst deine Leser zum Denken zu zwingen.<< - E. E. Cummings zu Ezra Pound
zuletzt bearbeitet 15.12.2009 18:06 | nach oben

#2

RE: Kraus, Karl (1874-1936)

in Rumpelkammer 15.12.2009 16:39
von oliver64 • Mitglied | 352 Beiträge | 352 Punkte

Warum denn alles auf einmal? Liest doch kein Mensch. Und dann das leiblose copy&paste und die Doppelzeilenschaltungen gleich mit. Nee, finde ich nicht gut.





Gedichte und Kommentare in allerbester Absicht

zuletzt bearbeitet 15.12.2009 16:39 | nach oben

#3

RE: Kraus, Karl (1874-1936)

in Rumpelkammer 15.12.2009 18:29
von Gedichtbandage • Mitglied | 531 Beiträge | 525 Punkte

Oliver,

ich würde das mit dem Lesen nicht so pauschalisieren.
Mancher liest sich durch, überfliegt eben was unwesentlich erscheint.

Und, bin ich denn bekloppt und habe zuviel Zeit auf meinem Konto?
Die Zeilenschaltung habe ich geändert.

Tempo, Tempo!
Gruß Gb.


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>> Du verdammter Sadist:
Du versuchst deine Leser zum Denken zu zwingen.<< - E. E. Cummings zu Ezra Pound
zuletzt bearbeitet 15.12.2009 18:37 | nach oben

#4

RE: Kraus, Karl (1874-1936)

in Rumpelkammer 12.09.2011 23:06
von Gedichtbandage • Mitglied | 531 Beiträge | 525 Punkte

Die Wissenschaft

In den ›Geisteswissenschaften‹ (I. Jahrgang, Heft 9) steht die »Lehre von der Ganzheit« von Hans Driesch und dort heißt es:

Der Gegenstand ist; sein Sein bedeutet aber nur sein als dieser selbige bewußt gehabt werden Können.

Man soll dem Gelehrten, der da drischt, nicht das Maul verbinden.





Nr. 389/90, XV. Jahr

15. Dezember 1913.


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>> Du verdammter Sadist:
Du versuchst deine Leser zum Denken zu zwingen.<< - E. E. Cummings zu Ezra Pound
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#5

RE: Kraus, Karl (1874-1936)

in Rumpelkammer 13.09.2011 21:01
von pistacia vera (gelöscht)
avatar

Ja schon.
Doch was willst du uns damit sagen, du bandagiertes Wesen?
Mmmh.


Quidquid gignitur, ex aliqua causa necessario gignitur; sine causa enim oriri quidam impossibile est (nach Platon). *extremstolzmalguck

zuletzt bearbeitet 13.09.2011 21:05 | nach oben

#6

RE: Kraus, Karl (1874-1936)

in Rumpelkammer 13.09.2011 23:17
von Gedichtbandage • Mitglied | 531 Beiträge | 525 Punkte

hier steht krauses, picasta.
platon ist - für mich - satire, siehe phaidon, zutiefst menschlich, das jedoch steht auf anderen blättern, älteren und doch den immer gleichen...
philosophie IST für narren, klugschönredner, pessimistische optimisten, die glauben...
asche aufs haupt.

gruß
gb.


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>> Du verdammter Sadist:
Du versuchst deine Leser zum Denken zu zwingen.<< - E. E. Cummings zu Ezra Pound
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