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Jasmin im Winter von Simone (1. Platz / Prosawettbewerb 10/09)
Jasmin im Winter von Simone (1. Platz / Prosawettbewerb 10/09)
in Ausgezeichnete Prosa 17.11.2009 12:14von Simone • Mitglied | 1.674 Beiträge | 1674 Punkte
Jasmin im Winter
Wenn mein Körper Christallglas ist, und meine Haut den Blick auf Burgunderadern preisgibt, wünschte ich, jemand würde mich austrinken und meine leere Hülle an der Wand zerschmettern. Manchmal ist es schwer nicht zerbrechen zu können.
Meine Tage sind Brausen und Brummen. Vor meinem Fenster bewegt sich die Welt. Ich bin gefangen in einer endlosen Slow-Motion-Schleife. 22.20 Uhr und ich lebe. Immer noch. Gestern hat Er gesagt – und Er sah aus wie Stolpern und Fallen –, dass Er es beenden wird. Um 22.18 Uhr. Er ist ein Lügner und ein Meister der Worte. Eines Tages werde ich wissen, wer Er wirklich ist. Und ich werde sehen. Sehen und Wissen. Das ist es, was die Nacht vom Tage trennt. Meine Nacht ist Warten. Auf den Morgen. Auf den nächsten Schlag meines Herzens. Oder auf sein Schweigen.
Sie haben mir das Papier und den Bleistift abgenommen. Ich schreibe in die Luft. An die Wand. Auf den Boden. Mit meinen Fingern. Ich habe meine Fingerkuppen aufgebissen. Mein Blut ist so träge, wie die Zimmerluft. Ich wünschte mein Geist wäre es auch. Die Buchstaben wirbeln durch meinen Kopf, prallen an meine Stirn. Klopfen und schaben und puckern. Sie brennen hinter meinen Augen, wie der Rauch von Räucherstäbchen.
Silbenfäden spannen sich in den Ecken des Zimmers. Verbinden sich zu Wortnetzen. In ihnen: Er. Darunter: Ich. Wenn das Zimmer voll von seinen Netzen ist, werde ich mich nicht mehr bewegen können. Ich werde an Seinen Geschichten ersticken.
Jasmin im Nebel. Jasmin mit nackten Füßen. Jasmin zerfällt zu Staub und lacht. Und die Ölbäume greifen sich ein Stück vom Himmel. Spießen es auf ihre Äste. Zuckerwatte, klebrige Süße. Der Mond blinzelt erschrocken durch das Wolkenloch auf uns herab. Ich klaube sie auf – Jasmin –, besteige den Berg Arafat. Verstreue sie unter den weißen Daunen, die meinen Kopf umschwirren. Frau Holle betet nicht. Sie wäscht und putzt und schüttelt ihre Betten aus. Jasmin im Schnee. Jasmin mit leeren Augen. Niemand steinigt mich auf dem Weg nach unten. Ich wünschte Er würde schweigen.
Manche Tage sind gut. Manche Tage sind wortlos und laut. Schwester Elena sagt, man muss zurückkehren zum Anfang, dann kann man sich seinen Weg aussuchen. Sie hat leicht reden, in ihrer Welt aus weißer Baumwollunterwäsche und Flachbildschirmen. Morgens ein Marmeladenbrötchen und abends Käsespätzle und Walter. Oder Werner oder Fred. Schwester Elena hat nicht Seine Geschichten gehört. Sie singt deutsche Schlager auf dem Flur und klappert mit Porzellan. Sie köpft Glasfläschchen und verabreicht Bienenstich. Sie ist nicht Glas. Sie ist Stoff.
Schlüsselgeklapper und quietschende Scharniere. Schwester Elena reicht mir einen Wassereimer und einen Lappen. Sprachlos. Hinter ihr ein Wachtposten. Er bewacht nicht mich, sondern sie. Sie kommt niemals allein zu mir. Ich wasche mein Leben von den Wänden, während sie an der Tür wartet. Ich werde es schreiben, wieder und wieder. Sie weiß es und ich weiß es.
„Man muss sich bemühen zurückzufinden“, sagt sie, „wenn man sich bemüht, kann man alles schaffen.“
Ich nicke und schaffe es zu lächeln. Über ihrem Kopf spinnt Er seine Geschichten weiter. Ich versuche nicht hinzusehen.
„Ihre Mutter möchte Sie besuchen. Morgen Nachmittag. Sie sollten mit ihr reden.“
Humpty Dumpty saß auf dem Eck, Humpty Dumpty fiel in den Dreck. Ich presse die Handflächen auf meine Ohren. Und auch der König mit seinem Heer, rettete Humpty Dumpty nicht mehr. Schwester Elena wirft frische Bettwäsche auf die Matratze und schließt sich in ihrem Schlagerflur ein. Und mich aus.
Vielleicht geben sie mir Stift und Papier zurück, wenn ich verspreche an den Sitzungen teilzunehmen. Vielleicht, wenn ich Ihn verleugne. Auf meinem Konto befinden sich weit mehr als 30 Silberlinge. Schwester Elena möchte mal ans Meer, hat sie gesagt. Sie mag Wasser und Wind. Sie mag das Rauschen der Wellen und den Sommer.
Jasmin blüht im Winter. Minus 18 Grad. Ich bette sie zu Füßen des Ölbergs und weine. Jasmin im Schnee. Ihr weißes Kleid – rot. Jasmin unter der Januarsonne, die sich wandelt und schweigt.
Dr. Rosenberg schüttelt den Kopf. Reibt sich über die Stirn. Seine Haut ist gräulich-braun. Pergament. Ich wünschte, ich hätte einen Kugelschreiber. Er legt seine Brille auf die Akten. „Sie leiden unter einem schweren posttraumatischen Stress-Syndrom.“ Er sieht mich mit seinen Maulwurfsaugen an. „Wir können Ihnen helfen, aber nur, wenn Sie mitarbeiten.“
Ich nicke und sage noch einmal mein Sprüchlein auf. Sage, was von mir erwartet wird. Schwester Elena sitzt neben dem Schreibtisch. Gleich wird sie mir über den Kopf streichen und mir meinen Bleistift in die Hand drücken. Sie verschränkt die Arme vor der Brust. Ich knubble an den Verbänden um meine Handgelenke.
„Es reicht nicht es zu sagen“, sagt Dr. Rosenberg, „Sie müssen es einsehen. Sie müssen es verstehen und Sie müssen wissen, dass es die Wahrheit ist.“
Die Wahrheit ist eine Buntgefleckte am 23. Dezember. Sonst nichts. Kein Hokuspokus, kein Sandmännchen aus dem kleinen Plastikbecher kann daran etwas ändern. Traumsand brennt in den Augen, wie Methylalkohol im Rachen.
22.18 Uhr vorbei. Schon wieder. Er baumelt am Zeigefinger der Wanduhr. Schöpft Atem und grinst. Wackelt mit seinem Kopf. In seiner Hand Jasmin, zu einem Strauß gefasst. Ihr Duft raubt mir die Sicht. Peter Pan hat es gewusst. Man darf nicht erwachsen werden. Nicht für alle Küsse der Welt. Erwachsenwerden bedeutet vergessen. Vergessen wie man fliegt.
Jasmin fliegt hoch. Jasmin fliegt schnell. Ich fange sie auf. Meine Reflexe sind wach. Jasmin im weißen Kleid. Wässrige Morgenröte. Das Mal auf ihrer Stirn. Ich schließe den Beutel und schultere den Stecken. Inschallah. Eine Tretmine trennt Beine vom Rumpf. Masseltoff! Und Er lacht mich aus. Er weiß was mir blüht.
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