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Traumfänger
in Zwischenwelten 20.07.2009 15:09von Simone • Mitglied | 1.674 Beiträge | 1674 Punkte
hier mein Roman-Versuch (wird nach und nach fortgesetzt). wegen der Übersichtlichkeit mache ich einen seperaten Kommentarfaden auf.
thx
Sim
Sie zieht die Wohnungstür hinter sich zu und bleibt noch zwei Atemzüge lang stehen, bis die Endgültigkeit, die das Klacken des rostigen Schlosses heraufbeschwört, verhallt ist.
Der Schlüssel ist ganz warm vom Druck ihrer Finger. Sie steckt ihn in einen schlichten weißen Briefumschlag, feuchtet die Klebefläche mit der Zungenspitze an und presst ihn mit beiden Händen zusammen. Das Kuvert gleitet in den Briefkasten und sie geht die ausgetretenen Stufen der Holztreppe hinunter. Das Geräusch ihrer Absätze durchbricht die Stille des Treppenhauses wie erste zerstreute Tropfen eines Platzregens. Ihre Handflächen streichen leicht über das Geländer und nehmen jeden Kratzer, jede Unebenheit darauf wahr.
Auf der Straße schlägt ihr schmutzweiße Kälte ins Gesicht. Sie schließt die Augen. Henry wird es nicht verstehen, aber es ist der einzige Weg. Es ist ihr Weg und den muss sie allein gehen.
Sie lässt ihre Hände über die verschorfte Außenmauer des Mietshauses wandern. Ihre Fingerspitzen beginnen zu schmerzen. Sie hat vergessen Handschuhe mitzunehmen. Ein Lachen macht sich in ihrem Hals breit und verdrängt für einen Augenblick den dicken Klos, der sie daran gehindert hat frei zu atmen.
Henry rennt. Sein Atem durchbricht die Kältemauer in Wolken. Stoßweise und schwer. Obwohl seine Füße sich bewegen, scheinen sie festgeklebt zu sein.
Die Stadt um ihn herum flattert rasend schnell. Eine silberne Limousine die mit wahnwitziger Geschwindigkeit um die Ecke biegt. Ampeln die im Sekundentakt die Farbe wechseln. Und Menschen deren Körper sich direkt neben ihm auflösen, um sich im selben Augenblick hundert Meter vor ihm zu materialisieren.
Warum war er nur nochmal eingeschlafen. Wütende Tränen rinnen über sein Gesicht und bilden Eiszapfen an seiner Nasenspitze. Heißer Schweiß rinnt ihm an der Wirbelsäule hinab. Seine Fingernägel graben sich tief in seine Handflächen und er gibt ein Knurren von sich, als könnte er damit seine Langsamkeit in die Flucht schlagen.
Der Brief wiegt Tonnenschwer in seiner Manteltasche. Das Papier zwischen seinen Fingern zusammengeknüllt, versucht er ihren Aufenthaltsort herauspressen. Nein! Das würde nicht das Ende sein. Nicht jetzt und nicht auf diese Weise.
Er konzentriert sich. Schließt die Augen und konzentriert sich nur auf das Atmen, auf seinen Herzschlag. Nur die lebenswichtigen Körperfunktionen.
Er würde es rechtzeitig schaffen! Er hat es noch immer rechtzeitig geschafft. Also, wo ist sie? Er hält sein Gesicht in die klirrende Kälte und blendet alle Gedanken aus. Er versucht sie zu erfühlen. Und plötzlich ist alles ganz klar.
Sie geht zügig, aber nicht übermäßig schnell. Zielstrebig lenkt sie ihre Schritte die Hauptstraße hinunter, an den gleichförmigen Wohnblocks, mit den stumpfen Fensterfronten vorbei.
Ein paar Jugendliche lungern in einem Hauseingang herum und rauchen. Die glimmenden Zigaretten in der hohlen Hand versteckt. Die Schultern hochgezogen, die Köpfe gesenkt, starren sie ihr trotzig ins Gesicht. Ihre dunklen Jacken verschwimmen mit den grauen Fassaden, als wären sie eins mit ihnen.
Die Fußgängerampel an der Kreuzung schaltet auf Grün und sie beeilt sich um noch rechtzeitig hinüber zu kommen.
Schon hinter der nächsten Ecke kann sie die Konturen der alten Eisenbahnbrücke erkennen. Klare kantige Strukturen, die sich hinter leichtem Nebel hervorheben. Sie mag schnörkellose Architektur. Sie strahlt etwas Bodenständiges aus. Sicherheit.
Eiskristalle haben sich auf den Stahlträgern niedergelassen und glitzern im Licht der sinkenden Sonne. Elfenstaub. Verbrauchte Wünsche.
Eine Gestalt kommt ihr entgegen. Sie geht schleppend, stößt Rauchwolken zwischen Mütze und Schal hervor. An einer Leine führt sie einen humpelnden Dackel, den sie mehr hinter sich herzieht, als dass er selbst läuft.
Jessica wechselt die Seite und schlendert grußlos an ihr vorbei, wartet bis die beiden außer Sichtweite sind und zieht sich an der Brüstung hoch. Sie ignoriert das Brennen an ihren Handflächen und steigt hinüber. Das Wasser ist tiefschwarz. Kaum erkennbar. Nur gelegentlich bricht ein Funkeln die homogene Oberfläche.
Stadtgeräusche dringen in sein Bewusstsein. Motorenlärm. Verwischte Stimmen. Und die Realität läuft wieder im Normaltempo.
Henry setzt sich in Bewegung. Schneesplitter zerplatzen unter seinen Sohlen und zerstieben an seinen Absätzen. Er rempelt einen Jungen in einer olivgrünen Army-Jacke an, der aus einem dunklen Hauseingang stolpert, und schubst ihn vor die Wand des Mehrfamilienhauses. Rohes Fluchen folgt ihm bis er um die nächste Ecke biegt.
Er ignoriert hektisches Hupen, als er die Fußgängerampel bei Rot überquert. Rutscht aus und fängt sich an der Motorhaube eines braunen Lieferwagens ab, dessen Fahrer ihm hinter der Frontscheibe seine rechte Faust entgegen ballt und sich zeitgleich mit dem linken Zeigefinger an die Stirn tippt, als wollte er sich ein drittes Auge meißeln.
Nur noch um eine Ecke und er sieht sie. Ihr Körper hebt sich von den silbrig schimmernden Konturen ab. Sie bewegt sich nicht. Nur ihr Haar schwirrt aufgeregt über ihrer dunkelroten Winterjacke. Ihr Blick ist zum Himmel gerichtet, als beobachte sie dort etwas.
Nur noch wenige Schritte. „Jessica!“ Er schmettert ihren Namen in die Nacht. Und sie dreht ihren Kopf in seine Richtung. Eine Böe gefriert den Schweiß auf seiner Stirn zu Raureif und treibt ihm Gänsehaut über Arme und Nacken, stemmt sich seinen Schritten entgegen und bremst ihn aus.
Jessica blickt ihn an. Lächelt sie? Fast scheint es, als hätte sie ihn erwartet. Als hätte sie nur noch auf ihn gewartet, bevor sie loslässt.
Ihm bleibt keine Wahl. Er springt. Mit einem riesigen Satz hechtet er über die Brüstung und greift nach ihren Armen, die sie hoch über den Kopf erhoben hat, und bekommt eine ihrer Hände zu fassen. Der Reißverschluss ihres offenen Parkas schlägt ihm ins Gesicht und die durchfrorene Haut seiner Wange platzt auf. Er hält ihre Hand fest in seiner. Sein ganzes Leben.
Stillstand. Schmerz. Kalt. Atemlose Kälte und dann nichts mehr. Er sieht in ihre Augen. Grüne Teiche. Sauerstoffarm, aber nicht leblos. Er hat den Kontakt verloren, rudert verzweifelt mit den Armen und kann sie nicht mehr fassen. Ihre Lippen formen Worte. Ihr Haar treibt um ihr Gesicht, wie Schilfgras, das sich in einer lauen Sommerbrise wiegt. Er schreit ihren Namen. Schreit bis seine Lungen platzen.
Sein Mund ist trocken und verklebt. Henry versucht zu schlucken. Vergeblich. Ein Klappern läßt ihn seinen wummernden Kopf heben und in die Ursprungsrichtung des Geräusches blicken.
Ein kleines Feuer tänzelt wenige Meter vor seinen Augen und er muss die Lider zusammenkneifen um etwas von der Umgebung erkennen zu können.
Hinter dem Feuer hockt ein Mann auf einem Klappstuhl. Er schraubt gerade den Deckel auf eine Thermosflasche und verstaut sie in einer weißen Plastiktüte neben seinem rechten Bein. Zu seiner Linken sitzt ein kleiner brauner Hund, dessen Schwanz aufgeregt auf die gefrorenen Rasenreste trommelt, als der Mann ihm über den Kopf streicht.
Mit einem Taschenmesser schält er einen Apfel. Die rote Schale windet sich in einer fahrigen Spirale zu Boden.
„Ja, Chester, es wird wohl Zeit für uns.“ Er legt den Kopf in den Nacken, summt monoton mit dem Nordwind und wippt mit seinen großen Füßen, die in hellbraunen Mokassins stecken.
Henry zieht die Arme unter seinem Körper hervor und stöhnt, als er auf den schmerzenden Ellenbogen näher zum Feuer robbt. Er lässt sich dicht neben der Flamme fallen und streckt, mit letzter Kraft, einen Arm in Richtung des Mannes aus. Die Handfläche geöffnet, die Finger gespreizt.
Chester bellt zweimal kurz hintereinander, bleibt aber sitzen.
„Ja, Chester, so ist es immer. Am Ende bitten und betteln sie und dabei haben sie doch gar keinen Grund zu bitten.“
In kleinen Häppchen lässt er den Apfel in seinem großen Mund verschwinden, kaut jedes Stück ausgiebig, so dass seine ungewöhnlich weißen Zähne zwischen den Lippen hervor blitzen.
In Henrys Kopf wirbeln Bildfetzen umher, verwischte Bruchstücke nicht greifbarer Szenen aus einem anderen Leben. Die Handflächen an seine Schläfen gepresst, versucht er den Wirbel zu stoppen. Unmöglich. Also versucht er aufzustehen, um wenigstens seinem Körper den Anschein von Normalität zu geben, doch seine Beine sind steif gefroren und unbrauchbar. Wütend schlägt er mit den Fäusten auf seine Oberschenkel ein, bis sich Schweiß mit seinen eisigen Haarsträhnen verbindet, und gibt schließlich auf.
Er sammelt Speichel. Es dauert eine halbe Ewigkeit, bis er genug beisammen hat um zu schlucken. „Wer bist du?“, röchelt er hervor und sein Körper wird sofort von trockenem Husten geschüttelt.
„Wer bin ich, Chester? Bin ich jemand?“ Der Mann blickt seinen Hund an, dann zum Himmel, an dem einige verschlafene Sterne zwischen bauschigen Wolkenbetten hervor lugen, als erwarte er eine Antwort. Aber weder die Sterne noch Chester scheinen die Antwort zu kennen. Er wiegt seinen Kopf hin und her, kramt eine Wollmütze aus der Plastiktüte hervor und zieht sie sich bis über die Ohren. Dann steht er auf, stemmt beide Arme in den Rücken und drückt sein Kreuz durch. Er klappt den kleinen Stuhl zusammen, nachdem seine Wirbel ausgiebig geknackt haben, und verstaut ihn mit seinen anderen Habseligkeiten in der Plastiktüte. Er leint Chester an und geht direkt vor Henrys Gesicht in die Hocke.
„Ich bin ein Wanderer“, sagte er und sieht in Henrys Augen. „weiter nichts.“
Aus einiger Entfernung sind Sirenen zu hören. Chester schnüffelt an Henrys Gesicht.
„Ich sammle ein, was weggeworfen wurde. Wie die braven Männer der Müllabfuhr. Jeder kennt sie, weiß ihre Arbeit zu schätzen, aber man geht ihnen aus dem Weg, wenn möglich.“
Er pflückt ein paar Blätter aus Henrys Haaren, schnüffelt daran und schnippt sie, nach eingehender Betrachtung, ins Feuer. „Manchmal findet man etwas und manchmal nicht.“ Er seufzt theatralisch. „Aber man trifft sich immer zweimal. So heißt es doch, nicht wahr?“ Er schnappt seine Tüte, kramt einen dicken Schal hervor und schlingt ihn um den Hals. Mit der flachen Hand schiebt er einige Strähnen seines langen schwarzen Haares unter die Mütze, dreht sich ohne ein weiteres Wort um und schlendert am Flussufer entlang. Er taucht in die Dunkelheit und wird eins mit ihr. Und Henrys Geist gleitet mit ihm hinein.
Die Schwester hat es ein Wunder genannt und begeistert in ihre fleischigen Babypuppenhände geklatscht. Dass sie ihn nicht geküsst hat, verdankte er nur der Anwesenheit des Oberarztes. Henry wurde von mehreren Studenten unter die erweiterten bebrillten Pupillen genommen, wie ein singender Holunderstrauch. Man sprach von Schwerer Hypothermie, als wäre das das erstrebenswerteste Ziel überhaupt. Ich wünsche mir zu Weihnachten eine schwere Hypothermie. Aber natürlich tust du das, das tut doch jeder!
Seine Körpertemperatur betrug 27°C, als der Krankenwagen ihn aufnahm. Die Pfleger und der übernächtigte Assistenzarzt hatten es nicht eilig gehabt, bei einer Körpertemperatur in diesen Bereichen war nicht mehr viel zu machen. Erst als er um ein Glas Wasser bat, kam Hektik auf.
Henry steht leicht schwankend vor dem Eingang der städtischen Kliniken und die Schwester versucht ihn immer noch umzustimmen. Sie plappert in einem fort von den Risiken und dass seine Körpertemperatur nicht hoch genug und sein Zustand noch nicht stabil sei. Am Ende kommt sie ihm sogar mütterlich und sagt, er solle es für sie tun, wenn schon nicht für sich selbst.
Blitzschnell drückt er ihr seine Hände auf die runden Schultern und zieht sie zu sich heran, dass seine Nasenspitze fast die ihre berührte. Sie beginnt augenblicklich zu frösteln und versucht sich aus seinem Griff zu winden. Seine Hände sind Schraubzwingen. Er grinst ihr ins Gesicht. „Für dich?“, fragt er. „Für dich soll ich bleiben? Das ist es, was du möchtest?“
Ihre Atmung geht flach und sie senkt den Blick. Ihr ganzer wabbeliger Körper ist in Bewegung, als er endlich loslässt. „Alles Gute“, flüstert sie und verzieht die Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln, schlingt die Arme schützend um den Oberkörper und geht zum Haupteingang hinein ohne sich umzudrehen.
Die Farben sind unglaublich. Nie zuvor hat er intensiveres Rot gesehen. Spürbare Wärme wabert aus der Neonreklame über der Tankstelle und lässt seine Augen tränen. Er steht auf der gegenüberliegenden Straßenseite und lässt die Farben in seinen Körper dringen. Er betrachtet seine Hände. Winterhände, die leicht bläulich schimmern, wenn er sie zu Fäusten ballt und weiß wenn er sie wieder entspannt.
Henry trägt ein schwarzes langärmeliges Shirt und dunkelblaue Jeans, darüber einen halblangen Mantel. An den Füßen dunkle Schuhe, mit dicken tiefgefurchten Sohlen. Ihm ist warm. Unangenehm warm.
Ein junger Mann in einem grünen Hemd tritt vor die Eingangstür der Tankstelle und sieht zu ihm herüber. Ein goldenes Namensschild steckt auf seiner linken Brustseite. Er tappt einige Sekunden von einem Fuß auf den anderen, bevor er wieder seinen Platz hinter der Kasse einnimmt. Sichtlich nervös.
Henry geht langsam an den beleuchteten Schaufensterreihen vorbei, betäubt von der vielfältigen Farbigkeit. Kaum zu glauben wie viele Rottöne es gibt.
Die Gerüche der Stadt legen sich schwer auf seine Bronchien. Abgase, Gewürze und menschliche Ausdünstungen. Er riecht Streit und Sex und Angst. Und er muss seine ganze Körperbeherrschung aufbieten, um sich nicht zu übergeben. Zu erdrückend sind all die triefenden Empfindungen die ihm entgegen drängen.
In seiner Hosentasche steckt ein Schlüsselbund. Ein Wohnungsschlüssel, ein kleinerer der aussieht, wie der eines Spindes, wie sie in Sporteinrichtungen zu finden sind und ein Autoschlüssel. Er hat keine Ahnung wo er wohnt oder wie sein Name ist. Nur ein verwischtes Bild seiner selbst ist in seinen tiefsten Gehirnwindungen verankert. Zu schemenhaft um greifbar zu sein.
Er lässt sich treiben ohne auf seine Schritte zu achten und steht schließlich vor einem großen Wohnblock, der sich durch nichts von den anderen in der Gegend unterscheidet. Eine ausgetretene Holztreppe führt ihn zu einer Tür, die sich problemlos mit einem der Schlüssel öffnen lässt.
Ein großer graugetigerter Kater springt ihm entgegen, doch als er ihn hinter den Ohren krault, beginnt er zu fauchen und zieht sich unter die Heizung zurück, von wo aus er ihn mit funkelnden Augen beobachtet.
Henry geht durch das geräumige Appartement, lässt seine Hände über die blanke Arbeitsplatte der Küchenzeile streichen, durch den Wohnbereich, mit weißen Schränken und einem gemütlich aussehenden braunen Sofa, in das, nur durch einen Paravent abgeteilte, Schlafzimmer. Das Bett ist zerwühlt und die Decke liegt auf dem Boden. Er hebt sie auf und versenkt sein Gesicht in den glatten Satin. Einatmen. Ein Gefühl von Verstehen macht sich in seinem Körper breit und hämmert von innen an seine Bauchdecke.
Sein Blick fällt auf ein kleines Foto, das rahmenlos an der Nachttischlampe lehnt. Es wird größer und größer, während das Zimmer darum zu verschwimmen beginnt und Henry schreit. Ein endloser Schrei drängt aus seiner Lunge, prallte an Wänden und Zimmerdecke ab und schießt wie ein Fremdkörper durch seinen Gehörgang zurück in sein Innerstes.
Ein metallenes Scheppern reißt ihn aus seiner Trance, in der er den halben Tag verbracht hat. Perry springt von der Arbeitsplatte des Küchenschrankes und verzieht sich wieder auf seinen Beobachtungsposten unter der Heizung.
Mit dem Rücken an das Bettgestell gelehnt, die Decke an sich gepresst hat Henry bewegungslos dagesessen und Jessicas Foto angestarrt. Und nach und nach ist die Erinnerung zurückgekehrt.
Schon oft hat sie versucht zu springen, und sich dabei immer neue Absprungorte gesucht – den Fernsehturm, ein Hochhaus, verschiedene Brücken – aber immer war er rechtzeitig dagewesen, um sie zu retten. Fast war es wie ein Spiel zwischen ihnen gewesen. Sie schrieb einen Brief und er fand sie.
„Wenn deine Liebe stark ist, findest du mich.“, hat sie gesagt. Und er hat sie gefunden, immer und immer wieder. Sie nannte es nicht Springen, sie nannte es Fliegen. So oft hat er sie nach dem Warum gefragt und sie sah ihm dann tief in die Augen. „Ich muss fliegen, Henry. Fragst du einen Engel, warum er fliegen muss?“ Und dann griff sie ihm mit beiden Händen ins Haar und zog seinen Kopf an ihre Schulter.
Ein Schluchzen schüttelt Henrys Körper und ein verzweifelter Zorn macht sich in seinen Eingeweiden breit. Er schlägt seine Faust am Metallrahmen des Französischen Bettes blutig, bis der Schmerz in seiner Hand den in seinem Inneren überlagert.
Warum hat er sie diesmal nicht halten können, was war dieses Mal anders gewesen? Er schließt die Augen und lässt die Bilder an sich vorbeiziehen ohne einzugreifen. Ein stiller Beobachter nur, der keine Wertung vornimmt, nichts beschönigt oder verändert.
Er war rechtzeitig gekommen, sie war so nah und doch konnte er sie nicht erreichen. Die Kälte… Das eisige Funkeln der Stahlträger… Ihr Blick zum Himmel… Sie war nicht allein, auf der Brücke, da war noch jemand und sie hat ihn angesehen, ohne Angst.
Danach die Böe, die Henry bremste. Gezielt, so erscheint es ihm aus der Distanz. Ein gezielter Windstoß, nur dazu da, ihn aufzuhalten.
Und dann der Wanderer. Henry hatte ihn für eine Einbildung gehalten. Aber die Erinnerung ist zu real um seiner Fantasie entsprungen zu sein. Fast kann er das Feuer noch knistern hören und den Rauch in seinem Mund schmecken. Wenn der Mann wirklich dort gewesen ist, hat er sie vielleicht schon fallen gesehen.
Die kleinen weißen Blumen auf der Tapete verquirlen sich zu einer gebundenen Masse und sickern schließlich ermattet zu Boden. Das ergibt alles keinen Sinn.
Er geht in die Küche, öffnet eine Dose Katzenfutter und füllt Perrys Napf. Der Kater beobachtet ihn aus den Augenwinkeln, die Nackenhaare gesträubt, die Muskeln zum Sprung gespannt. Henry streckt eine Hand nach ihm aus und ein ängstliches Fauchen zischt ihm entgegen.
Die Haut seiner Hände schimmert immer noch bläulich. Seine schlanken Finger scheinen die Luft der Umgebung anzusaugen, um sich zu konzentrieren und ihr sämtliche Wärme zu entziehen, wie im Herzen eines Blizzards. Er presst die Handflächen aneinander und dann spürt er selbst die Kälte, die von seinem Körper ausgeht.
Auf der Flurkommode liegen seine alten braunem Lederhandschuhe, er zieht sie über und geht nach draußen um Antworten zu finden, obwohl er keine Ahnung hat, wo er danach suchen soll.
Henry beobachtet die Stadt. Sie wogt und strömt. Die Menschen in den Straßen scheinen in ihrem Sog gefangen zu sein, treiben wehrlos auf den Wellen, die mit ihnen spielen, wie Kinder mit Muschelstücken.
War das schon immer so gewesen, hat sich sein Blick geschärft, oder erkennt er die Willenlosigkeit der Massen nur, weil er abseits steht. Abseits dessen, was man normal nennt. Denn das ist ihm klar geworden, er ist nicht mehr der Mann, der er gestern noch gewesen ist. Er ist anders, wie anders, muss er noch herausfinden.
Seine Schritte führen ihn in Randgebiete, in denen er bisher noch nie gewesen ist. Komisch, wie hilflos man sich in unbekanntem Terrain bewegt. Es riecht muffig, nach Unrat und angefaulten Wünschen.
Der Weg wird enger und seine Schulter streift die rote Backsteinmauer eines verfallenen Fabrikgebäudes, das die Seitengasse begrenzt. Es strahlt feuchte Lebendigkeit aus, wie ein brackiger Tümpel am Rande eines uralten Moores. Und Henry fühlt sich von den stumpfen, teils zerbrochenen Fenstern beobachtet. Er bleibt stehen und lauscht, sofort scheint alles um ihn herum angespannt zu sein und mit ihm zu lauschen. Er dreht seinen Kopf und starrt die Gasse entlang, durch die er gekommen ist und die kargen Sträucher und Steingewächse, die im Halbdunkel den Winter verschlafen, scheinen mit ihm zu starren.
Um die nächste Ecke und Henry steht vor der verwitterten Fassade eines zweistöckigen Hauses, in dessen Keller sich offensichtlich ein Pub befindet. ‚Herbs‘ steht auf einem verbeulten Blechschild, das an einer rostigen Eisenstange über dem Eingang knarzt und darunter lakonisch: Essen - Trinken - Schlafen. Acht Stufen einer Betontreppe führen hinab zu einer verschrammten Holztür, an deren Knauf ein handgeschriebenes ‚geöffnet‘ Schild baumelt. Ohne darüber nachzudenken, betritt Henry den schummrigen Gastraum.
„Ein Bier?“
Es dauert einige Sekunden, bis seine Augen sich an das düstere Licht gewöhnt haben und er den Mann registriert, der ihn über die Theke hinweg fixiert. Seine Haare sind fettig und lang. Geheimratsecken und Falten in den Mundwinkeln.
Henry setzt sich auf einen der Barhocker und wirft einen Zwanziger auf den feuchten Tresen. Der Wirt stellt ein abgestandenes Pils vor ihn hin.
Der Laden ist fast leer. Nur zwei junge Kerle mit Lederjacken und Bikerstiefeln spielen Pool auf einem zerschlissenen Billardtisch und beobachten ihn – den Fremden - aus den Augenwinkeln.
Henry kippt sein Bier auf Ex und schlägt das Glas scheppernd auf die Theke, so dass er die volle Aufmerksamkeit der Anwesenden hat. „Ich bin auf der Suche nach einem Mann, der sich selbst als Wanderer bezeichnet.“
„Nie gehört.“ Lautet die knappe Antwort, aber Henry hat die fahrigen Blicke zur Eingangstür bemerkt und hakt nach. „Etwa 1,80 m groß, schwarze Haare, helle Haut, eine markante spitze Nase, auffallend weiße Zähne. Und er hat einen kleinen braunen Hund bei sich, den er Chester nennt. Ich muss ihn wiederfinden.“
Ein Poltern lässt ihn herumfahren. Einer der beiden Jungen hebt seinen Queue auf und beginnt akribisch die Spitze des Stockes einzukreiden.
Als Henry sich wieder umdreht, steht im Türrahmen zwischen Theke und Garderobe ein Mädchen. Rosa Schlafanzug. Lange blonde Haare. Müde Augen. Schmutzige Pfützen inmitten sandfarbener Haut.
Das Mädchen geht um die Theke herum bis es ganz dicht neben ihm steht. Einen ausgefransten Teddybär im Arm, streicht es mit den Fingerkuppen über seine rechte Hand, die locker auf seinem Oberschenkel liegt. Ganz vorsichtig fährt es die Nähte in dem braunen Leder nach.
„Hey Kiki, verschwinde! Los verschwinde in dein Zimmer.“ Der Wirt ballt die Faust und zeigt mit dem Daumen auf die offene Tür, aus der das Mädchen gekommen ist.
„Das tut mir leid.“, sagt es zu Henry, berührt dann den Druckknopf, mit dem der Handschuh an den Handgelenken zugeknöpft ist, und kaum hörbar: „Sei nicht traurig.“, dreht sich um und verschwindet.
Henry starrt gebannt auf die geschlossene Tür und hört sich „Ich möchte ein Zimmer mieten“, sagen. Er blickt den Wirt an „Für ein paar Tage, vielleicht auch länger.“
Seine Hände gleiten durch ihr Haar. Doch immer wenn er sie berühren will, scheint sie sich weiter von ihm zu entfernen. Panik steigt in seinem Hals auf und er schluckt, um sie nicht an die Oberfläche gelangen zu lassen.
Muschelrauschen und einlullende Klänge, umarmen ihn und tragen ihn tiefer und tiefer hinab. Er reißt die Augen auf und dreht sich, windet sich in zähem Fließen. Gräbt seine Hände in das Unfassbare. Ruft nach ihr, immer wieder. Verheddert sich in faserigen Gräsern, die sich um seine Gelenke schlingen, bis er bewegungsunfähig auf dem Grund liegen bleibt.
Gedämpft und leise dringt ihre Stimme zu ihm durch. „Wenn du mich liebst, findest du mich.“
Henry keucht. Sein T-Shirt klebt an seinem Oberkörper und es dauert einige Sekunden, bis er registriert, wo er sich befindet.
Es ist stockdunkel in dem Gästezimmer, nicht einmal ein kleiner Schimmer von Laternenlicht fällt von der Straße durchs geöffnete Fenster hinein. Er schaltet die Nachttischlampe an und ein Atemzug presst sich hörbar aus seinen Lungen.
Das Mädchen aus dem Pub sitzt auf der Bettkante und starrt ihn an. Nein, eigentlich sieht sie nur in seine Richtung, denn ihre Augen sind ausdruckslos und ihre Pupillen unnatürlich geweitet.
Wie ist ihr Name gewesen? „Kiki?“ Er berührt vorsichtig ihren Arm. Ihre Muskeln sind angespannt. An ihrem Hals treten die Sehnen hervor. Sie öffnet den Mund. Kumuluswolken lösen sich von ihren Lippen und da erst bemerkt Henry, dass es eiskalt im Zimmer ist.
Das Mädchen sitzt nur da. Eine einzelne Träne rinnt an ihrer Wange hinunter und hinterlässt einen glänzenden Streifen. Henry atmet schwer. Unfähig sich zu rühren, betrachtet er fasziniert das Frauengesicht auf dem Kinderkörper. Augen die so tiefblau sind, wie der Himmel über dem Atlantik, kurz vor Sonnenuntergang, die in diesem Moment auch genauso alt zu sein scheinen.
Er hebt den Arm, langsam, und fährt mit seiner Fingerspitze die feuchte Spur auf ihrer Wange nach, zieht sie aber zurück, als er bemerkt, dass sie zu frösteln beginnt.
„Sie hat Angst.“, flüstert sie und hauchte neue Wolkenberge in den Raum. Ihr schmaler Körper beginnt zu zittern und ihre Blicke kehren in die Wirklichkeit zurück. Mit angstgeweiteten Augen fällt sie vornüber und schluchzt in Henrys Halsbeuge.
Zögernd schließt er seine Arme um ihren Oberkörper und hält sie minutenlang fest. Die Handflächen nach außen gedreht. Dann hebt er sie kurzentschlossen hoch und trägt sie in ihr Zimmer, am Ende des Ganges.
Er deckt sie zu und streicht ihr über die Stirn, sofort beginnt sie zu zittern und er ballt seine Hände zu Fäusten, starrt auf seine frostigen Knöchel. Wann wird endlich diese Kälte verschwinden.
Henry schiebt seinen Teller zur Seite. Ihm ist flau im Magen und seine Augen liegen in dunklen Höhlen.
„Du musst was essen!“ Kiki zeigt vorwurfsvoll auf sein Frühstück, das er kaum angerührt hat, und stemmt die Hände in die schmalen Hüften. Sie trägt eine weiße Schürze über ausgewaschenen Jeans und einem blauen Pullover.
Henry lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und steckt sich eine Zigarette an. „Und du, musst du nicht in die Schule?“ Er bläst den Rauch durch die Nase aus.
„Nicht in den Ferien.“ Sie setzt sich auf den Stuhl gegenüber. „Wenn du nicht aufhörst zu Rauchen, stirbst du.“
„Ja, sicher.“ Ein Sonnenstrahl fällt durch die Fensterscheibe in Henrys Gesicht und er kneift die Augen zusammen, um das Mädchen noch erkennen zu können. „Es sind auch schon Leute gestorben, weil sie nicht aufgehört haben zu reden.“
Kiki verschränkt die Arme vor der Brust und sieht ihm trotzig ins Gesicht.
„Hast du das Frühstück gemacht?“, fragt Henry und wirft die Kippe in seine Kaffeetasse, obwohl ein Aschenbecher direkt daneben steht.
„Ja. Herb schläft noch und einer muss es ja tun.“
„Ist Herb dein Vater?“
„Du bist aber ziemlich neugierig.“ Kiki schlägt die Beine übereinander, streicht ihre Schürze glatt und lässt sein Gesicht dabei keinen Moment aus den Augen. „Du hast gestern nach dem Wanderer gefragt“, sie macht eine Pause und beobachtet seine Reaktion. Henry blinzelt einmal, verzieht aber keine Miene. „Was willst du denn von ihm?“
„Ich suche Antworten. Und du stellst zu viele Fragen, für ein kleines Kind.“
Quietschend schiebt sie ihren Stuhl zurück, erhebt sich prätentiös von ihrem Platz und wirft mit einer geübten Kopfbewegung ihre blonden Locken über die Schultern. Mit hoch erhobenem Kopf räumt sie sein Geschirr ab.
„Herb ist mein Onkel. Und ich werde nächsten Monat 12“, bemerkt sie, wie nebenbei, bevor sie mit grazilen Schritten in der Küche verschwindet.
Henry steckt sich noch eine Zigarette an und sieht aus dem Fenster. Es ist dunkler geworden, der Himmel ist mit Schneewolken bedeckt.
Aus der Küche dringt Geschirrgeklapper und Radiomusik. Henry wollte das Mädchen nach letzter Nacht fragen, aber sie schien sich nicht daran zu erinnern. Schranktüren knallen und kurze Zeit später erscheint Kiki, mit Mütze, Handschuhen und Winterjacke bekleidet im Gastraum. Sie wirkt in den dicken Sachen noch zerbrechlicher und ihre frischen Augen stehen in auffälligem Kontrast zu ihrer Wüstenhaut.
„Ich weiß, wer dir helfen kann.“ Sie zieht ihre Handschuhe an und blickte dabei auf Henrys Hände, mit denen er sich locker auf den Tisch stützt und die wieder in dem alten braunen Leder stecken.
„Und wer soll das sein?“
„Elena. Und jetzt komm endlich, ich bin schon spät dran.“ Kiki nimmt einen Korb von der Theke und geht nach draußen.
Wahrscheinlich will sie sich nur wichtigmachen, aber wenn nicht? Er holte seinen Mantel und folgt ihr.
Es hat angefangen zu schneien und bauschige Flocken umwehen ihre Körper. Kiki lacht und hüpft mehr, als dass sie geht. Henry hat Mühe Schritt zu halten.
Die Fröhlichkeit des Mädchens und selbst der Schnee wirken bizarr und unpassend inmitten der verfallenden Gebäude. Kaum eine Fassade hat eine erkennbare Farbe. Alles grau in grau, umschwirrt von reinweißen Federn und einem tanzenden Tupfer orange. Henry lächelt.
Kiki dreht sich mit weit ausgestreckten Armen, bis sie atemlos vor seinen Füßen in den frischen Schnee plumpst.
„Warum trägst du die?“ Sie deutet mit dem Kinn auf seine Handschuhe.
„Es ist kalt.“
„Ja.“ Kiki nickt und hält ihr Gesicht in die kitzelnden Daunen. Sie schließt die Augen. „Manchmal ist mir so kalt, dass ich mich an Eiszapfen wärmen könnte. Dann gehe ich nach draußen und laufe durch die Straßen. Und habe immer das Gefühl, dass ich etwas suche. Aber ich weiß nicht, was es ist.“
„Dann suchen wir wohl beide etwas“, sagt Henry und hebt den Korb auf, der neben ihr in einer Schneewehe umgekippt ist.
Kiki klopft sich die Kleider ab und sie gehen eine Weile schweigend nebeneinander her. Henry will gerade fragen, wie weit es noch sei, als sein Blick auf ein kleines Häuschen fällt und er weiß, dass sie angekommen sind.
Das Haus wirkt, inmitten der tristen Blocks, wie ein Fremdkörper. Wie ein Überbleibsel aus einer anderen Epoche. Die Fassade ist in einem warmen gelb gestrichen und das Spitzdach decken rote Tonziegeln, die dank einer offenbar schlechten Isolierung nicht vom Schnee bedeckt bleiben. An den Fenstern hängen unterschiedliche Gardinen und im Garten stehen Schuhe. Mindestens fünfzehn Paar. Ordentlich sortiert.
Kiki folgt Henrys erstauntem Blick und lacht. „Elena sagt, wenn man Träume einlädt, muss man ihnen auch ein warmes, trockenen Plätzchen zum ausruhen anbieten.“
Sie zuckt mit den Schultern und ein wissendes Lächeln umspielt ihre Lippen. Sie sagt die Wahrheit oder glaubt zumindest, dass sie das tut.
„Elena sagt, die Menschen sind zu ignorant zum Träumen, deswegen schwirren so viele heimatlose Träume durch die Welt, die nur einen Platz suchen an dem sie sich niederlassen können. Und den bietet sie ihnen. Elena hat genug Träume um ein Fußballstadion zu füllen, sagt sie, und das nur, weil niemand sonst sie haben will.“
„Träume sind Luftblasen, das sage ich dir. Wenn man sie festhalten will platzen sie. Was übrig bleibt, sind nur feuchte Flecken auf dem Laken.“
„Dann hast du einfach zu fest zugedrückt“, erwidert sie bockig und verschränkt die Arme vor der Brust.
Henry steckt sich eine Marlboro an und schluckt den Rauch mit einer bitteren Träne hinunter. Vielleicht hat er das. Vielleicht hat er sie erdrückt. Er starrt auf eines der Schuhpaare, das direkt vor seinen Füßen steht. Dunkelbraune Wanderschuhe, ähnlich denen, die er selbst trägt.
„Tut mir leid“, sagt Kiki, geht einen Schritt auf ihn zu und bleibt so dicht vor ihm stehen, dass sie den Zigarettenrauch einatmen muss. Sie hebt die Hand, als wolle sie seine ergreifen und Henry zuckt unwillkürlich zurück.
Er schnippt die Kippe über den niedrigen Jägerzaun und sie versinkt im Schnee. Die spärliche Rauchfahne wird von einem verärgerten Windstoß fortgerissen.
„Ich werde sie finden.“
Sie betreten das Häuschen ohne anzuklopfen. Kiki benimmt sich, als sei sie selbst hier zu Hause. Sie geht zielstrebig in die Küche und stellt ihren Korb auf dem kleinen weißen Küchentisch ab.
Die Arbeitsplatte ist schmutzig und neben der Spüle stapelt sich Geschirr. Auf dem Fußboden kleben Saft oder Kaffeereste. Henrys Sohlen machen schmatzende Geräusche beim Gehen. In den Fensternischen haben sich Stockflecken gebildet und auf den Scheiben hängt ein gelblicher Schleier. Kiki scheint das alles nicht zu bemerken, oder hat sich daran gewöhnt.
„Setz dich.“, sagt sie, während sie ihre Jacke und Handschuhe auf die Eckbank wirft. „Ich werde mal Elena suchen.“
Das Haus kann höchstens vier Zimmer haben bei der Größe. „Weit kann sie ja nicht sein.“, erwidert Henry und zuckt mit den Schultern.
„Man soll sich nicht von dem Vordergründigen täuschen lassen, sagt Elena immer.“ Kiki zwinkert verschwörerisch und lässt Henry einfach stehen.
Er setzt sich auf einen der weißen Plastikstühle. Er ist unendlich müde. Es ist warm im Zimmer. Die Luft riecht abgestanden und lässt sich nur widerwillig einatmen. Irgendwo brummt ein Heizkessel. Der Wasserhahn tropft sporadisch. Träge löst sich ein Wassertropfen aus dem Ausguss, klebt noch einen Sekundenbruchteil daran fest, wird in die Länge gezogen, macht sich frei und steigt, sich schimmernd um die eigene Achse drehend, in den angerosteten Hahn. Klack. Henry reibt sich über das Gesicht und kneift die Augen zusammen.
Die Fensterläden traktieren die Hauswand. Ein Wunder, dass das verwitterte Holz dem Zerren und Schlagen standhält. Es hat aufgehört zu schneien. Doch der Wind treibt den losen Pulverschnee vor sich her, scheucht und jagt ihn, bis er sich stoisch in Nischen und Fugen festklammert. Dann wird es still. Von einem Wassertropfen auf den anderen legt sich der Sturm. Das Holz vor den Fenstern ächzt dankbar auf. Die Sonne bricht durch die bauschigen Schneewolken und gibt dem sterilen Weiß einen Hauch von Lebendigkeit. Henry sehnt sich danach, sich in eins der frisch aufgeschüttelten Schneebetten zu kuscheln und die Decke über den Kopf zu ziehen.
Weiß kann so viele Nuancen haben. Wände, altweiß verputzt, an einigen Stellen von dunklen Kratzern unterbrochen und brüchig an den Ecken. Bettwäsche von diesem traurigen Weiß, das Baumwolle bekommt, wenn sie jahrelang in Schränken aufbewahrt wird. Das trostloseste Weiß in diesem durchfurchten Gesicht. Haut, die mehr preis gibt, als sie verdeckt und nur noch darauf wartet, endlich zerfallen zu dürfen.
„Warum hast du ihn hierher gebracht?"
Elena kramt in der Nachttischschublade, bis sie eine Spritze und eine verpackte Kanüle hervorgezogen hat.
„Er braucht Hilfe."
„Und das ist Grund genug?"
„Für mich ist es das."
Die alte Frau köpft ein kleines Glasröhrchen und zieht die klare Flüssigkeit auf. Kiki wartet schweigend, während sie die Luft aus der Spritze drückt bis sich ein Tropfen zeigt und schwankend an der spitzen Nadel hängen bleibt.
Sie nickt. „Gut. Dann soll mir das ausreichen." Mit geübten Fingern kneift sie ihren Bauch zu einer fast transparenten Rolle zusammen und setzt sich die Injektion.
„Danke", sagte das Mädchen und küsst Elena direkt auf die steilen Falten zwischen ihren Augenbrauen.
Henry schaut auf die Küchenuhr. Der einzelne Zeiger steht still auf der sieben. Er hat gedöst, bis ihn ein rhythmisches tiefes Poltern hochschreckt. Es klingt als näherte sich eine Marschkapelle, deren Trommler den Musikern den Takt für einen Trauermarsch vorgibt. Paukenschlag – Schritt. Paukenschlag – Schritt. Das Geräusch, anfangs direkt unter seinen Füßen, kommt jetzt eine Treppe hinauf und nähert sich der Küche.
Ein Wassertropfen, der gerade auf dem Weg zum Hahn gewesen war, bleibt in der Luft hängen, schüttelt sich und fällt, wie in Zeitlupe, zurück in den Abfluss.
Die Frau muss an die 70 Jahre alt sein. Möglicherweise auch 100. Schwer zu sagen. Ihr Körper ist ausgemergelt, das altmodische lange Kleid schlackert um ihre Gliedmaßen. Sie hinkt und stützt sich auf eine Krücke. Umständlich lässt sie sich auf einem der Plastikstühle nieder, zieht eine goldene Tabaksdose und eine Holzpfeife aus der großen Schürzentasche des Kleides hervor und beginnt sie akribisch zu stopfen.
Sie entzündet ein Streichholz und hält die kleine Flamme an die Pfeife. Nach einigen Zügen überdeckt ein süßliches Aroma den muffigen Geruch. Ein trüber Schleier liegt über der Iris ihrer Augen und erklärt ihre fahrigen Bewegungen.
Kiki steht hinter Elena. Ihre Hände ruhen heimisch auf deren knochigen Schultern.
„Du suchst also jemanden?“, fragt die alte Frau mit einer Stimme, die noch älter zu sein scheint als ihr Körper. Spröde und rostig.
Henry nickt nur. Er will sehen, ob sie ihr Augenlicht ganz verloren oder nur teilweise eingebüßt hat.
„Du hältst dich für ein ganz schlaues Bürschchen, was?“ Ihr rechter Arm schnellt, wie eine Kobra, nach vorn und ihre Fingernägel verbeißen sich in seiner Hand, die locker auf dem Tisch liegt. Ihre dämmrigen Pupillen fixieren seinen Blick und sie sieht ihm nicht in die Augen, sondern dahinter. Nach einigen Sekunden gibt sie ihn frei. Sie lehnt sich ächzend zurück, zieht ihren breiten Schal fester um die Schultern und tätschelt Kikis Hand.
„Ich kann ihm nicht helfen.“
Henry schnauft verächtlich und lässt den Deckel seines Sturmfeuerzeugs auf und zu klicken.
„Elena, bitte.“ Kiki knetet vorsichtig das alte Fleisch auf den brüchigen Knochen. Elena entspannt sich sichtlich und pafft einige Rauchkringel in die abwartende Stille.
„Schon viele sind dem Wanderer begegnet, aber nur wenige können von ihm berichten.“ Die Alte schlägt ihre Krücke an ihr rechtes Bein. Kunststoff auf Kunststoff. Ein seelenloses Geräusch. Ein leichtes Kribbeln kriecht über Henrys Nacken und er spannt seine Muskeln an. „Du kannst ihn nicht finden. Er findet dich, wenn es an der Zeit ist.“ Sie klopft ihre erloschene Pfeife auf den Tisch. „Wenn du Antworten suchst - wenn du sie wirklich suchst -, dann fang an, in dir selbst zu suchen.“
Der Kater schießt fauchend an ihm vorbei und rast die Treppe hinunter. Henry schließt die Eingangstür und atmet die bleierne Trostlosigkeit, die sich meist in verlassene Wohnungen breit macht, und die sich auf seine Schultern stützt, wie ein alter Freund.
Er geht ins Schlafzimmer und nimmt das kleine Foto an sich. Er streicht über ihr mahagonifarbenes Haar, schließt die Augen und drückt das Bild an seine Nase. Sommer. Nackte Füße die kaum das Gras berühren. Knallrote Sandalen in der Hand. Julilachen. „Siehst du. Siehst du, ich hab’s geschafft!“ Ihre Arme um seinen Hals und Brombeerlippen.
Er öffnet den Schrank, lässt die Hände über ihre Kleider wehen. Sie bauschen sich auf. Füllen sich mit rosigem Fleisch. Mit warmem Atem. Mit Blut. Herzschlag.
Jessica in dem blassroten Kleid, das gerade bis zu ihren Knien reicht. Er mag es, wenn sie Kleider trägt. Mag es, wie sich der Saum an der Haut ihrer Schenkel reibt, sie umstreift, sich zurückzieht und wieder berührt.
Sie hält ihm den Brief hin und ihre Augen leuchten mit der Sonne um die Wette.
„Ich hab es geschafft! Sie haben mich angenommen. Ich kann es noch gar nicht glauben.“
Sie wartet darauf, dass er den Brief liest und er vergräbt seine Hände nur tiefer in den Taschen seiner Jeans.
„Hey Papa-Bär, guck nicht so grimmig. Ich bin doch nicht aus der Welt und ich komme jedes Wochenende zurück in unsere Höhle. Du machst uns ein Feuer an und wir sind wir. So wie immer.“
Sie würde kommen. Erst jedes Wochenende, dann jedes zweite und irgendwann… Henrys Lippen kräuseln sich, versteifen sich und schließlich schafft er es, ihnen ein Lächeln abzuzwingen. „Ja, wir werden immer wir sein.“
Er nimmt den Brief in die Hand und richtet seine Blicke auf die verschwimmenden Buchstaben.
„Das ist toll, Jess. Ich freu mich für dich.“
„Das sagst du nur so.“
„Doch, ich freu mich wirklich.“
Die Sonne beißt ihm in den Nacken und er reibt sich über seine spannende Haut. Und er schwitzt. Er schwitzt und er hasst den Sommer. Nicht prinzipiell. Aber diesen hasst er von Sekunde an, voller Überzeugung und mit Erfolg.
Sein Gesicht in luftigem Stoff versenkt. Er nimmt das Kleid aus dem Schrank und packt es mit ein paar persönlichen Sachen in eine kleine Reisetasche. Er macht das Bett und löscht das Licht.
„Hey, Kiki, was hast du denn gemacht.“ Er geht in die Hocke und nimmt dem Mädchen das Messer aus der Hand. Blut? An ihren Kleidern, den Händen, dem rostfreien Stahl. Sie sitzt vor der Theke des kleinen Pubs. Den Rücken an die Holzvertäfelung gelehnt, die Beine von sich gestreckt.
Der kleine Körper wiegt fast nichts, als er ihn nach oben ins Badezimmer trägt. Er dreht das Wasser auf, streift ihr vorsichtig die fleckigen Kleider ab und lässt sie in die Badewanne sinken.
Sie zieht die Beine an, umschlingt ihre Schienbeine und legte den Kopf auf die Knie. Vereinzelte Haarsträhnen treiben auf der Wasseroberfläche und bilden eine surreale Gischtkrone um die Klippen ihres Körpers.
Sie summt. Sie hat eine schöne Stimme. Ein wenig rauchig. Wie ein Sommermorgen in den Bergen. Und man weiß, wenn der Nebel sich erst verzogen hat, wartet ein klarer Tag.
Henry taucht den Schwamm in das heiße Wasser und benetzt ihre Schultern, lässt ihr das Wasser über den Rücken rinnen.
Vorsichtig fährt er mit dem Finger über ihre Schulterblätter, über die beiden zwanzig Zentimeter langen Narben, die sich parallel über jedes ziehen. Sie sind schon alt und verblasst. Außer ein paar harmlosen Schnitten auf ihren Armen, sind keine frischen Wunden zu finden.
„Was ist passiert?“, fragt er. Leise nur, er will sie nicht erschrecken.
„Wusstest du, dass Blut sich seiner Umgebung anpasst? Nachts ist es schwarz und seidig, versteckt sich in den Schatten, wie ein Chamäleon und es fließt ganz langsam. Tagsüber aber, da ist es hellrot und schnell, wie ein begradigter Bachlauf, als wollte es sagen: seht her ich lebe.“
Sie fängt wieder an, die kleine Melodie zu summen. Und Henry betrachtet ihre Narben. Gleichmäßig sind sie, fast wie Eineiige Zwillinge. Und sie passen sich an ihren Körper an, als gehörten sie von jeher zu einander. Als sei das Eine ohne das Andere nicht denkbar.
„Wo ist dein Onkel?“
„Wer?“
„Herb, dein Onkel.“
„Er schläft sicher. War heute schon ziemlich früh besoffen.“
Henry wäscht ihre Haare. Sie sind strähnig und verklebt.
„Warum lebst du eigentlich bei deinem Onkel? Was ist mit deinen Eltern?“
„Ich brauch keine.“ Sie betrachtet ihre Zehen. Die Nägel sind zu lang.
„Aber du hast doch welche. Jeder hat Eltern.“
„Ich hab Elena.“
„Aber sie hat dich nicht geboren.“
„Doch, das hat sie.“ Ihre Nackenmuskeln spannen sich an und sie zieht die Schultern hoch. Schüttelt seine Hände ab. „Das verstehst du nicht.“
Sie steigt aus der Wanne und er wickelt sie in ein riesiges Badetuch. Trocknet ihre Haare und kämmt sie. Sie lässt es emotionslos über sich ergehen. Dann bringt er sie ins Bett. Sie drückt ihr Gesicht an seinen Unterarm, gähnt und zieht die Decke bis zum Kinn hoch, auch über seine Hand, die er auf die Bettkante stützt, und schläft ein.
Henry geht die knarzenden Stufen hinunter und folgt den dunklen Spuren bis in die Küche. Die Bodenfliesen sind blutig und auch an den Schränken sind dunkelrote Spritzer. Sonst nichts.
Er holt seine Jacke.
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