#1

Forscherdrang

in Gesellschaft 21.02.2005 16:06
von Richard III | 868 Beiträge | 871 Punkte
Ich bin schon erschlagen vor nächtlicher Weite.
Ich kann kaum ertragen des Zeitmessers Schritt.
Ich kann dir kaum sagen, welch Längen ich reite.
Ich will es doch wagen, doch komm ich kaum mit.

Das endlose Fließen der wechselnden Zeiten:
Es will mich verdrießen, es treibt mich in Wahn;
Ich möchte erschießen, die immer Gescheiten:
Wenn sie mich nur ließen, wär` Zeit nicht vertan!

So blättert die Hand wohl noch immer die Seiten:
Gefangen im Ablauf, in Schranken gezwängt.
Ich wettere heimlich wohl gegen das Leiten
und wünschte Begehren wär mir nie geschenkt:

Ich würde in tödlicher Ruhe mich betten
und hoffen aufs Ende in dunkeler Nacht;
Ich würde zu staubigen Büchern mich retten-
Ich hör schon den Teufel, wie er boshaft lacht.

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#2

Forscherdrang

in Gesellschaft 21.02.2005 21:33
von MrsMerian (gelöscht)
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Hi Richi.

Auf den ersten Blick fällt mir das auf:

Ich
ich
ich ich
ich ich

-
mich mich
ich
mich

-
-
Ich
mir

Ich mich
-
ich mich
ich

***

Strophe 2 und 4 gehen ja, aber nach dem krassen Einstieg in 1, bin ich schon hypersensibel.
Das ich-Konzentrat ist ziemlich übel. Jedenfalls auf den ersten Augenblick.

Zeile 1 und 2 erschließen sich mir:
Es ist spät und das lyr. Ich ist müde (erschlagen)
Das Voranschreiten der Zeit scheint ihm (dem lyr. ich) unerträglich.

Weiter komm ich nicht so richtig... das lyr. ich scheint von Gedanken gequält zu werden (geritten - es gibt doch so eine Phrase "was hat den denn geritten?"...)
Es will das lyr. Du an den rasenden Gedanken teilhaben lassen, kann aber selbst kaum deren Gecshwindikeit folgen, die Gedanken scheinen autonom zu sein und es "rennt" ihnen nach und kann sie kaum erfassen.

Das verstreichen der zeit, den guten und den schlechten Zeiten (wechselnde Zeiten) scheint das lyr. ich wahnsinnig zu machen.
Gleichzeitig ist es wütend auf die "immergecsheiten", wohl die, die immer alles vorher schon wussten, es hätten gleich sagen können und immer das letzte Wort haben. Das lyr. Ich scheint sich ein wenig Leid zu tun... da passen auch die vielen ich und mich und mir dazu... hier jedenfalls fühlt es sich als der/die vom bösen Leben verarschte auf der/ dem die immer Gescheiten ihr Tänzchen aufführen und mit dem Finger zeigen. Es hasst sie dafür, aber er hat keine Erlaubnis von ihnen...

In dieser Strophe gefällt mir nicht: es treibt mich in Wahn. --> das Wahn braucht doch einen Artikel?
Wie wäre es mit: es will mich verdrießen, treibt mich in den Wahn?

Die Hand ist Knecht des Gehirns und blättert Seiten? Aus Gewohnheit (Ablauf) und innerhalb begrebzter Möglichkeiten (Schranken). Das lyr. Ich vergleicht sich mit der Hand und heimlich regt es sich auf über die begrenzten Möglichkeiten und die Schranken, die Bestimmung die ihm widerfährt; das Begehren (nach Freiheit) ist quälend, deshalb wünschte es dies nie gehabt zu haben.

Dann würde es sich weniger aufregen müssen, sein Ende erdulden, während es ihm noch schlechter ginge (?) (dunklerer Nacht) / die Lage noch hoffnungsloser wäre.
Es würde sich staubigen (= ungenutzten Büchern) zuwenden (vgl. Hand --> die Grenzen überwunden? wg. der alten Bücher?)
Ich komme mit der letzte Strophe noch nicht ganz klar, bin aber sicher, dass das nicht an Dir liegt, Richi.
Vielleicht melde ich mich noch Mal dazu.

Danke, bisher wei es zu gefallen.
LG,
Mrs.

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#3

Forscherdrang

in Gesellschaft 21.02.2005 21:43
von Richard III | 868 Beiträge | 871 Punkte
Erst einmal danke ich natürlich wieder sehr für die Analyse, die mir doch immer sehr hilft, meine eigenen Sachen zu verstehen und zu sehen, wie meine Worte ankommen.

Generell kommt deine Interpretation meiner Intention schon nahe, nur hast du den Titel nicht mit einbezogen, der hier doch das Geschehen betiteln soll!
Das sich immer wiederholende "Ich" muß hier sein. Ichbezogenheit, eine Spur Narzismus ist hier vorhanden.
Der Protagonist hadert mit sich. Ich wollte das hier eigentlich "Fanatiker" nennen, fand das aber doch etwas unpassend.

Beste Grüße Richard

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#4

Forscherdrang

in Gesellschaft 21.02.2005 22:19
von Wilhelm Pfusch • Administrator | 2.006 Beiträge | 2043 Punkte
Ja das lyrische Ich hadert mit sich selbst. Ich habe da jemanden im Kopf der an seinem Schreibtisch sitzt und bei düst'rem Kerzenlicht die Gedanken grosser Meister studiert.

Der Mangel an Konzentration des lyrischen Ich's ist offenkundig. Der Wille ist noch da, aber es seiht sich selbst dabei zu wie es Seite um Seite umblättert aber nichts (mehr) versteht. Das sind diese Längen, die in Momenten enden in denen man aufwacht und sich fragt: Was habe ich da eigentlich gelesen ?
Ich will es doch wagen, doch komm ich kaum mit.
Das lyr. Ich will, aber packt es nicht, ganz deutlich und unverschlüsselt.
Der Wechsel der Zeiten ist für mich ein Wechsel von Perioden der Konzentrationslosigkeit und solchen des Verstehens.
Diese zwanghafte Verstehenwollen hat einen absolut obsessiven Charakter.
Dann wünscht sich das lyrische Ich, von diesem Zwang befreit zu werden, aber nur heimlich, und blättert weiter.

In Strophe 4 (Ich hoffe man konnte einigermaßen nachvollziehen wo ich war)
mündet der Wunsch nach Befreiung in den Wunsch zu sterben.
Hier erkennt das lyrische Ich, dass der Wahnsinn sich durchgerungen hat. Es spricht noch vom letzten Ausweg, als es schon den teufel, den Wahnsinn, lachen hört.
Die Schlüsselzeile ist für mich diese:
Ich würde zu staubigen Büchern mich retten-
Zuerst konnte ich mit diesem Vers nichts anfangen, doch dann ging mir auf, dass die staubigen Bücher ein Hinweis auf tote Gedanken, vor allem aber auf tote Meister sind, und auch ein möglicher Hinweis darauf, dass das lyrische Ich vergehen will, lieber verstauben und vergessen sein will, anstatt durch seinen Wahnsinn Unheil zu stiften.

Ich hoffe du konntest etwas damit anfangen Ein kleiner formaler Hinweis: Ich habe es laut gelesen und stocke im letzten Vers am "wie er boshaft lacht" Ich glaube es ist absicht wegen der deutlichen Betonung auf "ER" im Gegenzug zu all den Ich's.

Gefällt mir ausgesprochen gut, vor allem das Er-Ich-Gimmmick
Ich muss eined üstere Szenerie denken, obwohl sie mit keinem Wort beschrieben wird, an Wahn, Verzweiflung, Kerzenlicht, eine staubige, einsame Bibliothek...

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#5

Forscherdrang

in Gesellschaft 22.02.2005 15:07
von muh-q wahn (gelöscht)
avatar
Ich finde es einerseits sehr schön, wie spannend und aufregend der Worttümpel für dich ist, andererseits solltest du auf die Nebenwirkungen achten !

Ich bin schon erschlagen vor nächtlicher Weite.
Ich kann kaum ertragen des Zeitmessers Schritt.

Wurde zutreffend interpretiert.
Ich kann dir kaum sagen, welch Längen ich reite.
In meinem Kopf sprudeln die Assoziationen und gehen schon eindeutig zu weit.
Ich will es doch wagen, doch komm ich kaum mit.
Der Anonymität sei Dank werde ich es dennoch sagen, gesetzt den Fall, ich kann meinen eigenen Gedanken überhaupt noch folgen. Alles dreht sich, alles bewegt sich ...

Das endlose Fließen der wechselnden Zeiten:
Immer kommen neue Gedanken hoch. Die wechselnden Zeitläufte haben unterschiedlichste Verse zur Folge. Kaum prüft man einen intensiver, schon ist der nächste da.
Es will mich verdrießen, es treibt mich in Wahn;
Ist ja eindeutig in dem Zusammenhang, Genie und Wahnsinn ...
Ich möchte erschießen, die immer Gescheiten:
Oh, wie ich sie hasse, diese Kritiker ! Keinen eigenen Gedanken kann man in Ruhe ausspinnen, schon hat irgendein Naseweis einen voreiligen Kommentar gepostet.
Wenn sie mich nur ließen, wär` Zeit nicht vertan!
Wenn die nicht beckmesserten, sondern mitfühlten, dann wäre es nicht vergebens.

So blättert die Hand wohl noch immer die Seiten:
Gutes Gedicht braucht gute Recherche.
Gefangen im Ablauf, in Schranken gezwängt.
Wer versteht das nicht ?
Ich wettere heimlich wohl gegen das Leiten
Soll wohl die Leitung sein, Anleitung, formale Richtlinien für Gedichte.
und wünschte Begehren wär mir nie geschenkt:
Wenn ich doch nur nicht so verzweifelt gerne Dichter sein wollte !

Ich würde in tödlicher Ruhe mich betten
Stress wäre beendet aber Lebensinhalt auch - tödliche Ruhe eben.
und hoffen aufs Ende in dunkeler Nacht;
Dann wäre Tod ein erstrebenswertes Ziel (hier übertreibt der Dichter natürlich )
Ich würde zu staubigen Büchern mich retten-
Auf Altbewährtes und irgendwo auch Langweiliges zurückgreifen.
Ich hör schon den Teufel, wie er boshaft lacht.
Entweder, weil er es geschafft hat oder aber weiß, dass ich das ohnhein nicht durchhalte.

Ich hoffe, du nimmst mir das nicht übel, Richard ! Vermutlich ist nicht der Worttümpel gemeint , sondern ganz allgemein die Dichterei oder irgend ein Studium. Der Titel spricht für letzteres und der Text lässt mich auf das Studium der Geschichte und die Sinnfrage danach schließen: Wo komme ich darin vor, was hat das mit mir zu tun ? Wenn die Menschheit doch beständig ihre Fehler wiederholt, was soll das dann ? Der Teufel lacht sich ins Fäustchen !

Bis auf ein paar Schönheitsfehler ...

S1Z4 doch ... doch
S2Z2 treibt mich in Wahn
S2Z3+4 wenn sie sich doch nur erschießen ließen ????
S3Z1+3 wohl ... wohl
S4Z2 dunkeler (dem Versmaß geschuldet)
S4Z4 Betonung auf er anstatt auf boshaft

... flott und ansprechend geschrieben. Unterhaltsam. Nicht mehr, nicht weniger. Gefällt mir daher.

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#6

Forscherdrang

in Gesellschaft 26.02.2005 20:06
von Richard III | 868 Beiträge | 871 Punkte
Lieber Will,

deine Interpretation ist wahrlich klasse! Das wäre wirklich möglich. Auch so kann man das sehen. Es ist immer wieder schön, dass man so verschiedentlich interpretieren kann und spannend!
Den Teufel als Wahnsinn zu übersetzen ist gar nicht so schlecht und da hast du mit Ich und Er auch richtig gelegen. Das Ich, dass der Protagonist nur sieht und dabei nicht oder erst zu spät erkennt, dass er fremdgesteuert ist, nämlich Opfer seines Begehrens ist oder seines Wahnsinns, vielleicht auch seines Fanatismus. Er/Sie kann nicht aufhören.
Hab Dank dafür!

Lieber Muh,

Dank auch Dir für diese humoristische Übersetzung.

Zitat:

Ich kann dir kaum sagen, welch Längen ich reite.
In meinem Kopf sprudeln die Assoziationen und gehen schon eindeutig zu weit.
Ich will es doch wagen, doch komm ich kaum mit.
Der Anonymität sei Dank werde ich es dennoch sagen, gesetzt den Fall, ich kann meinen eigenen Gedanken überhaupt noch folgen. Alles dreht sich, alles bewegt sich ...


Ich darf doch sehr bitten....

Und du hast wohl richtig recherchiert: Es geht um das Studium der Geschichte und den verzweifelten Wunsch das Puzzle zu kompletieren, die Rätsel zu lösen und sich dabei immer wieder die Frage zu stellen: Wozu?
Und das Begehren weiterzumachen bestimmt das lyrische Ich so sehr, dass es nicht mehr die freiwillige Entscheidung ist. Der Teufel weiß genau, dass er weitermachen wird, so sehr er sich auch Ruhe wünscht, so wäre die Ruhe doch der Tod.
Hier sind nicht direkt die Kritiker gemeint, sonden jene, die sich erdreisten, soviel mehr zu wissen als das lyrische Ich. Das lyrische Ich glaubt, würde er Diese vernichten, gäbe es keinen Grund mehr weiter zu machen.

Kein sehr symphatisches lyrisches Ich, was?

Vielen Dank für die guten Kritiken. Sie haben mich ein wenig mehr sehen lassen.

Richard

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