#1

Sie

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 24.02.2005 17:48
von olaja (gelöscht)
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Sie

"Nein", hallte es durch ihren Kopf. Heute gibt es kein Zurück mehr, aber eine Gegenwart, die greifbar ist. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, blickte in den kalten Spiegel und wusste, alles müsse nun ein Ende haben. Sie schritt in ihrer Wohnung im Kreis umher. Dumpfer Lärm der Strasse war zu hören. Er drang in ihr Gehör ein. Ihre Muskeln zogen sich krampfhaft zusammen. Ihr Kopf pochte. Sie blickte hinüber zu ihrem Nachttisch. Dort stand noch eine Schachtel Aspirin, neben dutzenden anderen Medikamentenbehältern.
So sieht ein Leben aus. Mit chemischen Mitteln einen Schmerz bekämpfen und die Ursachen dabei ganz vergessen. Gefühle werden lieber verdrängt, als angepackt und wachgerüttelt. Trotzdem sieht man mit aller Sehnsucht auf das, was einmal war. Früher war nicht alles besser.
"Ich muss hier weg." Mit schnellen, aber insgeheim unsicheren Schritten lief sie zur Wohnungstür, schloss ab und stieg das Treppenhaus hinab. "Vielleicht", dachte sie bei sich, "wäre es einfacher, wenn jeder den Schlüssel zu sich selbst besässe."
Sie war froh, endlich an der frischen Luft zu sein. Der Schmerz liess bei jedem tiefen Atemzug mehr nach. Er wandte sich langsam von ihr ab. An der Kreuzung bat ein Bettler um Kleingeld. In ihrer Tasche kramte sie ein paar Münzen zusammen und warf sie in seinen Hut. Sie sah dem Fall des Geldes starr nach. Ihr Blick weilte noch eine Weile über dem Geld und richtete sich dann auf zum Gesicht des Bittenden. Er lächelte sie dankbar an. Seine ungepflegten Zähne strahlten.
Alles ist scheinbar. Man vertraut auf den guten Geist, wünscht sich, er würde sich etwas zu Essen kaufen und dabei ein Stück besseres Leben fühlen. Er roch nach abgestandenem Alkohol und Zigarettenqualm. Tatsachen verfallen den Wunschträumen nie. Selbst wenn der sanfte Kuss beider Welten manchmal spürbar ist, zumindest auf der Handfläche des Idealisten. Sie war verwirrt und schritt davon.
Am Bahnhof angelangt, sah sie sich die Abfahrtszeiten der Züge an. Die grosse Masse Mensch bewegte sich um sie herum. Offensichtlich, für die anderen fragte sie sich: Wohin? "Meine Mimik beruhigt die Menschen um mich herum", dachte sie. Es war ihr Konzept, ein lang erarbeitetes, das sich aber eigentlich nur so ergeben hatte. Ein Schutz gegen aussen.
Es ist wie mit dem Fleck auf einer Jacke: Man hat das Gefühl jeder würde ihn anstarren, aber wer tut es tatsächlich? Es ruhte ein grosser Fleck in ihrem Leben.
Er frisst dich auf. Vom Gehörgang bahnt er sich seinen Weg, Zentimeter um Zentimeter, in dein Gehirn. Er verseucht deine Gedanken und Erinnerungen. Dein Herz treibt diesen Parasiten weiter voran. Selbst dein Blut riecht nach faulem Gestank. Über deine Blutbahnen wird er in jede deiner Zellen transportiert. Er greift dich an. Du aber stirbst an deiner Angst.
Kreidebleich und mit zitternden Händen stand sie da. Ihr Herz raste. Sie glaubte, ihn zu hören. "Er sieht mich."
Eiserner Bahnhofsstaub lag in der Luft. Ein lautes Gewirr von Stimmen. Die rädernden Bremsen der Züge. In einen stieg sie ein. Der Zielort war ihr schon lange präsent gewesen. Bereits heute Morgen beim Wachwerden war er in ihrem Hinterkopf. Erst aber, als sie ihre Haustüre geschlossen hatte, wusste sie, dass er nun fassbar sein musste.
Ein Herr mittleren Alters sass ihr gegenüber. Er sah aus dem Fenster und dachte nach. Ihr schien es, als hätte er Tränen in den Augen. So wie sie, heute und auch gestern, vorgestern, immer schon. Vielleicht täuschte sie sich auch nur. Nur zu gern hätte sie sich auf eine Konversation eingelassen. Gemeinsam reden und Wörter endlich aussprechen, nicht nur ständig denken. Es ist schwer, an einem Punkt zu beginnen, den Anfang zu finden und zu überwinden. Sie genügte, aus ihrer Sicht, den Ansprüchen nicht.

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#2

Sie

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 27.02.2005 14:59
von MrsMerian (gelöscht)
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Hallo Olaja.

Ein starker Text, den Du hier geschrieben hast.
Vorallem das Gefühl Deiner/s Protagonistin/en ist sehr schön dargstellt, der Fleck den jeder anstarrt und jeder sieht ist ein sehr passender Vergleich. Die Projektion auf den Hern mittleren Alters, die Flucht vor sich selbst und der Verangenheit, die im Dunkeln zu liegen scheint, weil der/ die Prota. kein Licht rein lässt und sich davor fürchtet, was er/sie sehen wird.


Zitat:

Ihre Mimik beruhigt die Menschen um sie herum, dachte sie.



wenn sie denkt, muss es dann nicht "um mich herum" heißen?


Zitat:

Erst aber, als sie ihre Haustüre schloss, wusste sie, dass er nun fassbar sein musste.



muss es nicht heißen "geschlosen hatte" weil es sich um eine Rückblende handelt?

Vielleicht würde der Text noch eindrucksvoller und eindringlicher werden, wenn Du im ersten Abschnitt weniger andeutest.
Aber auch so gefällt er mir gut.

LG
Mrs.

*edit* habe gerade gesehen, dass es eine Protagonistin ist, sry. Ich wollte nicht pauschal eine Frau annehmen. Das passiert mir sowieso zu oft: Die Bösen sind die Kerle, die Opfer die Frauen.

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#3

Sie

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 01.03.2005 20:07
von olaja (gelöscht)
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Ersteinmal vielen Dank, dass du dich mit dem Text auseinander gesetzt hast. Es freut mich, wenn er dir gefällt.

Was würdest im ersten Abschnitt noch nicht erwähnen?
Ich fand auch, dass der Anfang doch fesselnd war, aber war mir nicht sicher, ob zum Schluss hin Langweile beim Leser eintritt. Eventuell schreibe ich eine (oder mehrere) Fortsetzungen noch von der Geschichte.



Zitat:

MrsMerian schrieb am 27.02.2005 14:59 Uhr:


Zitat:

Ihre Mimik beruhigt die Menschen um sie herum, dachte sie.



wenn sie denkt, muss es dann nicht "um mich herum" heißen?



Hm, wäre denkbar. Allerdings müsste er dann lauten: "Meine Mimik beruhigt die Menschen um mich herum", dachte sie. Klingt wirklich besser. Werde ich übernehmen.



Zitat:

MrsMerian schrieb am 27.02.2005 14:59 Uhr:

Zitat:

Erst aber, als sie ihre Haustüre schloss, wusste sie, dass er nun fassbar sein musste.




muss es nicht heißen "geschlosen hatte" weil es sich um eine Rückblende handelt?




Ja, du hast recht. Danke. Oftmals denke ich nicht daran, Plusquamperfekt zu setzen. Vielleicht rührt das auch vom mündlichen Sprachgebrauch her oder vom Dialekt (wir grenzen Zeiten nicht so stark voneinander ab).


Lieba Gruess,
olaja

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#4

Sie

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 10.03.2005 19:32
von sEweil (gelöscht)
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Hallo Olaja.

Hach, es fällt immer so schwer, wenn mrs schon so detailiert etwas schreibt, weil es dann meist nicht mehr viel zu sagen gibt.
(Was sie auch künftig weiter so pflegen soll )

,eine Gegenwart, die greifbar ist.
Das gefällt mir insofern, weil die Phrase lauten sollte: Eine Zukunft, die greifbar ist. So kenne ich sie zumindest.
Für mich hört sich das wie ein Wunsch an, der nicht zu erfüllen ist, weil die Gegenwart schon da ist.
Anders könnte man es natürlich auch sehen, dass die Gegenwart nicht zeitlich, sondern Symbolisch gemeint ist. Dann wäre natürlich auch alles klar.

Früher war alles besser. Nicht für sie.

da gefällt mir das "Nicht für sie." nicht. Eine Andeutung in diese Richtung hätte mir mehr gefallen.
vielleicht: "so sagte man ihr." oder keine Ahnung.

Die Schlussszene gefällt mir besonders an der Geschichte, dieses Gegenübersitzen mit dem alten Mann und die Gedanken dabei. Aus dem Leben gegriffen.
Was mir unklar ist: Das wusste sie nicht nur, sondern glaubte es.
Wenn man etwas weiß, wieso muss man dann daran glauben? das versteh ich nicht ganz. Für mich würde es mehr Sinn ergeben wenn du geschrieben hättest: Das glaubte sie nicht nur, sondern wusste es.
Klär mich bitte auf.

Beim Schlusssatz würde ich das "nicht" an die letzte Stelle rücken.

Spät aber doch noch.

Lg sEweil.

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#5

Sie

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 12.03.2005 13:14
von olaja (gelöscht)
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Hi sEweil,

Danke für deinen Kommentar.

Ich werde mir eine Alternative für "Früher war alles besser. Nicht für sie." einfallen lassen. Beim Schlusssatz werde ich das "nicht" ebenfalls an die letzte Stelle rücken, so klingt es wirklich besser.

Wegen dem "das wusste sie nicht nur, sondern glaubte es":
Sie wusste nicht nur, dass es vorhanden ist, sondern war grundfest in ihrem Innern davon überzeugt, völlig besessen und richtete sich danach.
Ich hoffe, dadurch wird es für dich verständlicher.

Lieben Gruss,
olaja

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#6

Sie

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 15.03.2005 18:02
von sEweil (gelöscht)
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Grüß dich.

Ja, es ist nun schon verständlicher, aber es gefällt mir dennoch nicht ganz. Vielleicht nagt auch dieses Sprüchlein: "Glauben heisst, nichts wissen." an mir, das man mir immer eintrichterte. *g*

Für mich ist glauben weniger als überzeugt davon sein, oder sogar besessen sein.

Vielleicht sowas wie: Das wusste sie, nein, sie war davon überzeugt.

oder etwas schwächer:Davon war sie überzeugt.
anyway.

Lg sEweil.

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#7

Sie

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 17.03.2005 21:03
von MrsMerian (gelöscht)
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Hi ola.
Ich hab es endlich noch Mal gelesen und dies sind die Stellen, die mir zu deutlich waren/ sind:


Zitat:

So sieht ein Leben aus. Mit chemischen Mitteln einen Schmerz bekämpfen und die Ursachen dabei ganz vergessen. Gefühle werden lieber verdrängt, als angepackt und wachgerüttelt. Trotzdem sieht man mit aller Sehnsucht auf das, was einmal war.



--> das ist die Transferleistung des Lesers, oder?
Ich meine, wer ernsthaft eine Geschichte liest, fragt sich doch: wer ist das, woher kommt die, wohin geht die, wo und wie lebt die? da genügt es doch kleine ausschnitte und andeutungen zu geben, ansonsten geht es mir immer so, dass ich keine lust mehr habe mir noch was vorzustellen, weil schon zu viel gesagt wurde. manchmal dinge, die ich mir anders vorgestellt hätte. vielleicht ist das falsch, aber ich bin immer so ungeduldig beim lesen.
insgesamt finde ich es etwas zu deutlich und zu viele gedanken von der prtagonistin ausformuliert.

so auch hier am Ende:

Zitat:

aus ihrer Sicht,



in der MItte bin ich nicht sicher. Ganz weglassen kann man den Abschnitt nicht, aber richtig gefallen will er mir auch nicht:

Zitat:

Es war ihr Konzept, ein lang erarbeitetes, das sich aber eigentlich nur so ergeben hatte. Ein Schutz gegen aussen.




Insgesamt sind mir noch viele Kleinigkeiten aufgefallen an denen man grammatisch schnitzen könnte.
Wenn Du möchtest schicke ich Dir den Text nach meinem Ermessen bearbeitet per Email und mit Kennzeichnung der veränderten Stellen am Wochenende, lass es mich nur wissen.

LG
Mrs.

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#8

Sie

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 20.03.2005 18:52
von olaja (gelöscht)
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Vielen Dank für eure Erläuterungen.

Ich werde mir die Sätze durch den Kopf gehen lassen. Viel weiss ich momentan nicht dazu zu sagen. Einerseits ist es eine Geschmackssache, aber trotzdem bin ich sehr daran interessiert, wie meine Sätze auf den Leser wirken. Deshalb bin ich euch sehr dankbar. Ich werde den Text bestimmt noch einmal überarbeiten.

@Mrs: Das wäre natürlich toll.

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#9

Sie

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 20.03.2005 23:02
von MrsMerian (gelöscht)
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So viele waren es nun gar nicht, wie ich gedacht hatte. Werde es sofort als Email schicken.

LG
Mrs.

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#10

Sie

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 22.03.2005 00:47
von olaja (gelöscht)
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Vielen Dank für die Mail. Das hilft mir sehr weiter. Sobald ich den Text überarbeitet habe, werde ich ihn hier aktualisieren.

Lieba Gruess,
olaja

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