#1

Übergänge

in Diverse 14.03.2005 23:44
von kein Name angegeben • ( Gast )
ÜBERGÄNGE

im spiegel
clownsnase
mit grauhaar

tief drinnen
die spätglut
einer rostroten sehnsucht

warum
dieser fremdschmerz?

lauthals
entblößt
im nachtschrei

zersungen
das altglas
des gestern

quälend
sind die häutungen

C.: Bettina M.



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#2

Übergänge

in Diverse 15.03.2005 21:02
von olaja (gelöscht)
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Im Allgemeinen mag ich moderne oder experimentelle Gedichte, wenn sie denn mit ihren Gedankengängen die Struktur in sich verinnerlicht haben und sie dann getrost links neben sich liegen lassen können. Von olaja zu Deutsch: Sie müssen mich überzeugen.

Titel: Übergänge. Hm, erinnert mich an Physik. (Jetzt kommt wieder die Anekdotenzeit olajas). Aggregatszustandsänderungen, spezifische Wärmekapazität, bla, bla etc. Ich verschone dich (und mich!) damit.
Übergänge ist ein sehr allgemeiner Begriff, ich kann mir also noch nichts konkretes darunter vorstellen.

im spiegel
clownsnase
mit grauhaar


Verbinde ich mit negativen Bildern. Eine Selbstbetrachtung, -analyse eines Clowns. Clown könnte wortwörtlich für Clown stehen oder aber für eine Person, die sich hinter einer (gut gelaunten, täuschenden) Maske versteckt. Sich öffentlich immer lächelnd, überwiegend fröhlich und ausgelassen zu zeigen hat manchmal die Absicht, das wahre Innere zu verstecken. Grauhaar kann für das Alter stehen oder eben genau für diese negativen Aspekte.

tief drinnen
die spätglut
einer rostroten sehnsucht


Eine Sehnsucht besteht, sich zu offenbaren. Ständig nur das Gute den Menschen näher zu bringen, hat oftmals negative Auswirkungen für das eigene Ich: Der Druck wiegt schwer und dadurch erkennt man seine eigenen Schwächen und seine eigene Trauer. Rostrot deutet auf eine alte Liebe hin. Rot, die Farbe der "heissen Gefühle" , rost auf eine alte Zeit. Das graue Haar aus Strophe 1 war somit zeitlich, nicht metaphorisch eingesetzt.

warum
dieser fremdschmerz?


Fremdschmerz sehe ich nicht ganz im Zusammenhang zu Strophe 2, eher zu 1. Durch das Tilgen oder Ablenken der Schmerzen von anderen, wird der eigene Schmerz umso deutlicher. Die Frage nach dem warum wird gestellt. Hier schimmert eine gewisse Hoffnungslosigkeit durch.

lauthals
entblößt
im nachtschrei


Der Schmerz lässt sich nicht länger halten, ansonsten geht man zugrunde. Er muss raus. Der Schrei ist eine Erlösung, ohne die man nicht mehr weiter wüsste. Die Nacht symbolisiert vor allem Stille, was den Schrei noch mehr hervorhebt.

zersungen
das altglas
des gestern


Zersungen würde ich auf den Schrei beziehen. Durch die Stimme wird der Trauer Ausdruck verliehen. Zersungen vielleicht insofern, als dass man diesen Schrei so ausgedehnt hat, bis die Stimmbänder sich nicht mehr hergeben wollten. Ein Gefühl bleibt, als hätte man lange gesungen. Altglas des gestern steht für das Vergangene.

quälend
sind die häutungen


Schmerzhaft sind dennoch die Erinnerungen und es ist nicht leicht, sich von ihnen los zu lösen. Sein Inneres zu zeigen ist nicht leicht. Man wird dadurch verletzlich. Trotzdem muss die Vergangenheit nach aussen, ansonsten stirbt der innere Keim ab.

Übergänge symbolisiert das Loslösen der äusseren Maske, um dem Inneren Platz zu schaffen (quasi ein Abschminken ). Ein Freiheitsschrei, der sehr schmerzhaft ist.

Strophe 5 gefällt mir übrigens von ihrem sprachlichen und metaphorischen Ausdruck am besten.

Kritik: Die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Strophen zu ziehen fällt mir nicht leicht. Das mag an mir (meiner Interpretation) oder aber an deinem Werk liegen. Teilweise gefallen mir deine kurzen, knappen Gedankenanstösse gut, andererseits kann ich wieder sehr viel und nichts daraus schöpfen. Es fällt mir sehr schwer, Kritikpunkte aufzuzählen. Nur am Ende, habe ich was in der Hand, aber trotzdem scheint es mir nicht recht greifbar. Es tut mir leid, dass ich dir das nicht besser erklären kann. Vielleicht ist es auch eine Geschmackssache.

Fazit: Einige sehr packende sprachliche Wendungen, die mir auch sehr zusagen und dann doch eine gewisse Leere (vielleicht auch die fehlenden Verbe?). Trotzdem habe ich dein Werk gerne gelesen.

Liebe Grüsse,
olaja

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#3

Übergänge

in Diverse 16.03.2005 15:58
von DOCC (gelöscht)
avatar
Hi Angel,
ich geb es ehrlich zu: ich kapiere nichts, aber Deine Bilder packen mich. Also ich sehe da eine(n) Alte(n), der sein Leben lang immer für andere da war, mal an sich denken möchte und es vielleicht verlernt hat. Punkt.
Aber wie gesagt - ich sinniere eher über Deine Bilder, als dass sich mir eine höhere Aussage erschließt.
Einziger Kritikpunkt meinerseits: manchmal doppelst Du Bilder:
z. B. die zersungenen Gläser (hier doppelst Du "alt" und "gestern") oder die Sehnsucht ("rot" und "glut"). Naja, und wenn schon konsequent, dann vielleicht richtig: lass das Fragezeichen auch noch weg - so wie der Leser jeden Aussagesatz zu ertasten hat, wird er auch die Frage als solche entdecken.
Liebe Grüße von DOCC

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#4

Übergänge

in Diverse 18.03.2005 15:53
von Don Carvalho • Mitglied | 1.880 Beiträge | 1880 Punkte
Hallo Angel of Berlin,

im Gegensatz zu olaja mag ich moderne oder experimentelle Gedichte eher selten, und noch seltener vermag ich dazu etwas zu schreiben.

Hier fühle ich mich dennoch dazu bemüßigt, auch wenn ich allenfalls noch einige Anmerkungen zu olajas Anmerkungen anbringen kann, denn Ihre Interpretation erscheint mir weitgehend schlüssig und in vielen Punkten meiner zu entsprechen... und ist doch etwas anders...


Zitat:

im spiegel
clownsnase
mit grauhaar


Auch für mich hat diese Strophe einen negativen Unterton. Zum einen mag ich keine Clowns, allerdings halte ich die Wahrscheinlichkeit, dass das lyrische Ich tatsächlich ein solcher ist für unwahrscheinlich. Es wird wohl eher die Maske sein, um die es sich dreht. Ein Clown macht immer gute Miene zum bösen Spiel - er lächelt und versucht anderen zu gefallen, gleichwie es auch in seinem Innern bestellt sein mag. Das grauhaar sehe ich eher als Metapher dafür, dass das lyrische Ich dieses "falsche" Spiel schon viel zu lange mitmacht und seine Gefühle zu lange hinter dieser Maske der Wohlgefälligkeit versteckt.


Zitat:

tief drinnen
die spätglut
einer rostroten sehnsucht


Es ist hier wohl die Sehnsucht nach Veränderung, der Wunsch, die Maske fallen zu lassen. rostrot irrtiert mich. Tatsächlich drängt es sich auf, dass es hier um eine alte Begier geht, jedoch erscheint mir dieser Verweis unnötig, denn es ist ja eh nur die spätglut dessen. Gleichwohl geht es, so sehe ich es auch, schlicht um unerfüllte Träume, den Wunsch, eigentlich eine andere Person geworden zu sein.


Zitat:

warum
dieser fremdschmerz?


In diesem Zusammenhang sehe ich auch diese Zeile: nicht als als Schmerz der anderen, sondern nach dem anderen, nach etwas, was man immer gerne geworden wäre, aber nie geworden ist.


Zitat:

lauthals
entblößt
im nachtschrei


Wenn man lange genug etwas in isch hineinfrisst, explodiert man irgendwann. Der Schrei dient, da schließe ich mich olaja an, der eigenen Befreiung.


Zitat:

zersungen
das altglas
des gestern


Bei zersungen habe ich eher an derart hohe Töne, die Glas zerbrechen lassen - womit man eigentlich wieder beim Variete und schnell bei Clowns wäre.... um die es ja, wie ich oben ja schon steif und fest behauptete, nicht im eigentlichen Sinne geht! Bei Altglas denke ich nicht nur an das vergangene (klar, da alt), sondern zudem an den Spiegel und das Bild, das er noch gestern zeigte. Und letztlich ist ja jeder Spiegel nichts mehr als ein bisserl Glas.


Zitat:

quälend
sind die häutungen


Bei Häutungen muss ich an reptilien denken, die Ihre alte Haut abwerfen. Allerdings sind diese zwar empfindlich und verletztlich, jedoch zeigen sich ja nicht "nackig"! Damit möchte ich ausdrücken, dass für mich auch hier im Gegensatz zu olaja eher die Veränderung als die Offenbarung im Vordergrund steht. Dennoch ist es auch bei mir ein quälender Prozess, der niemandem leicht fällt, insbesondere nicht dem lyrischen Ich hinter seiner wohltemperierten Maske...

Mir gefallen Deine Bilder sehr gut, sie lassen einem Raum zur intensiven Interpretation, liefern jedoch auch genügend Anhaltspunkte, damit man nicht im luftleeren Raum ins Schwimmen gerät. Den Zusammenhang zwischen Deinen Strophen herzustellen erfordert zwar ein wenig Grübelei, dennoch sind die von Dir gewählten Bilder weder willkürlich noch in der inhaltlichen Entwicklung austauschbar.

Allerdings hab ich mit der 4. Strophe meine Schwierigkeit: Dieser lauthalse Schrei erscheint mir so brachial, er lässt für mich keinen Raum mehr für einen Entwicklungsprozess, sondern lässt mich eine sofortige Umsetzung des Veränderungswunsches des lyrischen Ichs erwarten. Andererseits klingen sowohl "Übergänge" wie auch "Häutungen" in meinen Ohren eher nach einer schrittweisen (dadurch nicht minder schwierigen) Abkehr vom Bisherigen. Ein zumindest gefühlter Widerspruch, der mich beim Lesen stört...

Dennoch gern gelesen und drüber gegrübelt,


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#5

Übergänge

in Diverse 20.03.2005 21:51
von kein Name angegeben • ( Gast )
Hi olaja, DOCC und Don!
Erstmal vielen Dank für eure sehr ausführlichen und nachdenklichen Kommentare. Die Wahrheit liegt meist in der Mitte: Wenn ihr alle eure Gedanken zusammenwerft und ein wenig schüttelt, dann habt ihr das, was ich mit meinen Zeilen ausdrücken wollte. Es freut, wenn man lyrisch verstanden wird. Und besonders schön, wenn dem Leser eigene Gedanken angesichts des Werks einfallen.
Ich wollte vermitteln, wie sich so manche(r) meines Alters fühlt,wenn er/sie Bilanz zieht und eventuell im emotionalen Bereich einige Defizite feststellt. Vielen Menschen in meiner Umgebung geht das so. Die Figur des Clowns schätze ich sehr, weil dieser in seiner Distanz zu sich selbst auf ironische Art Erkenntnisse gewinnt, die ihm nur die farbige Maske eröffnet. Diesen Vorgang kann man nun als Metapher auf das RL übetragen. "Glas zersingen" ist ein Zitat aus G.Grass' Roman "Die Blechtrommel", in der der kleine Trommler, der sich weigert zu wachsen, selbiges tut, wenn er sich stark ärgert. Glas zersingen stellt also Befreiung dar für das lyr. Ich. Den "Nachtschrei" kann ein schlechter Traum hervorbringen, es kann aber auch sein, dass nachts der laute Schrei in den eigenen vier Wänden dazu dient, Lasten abzuwerfen. Danach ist sehr wohl Veränderung möglich, man hat sich ja ge-äußert, im Wortsinn. Häutungen haben mich - biologisch gesehen - von jeher fasziniert, oft sah ich heimischen Schlangen oder Eidechsen dabei zu. Unglaublich, wie die neue Haut schmückt und wie schäbig und nutzlos die alte aussieht, die auf warmen Steinen zurückgelassen wird...
Ich grüße euch alle sehr herzlich!
Angel of Berlin

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#6

Übergänge

in Diverse 21.03.2005 07:48
von Don Carvalho • Mitglied | 1.880 Beiträge | 1880 Punkte
Den kleinen Oskar mit seiner Blechtrommel hatte ich übrigens vor Augen... die Szene, als er bei dem Arzt seine "Einweck"-Gläser zersingt und sich allerlei Leckereien wie die eingelegten Embryonen im Zimmer verteilen, fand ich als Kind schon immer außerordentlich faszinierend.


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#7

Übergänge

in Diverse 27.03.2005 21:48
von MrsMerian (gelöscht)
avatar
Hallo Angel.

Den vorangehenden Interpretationen möchte ich mich größtenteils anschließen.
Da gibt es zwei Dinge, die ich noch gern sagen möchte:

Zitat:


lauthals
entblößt
im nachtschrei



Der nachtschrei ist für mich etwas intimes oder vielmehr geheimes. Die Nacht bietet denen Schutz, die nicht erkant werden wollen. Das ist paradox, denn der Schrei ist nicht geheim, er ist lauthals.
Hier bin ich daher etwas verwirrt. ich kann mir vorstellen, das das lyr. ich eine Nische für sich entdeckt hat, in der es sein kann, wie es möchte, dann aber immer wieder "zurück" muss.
Ich denke an Travestie etc. und bleibe trotzdem etwas verwirrt in deinen Worten hängen.


Zitat:


zersungen
das altglas
des gestern




Hier zeigst Du wunderschön die überreife der veränderung durch die Dopplung. ("altglas des gestern") --> was gestern schon alt war, ist heute schließlich uralt.

Zersungen ist ein wunderschönes Wort. G. Grass habe ich leider noch nicht gelesen, aber das wird demnächst kommen (das sag ich glaub ich immer ;)). Jedenfalls steht es in unserem Literaturkanon drin.

Auch ich fühle mich nicht verloren sondern sehe so viele Möglichkeiten mich von Bild zu Bild zu hangeln, dass ich mir am Ende die schönsten aussuchen kann. Deshalb gefällt es mir.

Danke und LG,
mrs.

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#8

Übergänge

in Diverse 30.03.2005 21:05
von kein Name angegeben • ( Gast )
Hi, Mrs.!
THX für deine Gedanken zum Gedicht. Natürlich zeigt die Dopplung Altglas/gestern den zeitlichen Einschnitt einer Veränderung, der sehr drastisch sein kann. Was den lauthalsen Nachtschrei betrifft, so habe ich dazu weiter oben schon was gesagt. Hinzufügen möchte ich noch, dass mir ein alter Schlager, gesungen vom berühmten Gustaf Gründgens in dem Film "Tanz auf dem Vulkan", seinerzeit im Kopf herumging; er trägt den Titel: "Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da, die Nacht ist da, dass was gescheh...!" Dieses Lied ist durchaus mitreißend und weist u.a. darauf hin, dass offenbar noch mehr Menschen gerade in der Nacht wichtige persönliche Entscheidungen treffen, ob die nun von anderen bemerkt werden mögen oder nicht. Dazu zählen auch rigide Veränderungen, die mitunter durch "Fremdschmerz", nämlich das intensive Anteilnehmen am Schicksal der Mitmenschen, verursacht werden.
Ich danke dir für deinen nachdenklichen Kommentar und wünsche dir Lesevergnügen mit der "Blechtrommel"!
Ganz herzlich grüßt
Angel of Berlin

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