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Die Hand

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 06.09.2005 21:56
von Roderich (gelöscht)
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Die Hand


Niederalm ist eine kleine Ortschaft mit weniger als zweitausend Einwohnern. Die Straßen tragen Namen wie Schmiedgasse, Kirchenstraße, Bäckerstraße, Dorfstraße, sogar eine Sonystraße gibt es, die zu der Produktionsstätte des Konzerns führt. Es gibt Bauernhöfe, aber auch Reihenhäuser und Gewerbe. Tankstellen, ein Autohaus, ein Multimedia-Unternehmen, eine Lagerstätte für wieder verwertbaren Müll, den Pressegroßvertrieb, Friseurläden, Ärzte, eine Poststelle, auch eine freiwillige Feuerwehr.
Die Häuser schmiegen sich an die lange Salzachtalbundesstraße, die von der Gemeinde Anif, zu der Niederalm gehört, in den Süden führt, bis nach Hallein. Es herrscht reges Treiben in dieser Gegend, Autokolonnen schieben sich jeden Morgen von den Umlandgemeinden im Süden nach Salzburg im Norden und abends vom Norden in den Süden. Ständiger Verkehrslärm übertönt das Gegacker der Hühner, das Bellen der Hunde und den Motor der Mähdrescher und Traktoren, die auf den nebenan liegenden Feldern zum Einsatz kommen.
Eine seltsame Stimmung umfängt jeden, der beim Geruch von frisch gemähten Wiesen und Kuhdung neben der belebten Straße spazieren geht. Der Blick wandert hinaus und gleitet über Felder, Wiesen und Wald bis zum Tennengebirge und dem Hagengebirge im Süden, nicht besonders hohe, aber schroffe und zerklüftete Bergketten, und dem gewaltigen Untersberg im Westen, während eine lärmende, stinkende Blechschlange das Bild im Hintergrund begleitet. Im Geiste versucht man, sich die Autos wegzudenken und manchmal funktioniert es. Zunächst wird es still und dann hört man wieder das Gegacker der Hühner, das Bellen der Hunde und die Maschinen auf den Feldern. Man hört den Wind über die Wiesen streichen, atmet klare Luft, und blickt hoch hinauf zum Gipfel des Untersberges, der von der Sommersonne hell beleuchtet wird, während es in seinem Schatten düster und kühl ist. Nun entfernt man in seiner Vorstellung noch all die modernen Häuser und Gewerbebetriebe, belässt es nur bei den Bauernhöfen und der alten Kirche mit dem kleinen, vermodertem Friedhof und man kann sich vorstellen, wie es hier in Niederalm vor fünfzig Jahren war. Und vielleicht sieht man im Geiste auch noch ein Mädchen von etwa dreizehn Jahren, gekleidet in einer grünen Bauerntracht, mit rotblonden Zöpfen nachdenklich über die Wiesen gehen.
Das ist Stefanie Riedelsperger, die Tochter des größten Milchbauern in Niederalm. Sie geht gerne über die Wiesen und durch die Wälder, sie liebt die unberührte Natur. In Gedanken versunken wandert sie oft stundenlang durch das Umland von Niederalm, manchmal bis nach Hallein. Aber sie versucht die Gegenden, wo Menschen wohnen, zu meiden und dreht stattdessen große Runden durch die Wälder. Sie genießt die Zeit alleine und denkt über Bücher nach, die sie gelesen hat. Im Ort gilt sie unter den meisten als verrückt, zumindest verschroben, im Grunde ist sie aber nur eine Träumerin, die sich in Büchern besser zurecht findet als unter Menschen. Vor allem Karl May hat es ihr angetan, was ungewöhnlich ist für ein Mädchen. Aber die Abenteuer im Wilden Westen begeistern sie mehr als die für Mädchen gedachten üblichen Geschichten von verwöhnten Großstadtgören, die ihren Sommer auf einem Pferdehof verbringen und sich dort in den Stalljungen verlieben. Stefanie möchte selbst Abenteuer erleben, sie möchte mit Indianern reiten und unschuldige Farmer vor dem Marterpfahl bewahren. In unserer Zeit der Vielfalt und der Verschwimmung von Rollendefinitionen würde über Stefanies Abenteuerlust höchstens milde gelächelt werden, zu ihrer Zeit aber ist sie durch ihre Leidenschaft das Gespött des Dorfes. Wen wundert es daher, dass sie die Gesellschaft der Tiere im Wald der Gesellschaft der Dorfgemeinschaft vorzieht? Wen wundert es, dass sie stundenlang fernab jeglicher Zivilisation spazieren geht?
Und so wandert sie zuweilen auch tief hinein in die Wälder, wo man nicht mehr gehört werden kann, wo die Bäume dunkel und bedrohlich wie eine Allianz aus hartem Holz zusammenstehen und wo man sich leicht im Gestrüpp der Wildnis verfangen kann. Meistens ist ihr die unheimliche Stille um sie herum nicht bewusst, da sie in Gedanken an der Seite von Old Shatterhand, Winnetou, Old Surehand, Old Firehand und Sam Hawkins durch die heißen Schluchten des Death Valley reitet. Aber hin und wieder schreckt sie aus ihren Träumen hoch und gewahrt der tiefen Stille. Dann schlägt ihr Herz schneller und sie läuft nach Hause.

Wieder einmal war sie alleine unterwegs. Und wieder einmal war sie tief in Gedanken versunken. Ausnahmsweise fantasierte sie nicht über den Wilden Westen, sondern dachte an einen Jungen in der Klasse. Das war ungewöhnlich. So etwas passte nicht zu ihr.
Aber dieser Junge.
Dieser Junge mit seinem spitzbübischen Lächeln in seinem Gesicht, in das immer eine wilde, blonde Locke fiel.
Hannes Gerber hieß er, er kam aus dem Nachbarort, aus Grödig. Hannes ging schon seit drei Jahren in Stefanies Klasse, er war ein bekanntes Gesicht, dem man normalerweise keine Beachtung schenkte. Er trieb seine Späße, spielte den Pausenclown, pfiff den Mädchen nach, die das kokett und unschuldig mit Augenzwinkern quittierten.
Aber da hatte es diesen einen Moment gegeben, vor nicht ganz einer Woche. Stefanie saß im Schulhof und unterhielt sich mit ihren Klassenkolleginnen Gerda, Inga und Rosmarie über die bevorstehende Klassenarbeit beim Lehrer Zempl. Alle Schüler hatten Angst vor dem Zempl, alle hatten Angst vor seinen gefinkelten Aufgaben, die immer Fallen und falsche Fährten enthielten. So gingen die Mädchen noch einmal die Aufgaben der letzten Woche durch um sich so gut wie möglich auf Zempls Fallen und falsche Fährten vorzubereiten.
Hannes jedoch spielte mit den Jungs Fußball, er verschwendete keinen Gedanken an Lehrer Zempl und seinen Rohrstock. Nicht, dass er sich das aufgrund herausragender schulischer Noten leisten hätte können, aber Jungs sind nun mal Jungs, sie meinen, über diesen banalen alltäglichen Dingen wie Schule zu stehen. Die Rechnung wurde für gewöhnlich am letzten Schultag mit der Zeugnisverteilung präsentiert, doch soweit dachte im Frühling niemand.
So konzentrierte sich Hannes auf die im Moment einzig wichtige Aufgabe: dem dicken Bertl ein Tor zu schießen. Bertl war trotz seiner massiven Körperfülle und seinen 85 Kilo Kampfgewicht bei 1,55 Meter Größe sehr schnell in seinen Reaktionen und dank seiner Fülle deckte er das Tor immer gut ab. Das Tor wurde von den Stämmen zweier junger Pappeln begrenzt, die etwas mehr als zwei Meter voneinander entfernt standen. Der erste Ast der linken Pappel markierte die imaginäre Querlatte. Es war nicht leicht, den ausgeleierten alten Lederball an Bertl vorbei zwischen die beiden Pappeln zu schießen – ihm ein Tor zu schießen galt als sportliche Referenzleistung. So legte sich Hannes mächtig ins Zeug, er dribbelte Rolf, der etwas langsamer war als andere, gekonnt mit einem Übersteiger aus, ging im Laufduell an Andreas vorbei und ließ schließlich auch noch Max mit einem Haken nach rechts stehen. Er stand alleine vor dem dicken Bertl, der kampfeslustig schnaubte. Hannes legte all seine Kraft in das linke Bein, sein Schussbein, und zog durch.
Die braune Lederkugel zischte schnurgerade wie ein Strich los, zog pfeifend an Bertl vorbei und klatschte gegen die rechte Pappel. Von dort sprang der Ball mit nahezu unvermindertem Tempo rechts weg und fand sein Ziel schließlich in Stefanies Gesicht, die mit ihren Kolleginnen neben dem Spielfeld im Schatten einer alten Linde saß.
„Spinnst du?“ In Stefanies Aufschrei lag mehr Entrüstung als Schmerz.
Hannes schlich mit schuldbewusstem Blick zu der Linde. „Es tut mir leid, das wollte ich nicht.“
Er kauerte sich vor Stefanie und blickte ihr ins Gesicht. Stefanie wurde rot, aber sie konnte nicht sagen, warum.
„Lass mal sehen.“
Hannes nahm Stefanies Gesicht in seine Hände und untersuchte es fachmännisch. Die Berührung ließ ihr Herz schneller schlagen, sie spürte die Wärme seiner Hände auf ihren Wangen und hatte plötzlich den Drang, sich noch näher, noch intensiver an diese warmen, pulsierenden Hände zu schmiegen.
„Schaut nicht so schlimm aus“, urteilte Hannes schließlich und ließ sie los. Er zwinkerte ihr spitzbübisch zu und lief zu den anderen Jungen zurück.
Stefanie blieb verwirrt und eigenartig beschwingt zurück und als die Mädchen dann mit dem Rechnen der Aufgaben fortfuhren, konnte sie keine einzige Rechnung mehr korrekt lösen.

Sie war tief in einen alten Wald hineingeraten, während sie an diese Begegnung mit Hannes dachte. Sie nahm die Stille war, die sie umgab. Kaum ein Vogel sang, stattdessen hörte sie nur den Wind schwach durch das Laub fahren. Der Wind konnte nicht über die erdrückende Schwüle, die in der Luft lag, hinwegtäuschen. Auch war die Sonne, die die noch grell über dem Tag gehangen war, als sie losgegangen war, mittlerweile fast vollständig hinter einer grauen Wolkendecke verschwunden. Allzu lange konnte es nicht mehr dauern, bis der Regen kam, ein paar Stunden vielleicht, wenn Stefanie Glück hatte.
Sie kannte diesen Wald kaum, sie war zweimal oder dreimal in ihn hineingeraten und nur, wenn sie – so wie heute – in Gedanken versunken war. Jedes mal war sie froh, wenn sie wieder hinaus kam. Die Bäume standen enger zusammen als in anderen Wäldern, sie wuchsen höher hinauf und schirmten den Boden von jeglichem Sonnenlicht ab. Doch es war nicht nur die Dichte der Baumstämme, die diesen Wald in ihren Augen bedrohlich machte. Vielmehr hatte sie das Gefühl, dass dieser Wald älter war als alle anderen Wälder in der Gegend. Das Holz der Bäume wirkte morsch und verfault, der Boden war mit einem fast grauen Moos überzogen, das ihre Schritte schluckte. Manchmal knackte ein herab gefallener toter Ast unter ihren Schritten und das plötzliche Geräusch ließ Stefanie zusammenzucken. Sie stolperte über Wurzeln und totes Holz. Sie rannte gegen dicke Baumstämme, wobei die Berührungen mit dem kalten Holz ihr einen Schauer über den Rücken jagten, kämpfte sich durch Schlingen und Büsche durch, verstrickte sich immer tiefer und tiefer in dem undurchdringlichen Geäst. Nach einer Weile hatte sie jegliche Orientierung verloren und lief blind in eine beliebige Himmelsrichtung. Einfach nur irgendwo hinaus aus dem Wald, dann um ihn herumlaufen bis sie an eine bekannte Stelle gelangt, von der aus sie zurück nach Hause findet, so ihr Plan. Doch es schien, als hätte sich der Wald gegen sie verschworen. Sie rannte und rannte, doch der Wald hatte kein Ende. Stattdessen geriet sie noch tiefer hinein.
Langsam wurde es dunkel, der Tag neigte sich dem Ende zu. Die letzten hartnäckigen und unerschrockenen Vögel verstummten, auch der Wind legte sich und Totenstille griff um sich. Stefanies Herz schlug schneller, kalter Schweiß rannte ihre Stirn hinunter, über ihre Augen, an ihrem Rücken herab. Noch kämpfte sie sich weiter durch das Gestrüpp, aber sie war kurz davor, ihre Nerven wegzuwerfen. Schon bald konnte sie die dunklen Baumstämme im fahlen Licht nur noch als Schatten wahrnehmen.
Schließlich gelangte sie zu einer kleinen Lichtung. Für sie bedeutete diese Lichtung eine Zufluchtsstätte vor der Mauer an Bäumen, vor den dichten Büschen, dem wurzelbedeckten Boden. In der Mitte der Lichtung lag ein großer Stein, oder eher schon ein Felsen. Er versprach Ruhe und die Möglichkeit, sich hinzusetzen und die Füße ein wenig baumeln zu lassen.
Ihre Fußsohlen brannten, sie musste schon seit mehr als vier Stunden gelaufen sein. Um halb drei Uhr nachmittags war sie losgezogen, dunkel wurde es zu dieser Jahreszeit etwa um sieben Uhr. Langsam müssten sich auch ihre Eltern Sorgen machen. Stefanie war zwar oft lange unterwegs, aber fast immer kam sie vor Einbruch der Dunkelheit zurück. Und falls nicht, so wussten ihre Eltern für gewöhnlich zumindest, wo sie war; entweder beim Schmöllerbauern in Grödig, den sie oft besuchte und der sie mit Apfelsaft und alten Sagen vom Untersberg versorgte oder beim Ponyhof in Rif, wo ihre beste, ihre einzige Freundin Karla wohnte oder bei ihrem Onkel Peter im „Guten Hirschen“, der das alte Wirtshaus ihrer Großeltern führte.
Doch nun war sie weder beim Schmöllerbauern, noch bei Karla, noch bei Onkel Peter – sie war stattdessen in der Mitte von nirgendwo, sie hatte sich verlaufen. Das war ihr zuletzt vor fünf Jahren passiert, als sie als neugierige Achtjährige von zu Hause ausgebüchst war um den Untersberg zu besteigen. Sie hatte es nicht einmal bis zum Fuße des Berges geschafft. Der Pfarrer vom Nachbarort hatte sie damals schließlich an einem kleinen Bach gefunden, wie sie ihre Füße ins Wasser baumeln hatte lassen.
„Nu, kleines Mädchen, was machst du hier?“ Im Blick des Pfarrers war die Erleichterung, sie gefunden zu haben, erkennbar gewesen.
„Ich ruhe mich aus. Ich möchte auf den Berg gehen, da ist es schön. Wenn meine Füße nicht mehr so weh tun, dann gehe ich weiter.“
„Aber der Berg ist hoch, da kommt man nicht so ohne weiteres hinauf. Du bist die doch kleine Stefanie, nicht wahr?“
„Ich bin Stefanie, aber ich bin schon groß!“
„Stefanie, deine Eltern suchen dich, sie haben alle Leute in der Gegend verständigt. Sie machen sich Sorgen.“
„Ach, die brauchen sich keine Sorgen machen. Nicht um mich, ich kann schon auf mich aufpassen.“
So war es immer gewesen, Stefanie passte schon auf sich auf. Vielleicht war sie anderen Kindern in ihrem Alter voraus, vielleicht war sie einfach nur unbedacht. Nun, in dieser misslichen Lage, in diesem gespenstischen Wald, dachte sie eher das Letztere von sich. Sie schalt sich eine Närrin, eine unaufmerksame Träumerin, eine Idiotin. Idiotisch war es, in einen Wald zu gehen, den man nicht kannte.
Sie schlug sich durch die letzten Büsche vor der Lichtung. Bald könnte sie eine Rast auf dem Stein einlegen, sich ein wenig beruhigen, neue Pläne schmieden. Diese neuen Pläne konnten durchaus auch eine Nacht im Wald beinhalten; sie wusste, wie schlecht die Chancen waren, heute noch nach Hause zu finden.
Die Lichtung bestand aus einer Wiese, die kreisförmig mit einem Durchmesser von etwa dreißig Metern wie in den Wald hinein geschnitten schien. Kein einziger Busch bedeckte die Wiese, keine Blumen, nicht einmal Unkraut. Lediglich der große Stein in der Mitte hob sich vom Gras ab. Auch war die Wiese sehr dunkel, was nicht nur an der hereinbrechenden Nacht lag. Vielmehr lag die fast ockerfarbene Färbung am Morast. Die Wiese war sumpfig und nass. Stefanie sackte bei ihrem ersten Schritt fast knöcheltief ein.
Sie zögerte. Sollte sie sich tatsächlich durch diesen Sumpf plagen und ihre Schuhe versauen? Andererseits lockte sie der Stein sehr. Er war rund geschliffen und sah richtig gemütlich aus. Was soll’s, dachte sie sich, schmutzig sind die Schuhe ohnehin schon, da kommt es auf ein bisschen Matsch auch nicht an.
Sie ging weiter. Mit jedem Schritt sank sie ein paar Zentimeter ein, der Schlamm saugte ihre Schuhe in die Erde, mit einem widerlichen „Pflatsch“ zog Stefanie sie wieder heraus. Auch drohte sie ihre Schuhe bei jedem Schritt zu verlieren. Sie trug gemütliche Lederschuhe ohne Schnürsenkel, auch trug sie aufgrund der warmen Frühlingstage keine Socken. So hatten die Schuhe schon grundsätzlich keinen guten Halt und durch den Sumpf artete jeder Schritt in einem Kampf um die Schuhe aus.
Sie war schon etwa zehn Meter weit gekommen. Das Gehen auf diesem Untergrund war mühsam, sie schwitzte. Noch etwa fünf Meter trennten sie von dem Stein, doch der Boden wurde schlechter. Nun sank sie schon bis über die Knöchel ein. Noch ein Schritt. Und noch einer. Vielleicht noch zehn Schritte. Gleich ist es geschafft. Nur noch ein wenig durchhalten.
Wieder sank ihr rechter Fuß ein, diesmal etwa fünfzehn Zentimeter. Der Fuß saugte sich in den Boden, widerlich kalter Schlamm umspülte ihre Knöchel. Sie fühlte etwas Eigenartiges am Knöchel. Als hätte sie etwas berührt. Vielleicht eine Wurzel. Oder ein kleiner Ast. Oder ein Finger. Sie verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Törichtes Mädchen!
Angestrengt versuchte sie, ihren Fuß aus dem Schlamm zu ziehen, als eine kalte Hand sie von unten am Knöchel packte. Sie schrie auf. Das war unmöglich, so etwas konnte es nicht geben. Eine Täuschung, eine Halluzination! Sie musste an einer Wurzel hängen geblieben sein. Aber warum fühlte sie dann Finger: Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger, Ringfinger, kleiner Finger? Und wie konnte eine Wurzel oder ein Ast schnell loslassen und wieder zuschnappen auf der Suche nach besserem Griff? Verzweifelt versuchte sie sich zu befreien, doch die Hand hielt ihren Fuß in einer eisernen Umklammerung. Sie zog und zerrte, doch ihr Fuß bewegte sich keinen Zentimeter aus dem Sumpf heraus.
Sie blickte nach unten. Sumpfiger Boden, Erde. Ihr rechter Fuß, der in dieser Erde verschwand. Mehr konnte sie nicht erkennen. Diese Hand war tatsächlich unter der Erde. Dieser Mensch, wenn es überhaupt ein Mensch war. Denn wie konnte dieser unter der Erde liegen und nach ihrem Fuß schnappen? Eine Höhle vielleicht. Eine Höhle unter der Erde und dieser Mensch greift durch die Decke der Höhle nach ihrem Fuß. Nein, sie wusste, dass es keine Höhle war. Und sie wusste auch, dass es kein Mensch war, der sie festhielt. Die Hand fühlte sich in ihrer Form menschlich an, doch war sie das nicht. Das wusste sie. Manche Menschen nennen das eine Vision; andere, die Visionen für Humbug halten, eine Intuition, sie wusste es jedenfalls. Kein Mensch, kein Mensch, kein Mensch, kein Mensch – ihr Denken war nur von diesen zwei Wörtern besessen. Kein Mensch, kein Mensch, kein Mensch.
Wieder unternahm sie einen verzweifelten Versuch, ihren Fuß zu befreien. Sie sprang in die Höhe, aber als hätte die Hand das geahnt, wurde sie brutal nach unten gerissen und sie stürzte auf die Knie. Ihre linke Hand versank im Schlamm. Sie sah das Bild einer körperlosen Hand, die gierig durch den schmatzenden Morast nach oben stoßend auf ihre versunkene linke Hand zuschoss. Schnell zog sie ihre Hand aus dem Schlamm und es war ihr, als sähe sie eine halbe Sekunde später weiße Fingerkuppen aus der Erde ragen. Diese Fingerkuppen, wenn sie überhaupt da waren, verschwanden ebenso schnell wieder wie sie gekommen waren. Stefanie atmete auf, ihre linke Hand gehörte immer noch ihr. Ihr Puls, der zuvor noch jenseits der hundertfünfzig Schläge gerast war, beruhigte sich ein wenig. Doch dann spürte sie wieder den Druck an ihrem rechten Knöchel. Die ganze Zeit über hatte dieser Druck kein einziges Mal nachgelassen.
Stefanie stand auf. Durch Springen konnte also nichts erreicht werden. Vielleicht führte langsames, aber stetiges Ziehen zum Erfolg. Sie versuchte nun, ihren rechten Fuß vorsichtig aus dem Schlamm zu ziehen. Und tatsächlich, langsam konnte sie den Fuß einen, dann zwei, drei, vier Zentimeter nach oben ziehen. Die Hand ließ nicht los, ging aber mit nach oben. Noch ein Zentimeter, noch einer. Schon hatte sie ihren Fuß bis knapp über den Knöchel befreit. Dann noch ein Zentimeter, der Knöchel. Sie fühlte Luft an ihrem Fuß, ein gutes Gefühl. Sie konnte es schaffen. Sie würde es schaffen. Schließlich war sie ein großes Mädchen, sie konnte die Dinge alleine richten.
Die ganze Zeit über hatte sie den Wald um sie herum fixiert. Sie konnte in der Dunkelheit kaum etwas sehen, die Bäume ließen sich nur als dunkle, große Schatten erahnen. Während sie arbeitete, ihren Fuß Stück für Stück aus dem Morast zog, biss sie sich angestrengt auf die Lippen. Bald fühlte sie, wie ein Blutstropfen an ihrer Lippe hing. Sie kniff die Augen zusammen, schleckte den Tropfen weg und arbeitete weiter.
Der Knöchel lag ganz frei, sie fühlte, wie die Luft ihn umspielte. Noch die Ferse, den Rist, gleich ist es geschafft. Immer noch fühlte sie die Hand, die ihren Fuß bei dem Knöchel fest umfasste. Sie blickte nach unten.

Es war stockdunkel. Ihr Rücken war kalt und nass. Ihre Haare klebten am Boden, hatten den Schlamm aufgesogen. Sie versuchte, den Kopf zu heben, doch ihr war schwindlig. Außerdem fehlte ihr jegliche Orientierung. Sie lag auf dem Rücken in etwas Kaltem, Nassen mitten in der dunkelsten Nacht. Sie lag im Freien. Der Mond war halb durch Wolken verdeckt, auch ein paar Sterne konnte sie in den Löchern der Wolkendecke erkennen. Der Abendstern. Der Gürtel des Orion. Sie kannte sich in Astronomie ein wenig aus, ihr Vater hatte ihr letztes Jahr ein Buch über Sternenkunde geschenkt, nachdem sie wochenlang darum gebettelt hatte.
„Weiß nicht, wozu das gut sein soll“, hatte er gebrummt, doch schließlich hatte sie ihren Willen durchgesetzt.
Dort, der kleine Bär!
Das Sternbild des Steinbocks!
Sie hob ihre Hand und malte die Linien mit dem Zeigefinger nach.
Sie hob Ihre Hand.
Ihre Hand.
Ihre Hand!
Die Erinnerung brach unbarmherzig wie eine Flutwelle über sie herein und ihr Herz zog sich zusammen. Die Hand! Sie hatte sie gesehen! Diese Hand, die sie fest umklammerte, die sie immer festhielt. Als sie ihren Fuß aus dem Schlamm gezogen hatte, Zentimeter für Zentimeter, hatte sie kurz nach unten geblickt. Und sie hatte die Hand gesehen. Dieser Anblick würde sie nun für immer verfolgen, unter Tags, wenn sie durch Wälder ging, in der Nacht in ihren Träumen. Das wusste sie. Es gibt Dinge, die man nicht vergessen kann, so sehr man sich das auch wünscht.
Zuerst hatte sie strahlend weiße Fingerkuppen gesehen, die ihn langen, grauen Nägeln (wie von einem Tier) endeten. Ihr Blick war diesen Fingerkuppen weiter nach unten gefolgt. Die Finger sahen abgenagt aus. Es hatte ein paar Sekunden gedauert, bis sie begriffen hatte, dass das Fleisch an den Fingern verwest war. Die Knochen hatten in der beginnenden Dunkelheit phosphoreszierend geleuchtet. Wie kleine, weiße Leuchtstäbchen. Weiters: Die Handknöchel. An den Knöcheln von Zeigefinger, Mittelfinger und dem kleinen Fingern hingen Klumpen von grauem Fleisch. Vom Ringfinger und vom Daumen waren nur noch die Knochen vorhanden. Dann: Die Handfläche. Die wenigen Stellen, die noch von Fleisch bedeckt waren, sahen grau und alt aus. Eine kleine Made bohrte sich durch den kümmerlichen Rest an Fleisch. Stellenweise bedeckte ein flaumiger, weißer Pilz die Hand. Und überall Sehnen wie Würmer, die sich im Griff nach ihrem Fuß spannten.
So sah die Hand aus.
Wen wundert es, dass sie bei diesem Anblick weggekippt war?

Blankes Entsetzen lähmte sie beim Gedanken an die Hand. Sie spürte, wie diese langen, grauen Nägel sich in ihren Fuß bohrten und ihre Haut aufritzten.
Die tote Hand.
Sie wollte nicht wissen, wie der zu der Hand gehörende Körper aussah.

Sie setzte sich auf und rieb ihre Schultern, die verspannt und verknotet waren. Auch ihr Hals war steif. Sie musste wohl eine Zeit lang in einer unbequemen Position gelegen sein. Den Kopf verdreht, halb auf der linken Schulter liegend, die Arme weit ausgestreckt, das linke Bein nach außen verdreht, das rechte Bein bis zum Knie in die Höhe, dann hinunter in die Erde. Ein Wunder, dass nicht noch mehr schmerzte.
Wie spät mochte es wohl sein? Der Mond war nun hinter einer dichten Wolkendecke verschwunden so wie alle Sterne. Der Himmel musste mittlerweile vollständig bedeckt sein. Sie konnte also nicht die Gestirne zur Bestimmung der Zeit zur Hilfe nehmen. Auch eine Uhr hatte sie nicht. Es war immer noch stockdunkel, allzu lange konnte sie also nicht bewusstlos am Boden gelegen sein. Zumindest nicht lange genug, um die Nacht schon überstanden zu haben.
Am Morgen, wenn die Sonne kommt, würde alles wieder gut werden. Sie würde sich recken, sich den Schmutz von der Kleidung klopfen und nach Hause gehen. Dort würden ihre Eltern bereits ungeduldig auf sie warten und sie in die Arme schließen. Vielleicht setzte es eine Standpauke, aber die hatte sie wohl auch verdient. Sich in der Nacht im Wald herumtreiben – so etwas macht man schließlich auch nicht. Dummes Mädchen! Das gibt Hausarrest für die nächsten vier Wochen! Dummes Mädchen.
Und wenn die Hand nicht von alleine losließ? Wenn sie gegen die Sonne immun war? Die Hand hatte Zeit, sie war schließlich schon tot. Die Hand hatte alle Zeit der Welt, konnte Stefanie aushungern und verdursten lassen. Und dann würde sie etwas energischer ziehen. Sie würde die Knöchel noch fester umfassen und ziehen, ziehen, ziehen, bis das rechte Bein unter der Erde war, dann die rechte Hüfte, auch das linke Bein rutscht nach, weiter ziehen, kräftig und bestimmt, dann der Bauch, der Oberkörper, der Hals, der Mund, die Nase, ziehen, ziehen, dann die toten Augen, die Stirn, die Haare und zuletzt würden die Arme und Hände hoch gestreckt in den Waldhimmel im braunen Morast versinken. Nichts würde daran erinnern, dass hier ein blondes, dreizehnjähriges Mädchen gelegen hatte, ängstlich und verstört, hungrig, durstig und schwach bis es tot war.
Die Hand hatte Zeit. Stefanie fühlte, wie sie auf den richtigen Augenblick lauerte. Noch war Stefanie stark, aber sobald ihr Lebenswille gebrochen war, würde die Hand unbarmherzig zuschlagen. Fette Beute, hörte Stefanie sie schmatzen, gutes Mädchen, fette Beute!

Es begann zu regnen. Zunächst nur ganz leicht, es war mehr ein Nieseln, dann wurde der Regen stärker. Bald war Stefanie bis auf die Haut durchnässt. Der ohnehin schon nasse und sumpfige Boden unter ihr verwandelte sich in ein Swimmingpool aus Matsch und Stefanie konnte ein Einsinken nur verhindern, indem sie sich flach auf den Boden legte. Immer wieder kontrollierte sie, ob auch tatsächlich noch alle ihre Gliedmaßen frei beweglich waren. Nur nicht einsinken! Nicht noch einen Arm oder den zweiten Fuß an diese grauenvolle Hand verlieren. Sobald die Hand noch etwas packen konnte, war Stefanie verloren. Den einen Fuß hoffte sie irgendwann befreien zu können, aber wenn sie zwei Glieder verloren hatte, dann war Schluss.
Doch wie wollte sie ihren Fuß befreien?
Bevor sie ihr Bewusstsein verloren hatte, hatte sie den Fuß durch stetiges, langsames Ziehen schon fast befreit gehabt. Dann hatte sie nach unten geblickt und die Hand gesehen. Doch nun wusste sie, wie diese aussah. Der Anblick war schrecklich, aber diesen erschreckenden Effekt wie beim ersten Mal konnte er nicht mehr verursachen. Wenn sie nun wieder langsam zog, ihren Fuß Stück für Stück befreite. Das konnte gelingen. Noch einmal würde sie der Anblick von vermodertem Fleisch und ein paar Knochen nicht aus den Schuhen kippen lassen. Sie lachte auf. Du Hand, nun kannst du was erleben! Du denkst, du hast mich? Falsch gedacht!
Sie zog wieder langsam, aber kraftvoll. Der Fuß rückte ein Stück in die Höhe, vielleicht zwei Zentimeter. Das war nicht viel, aber dennoch Erfolg versprechend. Ein paar Minuten lang ziehen, dann würde dieser Alptraum ein Ende haben. Sie zog weiter und konnte wieder einen Zentimeter befreien. Durch die Anstrengung verfärbte sich ihr Gesicht rot, Schweißtropfen rannen über ihre Stirn, ihre Augen und ihre Wangen. Sie musste eine kurze Pause einlegen. Eine Minute lang rasten, dann konnte es weitergehen. Sie atmete tief durch.
In diesem Moment fühlte sie, wie die Hand ihren Fuß losließ.
Sie konnte es kaum glauben. Völlig perplex verharrte sie, sie fühlte sich fast einsam. Konnte es sein, dass sie sich an die Gegenwart dieser abscheulichen Hand gewöhnt hatte?
Sie wollte ihren Fuß gerade aus dem Schlamm ziehen, als sich lange Fingernägel in ihren Fuß oberhalb des Knöchels bohrten. Die messerscharfen Nägel rissen die Haut auf und vergruben sich im Fleisch von Stefanies Fuß. Sie schrie vor Schmerz laut auf. Und weiter wühlten sich die krallenartigen Fingernägel durch ihr Fleisch, tiefer und tiefer. Der Schmerz schoss wie eine Stichflamme von ihrem Knöchel ihr Bein hinauf, über die Hüfte bis in ihren rechten Arm. Stefanies erster panischer Schrei ging in ein heiseres Gekreische über, sie schlug wie wild um sich, sie zog und zerrte an ihrem Bein, doch die Hand ließ nicht locker. Stefanie fühlte, wie ein Fingernagel an ihrem Schienbeinknochen schabte. Dieses Schaben ließ ihren Körper erschüttern und wieder wurde ihr schwarz vor den Augen.

Sie lief mit großen Sprüngen über eine saftig grüne Wiese. Sie lachte dabei laut auf, ihr Lachen erklang glockenhell und schien sich über die ganze Wiese zu verteilen. Der Wind bauschte ihr schneeweißes Kleid auf und sie fühlte, wie die Luft an ihren nackten Beinen entlang strich. Sie atmete tief die klare Luft des Landes ein. Es strömte kalt ihren Hals hinunter und ihre Lungen füllten sich geräuschvoll. Dann wieder ausatmen. Sie war völlig frei und unbeschwert, drehte sich im Kreis, genoss jeden Augenblick.
Die Wiese schien unendlich zu sein. Nirgends standen Bäume oder Sträucher, nur grüner Rasen erstreckte sich bis zum Horizont. Der Himmel war intensiv tiefblau, vereinzelt standen weiße Schäfchenwolken wie in das Blau des Himmels gemalt. Sie fühlte das Prickeln der Sonnenstrahlen in ihrem Rücken, drehte sich zur Sonne hin und schloss die Augen. Die Sonne strahlte in ihr Gesicht, sie fühlte die Sonne durch ihre geschlossenen Lider hindurch brennen. Die Wärme der Sonne erzeugte einen angenehmen Kontrast zu dem eher kühlen Wind, der immer noch ihre Beine umspielte.
Sie kannte die Wiese nicht. Es war nicht eine von denen, auf denen sie spazieren ging. Es war keine Wiese in der Umgebung ihres Heimatortes. Überhaupt, eine dermaßen große Wiese hatte sie noch nie gesehen. Dennoch war ihr die Wiese auf eine seltsame, unterbewusste Art vertraut, wie ein deja vú, aber ohne von einer blitzenden Erkenntnis getroffen zu werden, sondern als eine Art stetigen Beinahe-Wiedererkennens. Sie fühlte sich heimisch, ohne es zu sein. Das Gras unter ihren Füßen, der Wind unter ihrem Kleid, die Sonne in ihrem Gesicht – all das war ihr überdeutlich bewusst in einer nicht gekannten Intensität und Schärfe.
Wieder drehte sie sich, die Arme weit ausgebreitet, bis sie die Sonne in ihrem Rücken spürte. Sie öffnete die Augen. Das Bild, das vor ihr lag, war unverändert: Eine unendlich weite und saftig grüne Wiese, ein tiefblauer Himmel, strahlend weiße Wolken. Es schien, als gäbe es nichts anderes auf der Welt als diese Wiese und diesen Himmel – ein Gedanke, der ihr gefiel.
Doch plötzlich verdunkelte sich der Himmel, die eben noch vereinzelt stehenden weißen Schäfchenwolken verdichteten sich zu einer gewaltigen grauen Masse. Der Wind nahm zu, blies stärker und aggressiver, zwang sie in die Knie. Die grünen Grashalme auf der Wiese starben ab, vertrockneten zu einer knittrigen graubraunen Masse, der Boden sah verbrannt aus. Vereinzelt zuckten Blitze hysterisch am nunmehr fast schwarzem Himmel. Sie hatte Angst.
Am Horizont sah sie nun schwarze Bäume, die im Kreis um die abgestorbene Wiese standen und deren Wipfel im Wind einen schaurig-feurigen Tanz aufführten. Mit dem Wehen der Baumwipfel im Wind schien die Wiese zu schrumpfen und mit jeder Sekunde zog sich der Kreis der schwarzen Bäume enger um Stefanie zusammen. Sie konnte nun erkennen, wie die schwarzen, knorrigen Äste auf und ab wippten. Manche der pechschwarzen Blätter, die die Bäume bedeckten, fielen von den Ästen ab und flatterten hysterische Kapriolen im aufkommenden Sturm. Weiter zog sich der Kreis zusammen und einige der im Sturm tanzenden Blätter umspielten Stefanie, ohne sie jedoch zu berühren. Die vormalige Wiese, die nun vollständig zu einem harten, trockenen, grauen Boden verdorrt war, wurde immer noch kleiner, bis sie einen Durchmesser von etwa zehn Metern erreicht hatte. Manche der dürren, schwarzen Äste streckten sich nach Stefanie, konnten sie jedoch nicht erreichen. Noch nicht. Aber sie kamen näher, waren nun überall neben ihr, auch über ihr. Und als ein Ast sich widerlich schmatzend nach ihr streckte, verwandelte sich das Ende des Astes in eine verweste, tote Hand, die gierig alle Finger nach Stefanies Kehle streckten, während grellweiße Maden aus den Fleischresten tropften.
Sie schreckte aus ihrem Traum hoch.

Das Erste, was Stefanie empfand, war Erleichterung, noch am Leben zu sein. Dann schoss der Schmerz in ihrem rechten Fuß in ihr Bewusstsein zurück. Sie versuchte zu schreien, bekam aber nur ein kümmerliches Winseln zustande. Sie war geschwächt und fiebrig. Ihr Blut pulsierte heiß und schnell, kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn.
Sie versuchte sich aufzurichten. Noch immer war ihr rechter Fuß in den Fängen der Hand gefangen. Als sie sich bewegte, spürte sie wieder, wie ein Fingernagel an ihrem Knochen kratzte. Ein Schauer jagte über ihr Bein und ihren Rücken. Lieber liegen bleiben, so wenig wie möglich bewegen. So lange sie darauf achtete, dass ihr Fuß das Einzige war, was die Hand unter der Erde gefangen hielt, konnte sich ihre Situation zumindest nicht verschlechtern. Aber ob sie sich verbessern könnte? Stefanie empfand Trostlosigkeit. Sie hatte gekämpft und verloren. Es war aussichtslos. Ihr Fuß war verloren und damit auch sie selbst. Selbst wenn sie den Mut und die Kraft gehabt hätte, ihren Fuß zu amputieren, mit was hätte sie das durchführen können? Und wer hat schon den Mut und die Kraft zu solch einer verzweifelten Tat? Stefanie wusste, dass es ihr selbst bei einem geeigneten Werkzeug, einer Axt vielleicht, und der nötigen Portion Mut an der Kraft fehlen würde. Einmal kräftig auf das Bein gehackt, spüren, wie sich die Schneide in das Fleisch bohrt und den Knochen zertrümmert, wie die Axt vielleicht fünf Zentimeter tief eindringt, dann wäre sie wieder in Ohnmacht gefallen. Der Schmerz war auch so – ohne dem Versuch einer Selbstamputation – schlimm genug.
Was konnte sie also tun?
Sie dachte nach. Sollte sie einfach liegen bleiben und darauf hoffen, dass ihre besorgten Eltern sie suchten und fanden? Es war noch mitten in der Nacht, soweit sie das erkennen konnte, wahrscheinlich – wenn überhaupt – konnte sie erst bei Tageslicht gesucht werden. Bis sie dann tatsächlich gefunden wurde, konnten einige Tage vergehen. Sie hatte keinen Proviant, keine Jause mitgenommen. Sie war sich nicht sicher, wie lange ein Mensch ohne Nahrung und ohne Wasser auskommen kann. Sie glaubte zu wissen, dass man ohne Wasser einige Tage überleben konnte, vielleicht zwei, vielleicht aber auch fünf oder acht. Das Risiko war ihr aber zu groß. Außerdem hatte sie starke Schmerzen im Fuß, die Wunde, in der sich die Hand festkrallte, schien sich zu entzünden. Kein Wunder, ist doch alles vergammelt! Sie dachte mit Widerwillen an den Anblick der Hand. Der Gedanke, dass sich die kleine Made, die zwischen Daumen und Zeigefinger im toten Fleisch herumgekrochen war, nun durch ihren Fuß bohren könnte, machte sie wahnsinnig.
Sie musste etwas tun. Sie konnte nicht darauf warten, dass eine wundersame Rettung erfolgte. Es war besser, wenn sie die Dinge selbst in die Hand nahm. Nur was tun? Ihre Lage war sehr böse. Sie konnte ihren Fuß nicht herausziehen, zu tief hatte sich die Hand in ihren Fuß gerissen.
Konnte sie vielleicht jemanden auf sich aufmerksam machen? Durch lautes Schreien? Wenn sie all ihre Kraft bündelte und in einen markerschütternden Schrei legte? Doch es war aussichtslos, sie war hier mitten in der Nacht in einem schier unendlich großen Wald in der Mitte von Nirgendwo. Wer außer den Eulen sollte sie hören?
Sie war verzweifelt. Sie wusste, dass sie unrettbar verloren war an diese grässliche Hand. Sie würde sterben, hier in diesem Sumpf, in dieser tiefschwarzen Nacht. Zum ersten Mal, seit dieser Alptraum begonnen hatte, weinte Stefanie.
Es war mehr ein Wimmern als ein richtiges Weinen, zu mehr war sie nicht im Stande. Sie dachte an ihre Eltern, ihren Vater, der immer mürrisch schien, der seiner Tochter, wenngleich nach langem Tauziehen zwar, aber doch jeden Wunsch erfüllte. Ihre Mutter, die so viel Liebe für die Tiere auf ihrem Bauernhof übrig hatte, dass sie jedes Mal bittere Tränen vergoss, wenn eines der Hühner oder ein Kaninchen einem Festbraten zum Opfer fiel. Sie dachte an Lilly, ihre Lieblingskuh im Stall, mit ihren großen, braunen Augen, die so viel verständnisvoller blickten als es Menschenaugen tun konnten. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie eine frisch gemähte Wiese roch, wie der saftige Schweinsbraten ihrer Mutter schmeckte, wie sich das Heu auf dem Schober anfühlte, wenn sie sich dort nach einem anstrengenden Tag ausruhte. Teilweise gelang es ihr: Sie schmeckte den vollen Geschmack des Fleisches übergossen mit dem besten Bratensaft der Welt, wie sie immer meinte, auf ihrer Zunge. Sie glaubte den intensiven, frischen Geruch einer gemähten Wiese zu riechen und wenn sie die Augen schloss, dann kitzelten Heuhalme ihren Rücken und ihre nackten Arme. Doch darunter lag das Dunkle, das Bedrohliche der Realität: Der Geschmack von Schlamm auf ihrer Zunge, der Geruch von Morast und verfaultem Fleisch, die eklige Nässe des Bodens auf ihrem Rücken. Und überall der Schmerz, der sich von ihrem Fuß ausgehend über den ganzen Körper verteilte.
Die Hand schien sich in Stefanies Fuß wieder ein wenig zu bewegen. Sie stöhnte laut auf. Bitte mach, dass es aufhört, bitte mach, dass es aufhört, bitte mach, dass es aufhört. Wie lange sollte sie noch hier liegen, worauf sollte sie noch warten? Wenn sie von der Hand schon nicht loskam, wieso setzte die Hand ihr nicht einfach ein Ende? Alles schien ihr erträglicher zu sein als der Schmerz in ihrem rechten Fuß und die Gewissheit, dass es kein Entrinnen gab. Der Tod erschien nun verlockend, eine Erlösung von ihren Qualen.
Und wenn die Hand nun nicht die Kraft hatte, Stefanie hinunterzuziehen in das schlammige Grab? Wenn sie sich in einer Pattsituation befanden: Stefanie unfähig, den Fuß aus der Umklammerung der Hand zu ziehen, die Hand unfähig, Stefanie unter die Erde zu zerren? Wenn die Hand sie wirklich aushungern und verdursten lassen wollte? Stefanie wusste nicht, wie lange sie bei klarem Verstand bleiben konnte. Die Nacht war nicht mehr ganz so dunkel, es wurde langsam Morgen. Eine ganze Nacht lang war sie nun schon gefangen, davon die meiste Zeit bewusstlos. Wie viele weitere Tage und Nächte konnte sie überstehen, ohne den Verstand zu verlieren?
Und wenn sie sich die Pulsadern aufbiss?
Schnell und entschlossen handeln, einmal kurz die Zähne vergraben und alles hatte ein Ende.
Verlockend.
Sie hatte scharfe Zähne, das wusste sie. Einmal hatte sie Karla an einen Baum gefesselt, sie hatten Winnetou gespielt und Karla war das Halbblut gewesen, das an den Marterpfahl kommen sollte. Stefanies Knoten waren beeindruckend gut, sie hatte sie nicht mehr öffnen können. So hatte sie das drei Zentimeter starke Seil durchgebissen. Sie hatte zwar einige Mühe damit gehabt, aber ihre Zähne hatten sich schließlich als scharf genug herausgestellt.
Ja, mit einem Ruck die Pulsader aufbeißen und sie hatte der Hand ein Schnippchen geschlagen. Selbst über das eigenen Schicksal entscheiden, selbst die Todesart wählen, das war es, was Stefanie noch blieb. Darüber hatte die Hand keine Kontrolle.
Sie stellte sich die Wut der Hand vor, wenn diese feststellte, dass sie nur noch ein totes Stück Fleisch umklammerte. Der Gedanke, diese tote, kalte Hand wütend zu machen, gefiel ihr.
Sie wollte es tun. Sie wollte diesen einzigen Ausweg nehmen, der ihr noch offen blieb aus ihrer trostlosen Situation. Keine Schmerzen mehr. Keine eisige Umklammerung einer verwesten Hand mehr. Kein morgen. Keine Familie. Keine Freunde. Keine Geschichten mehr vom Wilden Westen. Keine Schule. Kein Hannes Gerber, der ihren Kopf zwischen seinen Händen hielt und sie aus seinen intensiven graugrünen Augen ansah.
Aber ein Ausweg.
Sie blickte auf ihre Arme, die sie in der Dunkelheit nur schemenhaft wahrnehmen konnte. Welchen sollte sie nehmen, den rechten oder den linken? Sie entschied sich nach einiger Überlegung schließlich für den rechten Arm. Ihr gefiel die Symbolik, die dahinter steckte. Die Hand hatte sie durch den Griff an den rechten Fuß gefangen genommen, mit einem Biss in den rechten Arm würde sie sich wieder befreien.
Sie fühlte den Drang, an ihrem Arm zu lecken und tat es. Salzig. Ein wenig sumpfig. Wie würde es schmecken, wenn sie hinein biss?
Stefanie legte ihren Mund, ihre Zähne, um die Stelle des rechten Unterarms, unter der sie die Pulsader vermutete. Ihre Zungenspitze ertastete die salzige Haut ihres Armes. Die Zähne gruben sich ein wenig ins Fleisch, so dass Druckspuren entstanden.
Nicht darüber nachdenken, es einfach tun, dem Grauen ein Ende setzen.
Sie biss zu.
Ihre Zähne gruben sich in ihren Unterarm und ritzten die weiche, aber dehnbare Haut auf. Blut sickerte in dünnen Rinnsalen aus den kleinen Wunden und benetzte ihre Lippen. Nach dem ersten Schock, der ihren Körper schüttelte, die Erkenntnis: Nicht tief genug! Sie hatte zu zögerlich zugebissen.
Sie ließ von ihrem Arm ab und betrachtete die Stellen, an denen die Zähne in ihr eigenes Fleisch gedrungen waren. Im ersten Moment hatte sie keinen Schmerz verspürt. Dann aber, nach einigen Augenblicken, fühlte sie das Pochen des Blutes in den Wunden, der Schmerz setzte ein. Kein Schmerz der Welt schien ihr vergleichbar zu sein mit dem, der von ihrem rechten Fuß ausging, doch taten die kleinen Wunden am Arm das Übrige, um sie vollends in eine Wolke nebligen Schmerzes zu führen. Sie nahm ihre Umgebung kaum noch war. Sie sah das Blut nicht, das von ihrem rechten Arm nun, nach dem ersten Adrenalinschub, der ihre Blutgefäße verschlossen hatte, in größerem Schwall nach außen drängte. Ihre einzige Wahrnehmung war Schmerz, überall. Sie stemmte sich gegen eine drohende Ohnmacht. Nicht schon wieder, ich muss durchhalten. Doch wozu eigentlich? War es nicht verlockender, sich dem Schmerz vollends hinzugeben und in eine andere Bewusstseinsebene zu gleiten? Sie war schon tot, ihr verzweifelter Biss in ihren Arm war lediglich Versuch, das Unausweichliche zu beschleunigen. Doch, da sie gescheitert war, fehlte ihr jegliche Motivation zu einem weiteren Versuch. Solle doch kommen, was wolle.
Gedankenverloren leckte sie wie eine Katze ihre Wunden und legte sich wieder flach auf den Boden. Sie wartete.

Langsam wurde es heller. Bis Sonnenaufgang konnte es nicht mehr lange dauern. Stefanie hatte die Nacht tatsächlich überstanden. Sie lag immer noch auf dem Boden. Sie wusste nicht, wie lange sie schon so lag. Sie hatte im Laufe dieser dunklen, alptraumhaften Nacht jegliches Zeitgefühl verloren. Sie hatte an nichts Besonderes gedacht, meistens dumpf in die Schwärze über sie gestarrt. Einzelne bildhafte Gedankenfetzen waren manchmal durch ihren Kopf geschossen: Hannes, wie er zum Schuss ansetzte, ihre Mutter, die in der Küche hantierte, Vater beim Kühe melken, Klara auf ihrem Lieblingspferd Paul, einem gewaltigen Wallach, ein riesengroßer, duftender Schweinsbraten, in der Sonne über Wiesen laufen, im Bett liegen mit einem Karl-May-Buch, Hannes, der ihren Kopf zwischen seine Hände nahm und ihr prüfend ins Gesicht blickte und immer wieder die schreckliche Hand und die kleine, weiße Made. Aber größtenteils beschränkte sich Stefanie darauf, an nichts zu denken. Denken machte sie müde.
Doch nun, mit zunehmender Helligkeit, kehrten auch langsam ihre Lebensgeister zurück. Sie fühlte sich stärker und, als die ersten Sonnenstrahlen, über das Blätterdach des Waldes auf die kleine Lichtung fielen, auch wieder willig, den Kampf gegen die Hand erneut aufzunehmen. Ein neuer Tag, dieser Gedanke gab ihr Kraft und Mut.
Sie setzte sich auf und rieb ihre müden Glieder. Die Wunden an ihrem Arm fingen bereits an zu verkrusten. Die Wunden pochten dumpf, aber nicht unangenehm. Anders verhielt es sich mit der Wunde an ihrem Fuß, in die sich die Hand mit ihren spitzen Fingernägeln gegraben hatte und die sich offensichtlich entzündet hatte. Auch war Stefanie immer noch leicht fiebrig. Doch sie fühlte sich bereit weiterzukämpfen. Sie gönnte sich noch eine kurze Pause, Zeit, sich für den Tag zu wappnen, bevor sie an Schlachtpläne dachte. Sie saß fast friedvoll am Boden und blinzelte in die Sonne. Wie sehr liebte sie das Tageslicht! Ihr war es früher nur nicht so bewusst gewesen. Man nimmt das Sonnenlicht für etwas Gegebenes und Alltägliches, man verschwendet normalerweise keinen Gedanken daran. Doch wenn man, so wie Stefanie, einmal fürchten muss, das Tageslicht nie mehr erblicken zu können, dann weiß man, was man daran hat. Es ist wie bei allem: Den wahren Wert einer Sache erkennt man erst dann, wenn man sie nicht mehr hat.
Also wieder auf in den Kampf! Sie wusste nun auch, worum sie kämpfen wollte. Sie wollte um ihr Recht kämpfen, die Sonne noch öfter aufgehen zu sehen. Das war ihre Motivation, keine andere wäre besser gewesen. Aber mit welchen Mitteln wollte sie diesen Kampf bestreiten? Der Gegner erschien übermächtig stark, zudem war er durch den Schlamm unsichtbar. Er war eingegraben im Sumpf. Wie sollte man gegen unsichtbare Gegner kämpfen?
Indem man ihn sichtbar macht.
Der Blitz der Erkenntnis traf Stefanie, sie richtete sich kerzengerade auf. Die Hand war eingegraben im Sumpf. Und wenn sie diese Hand nun ausgrub?
Das war es! Wie hatte sie nur so blind sein können? Die Lösung war doch offensichtlich. Sie würde ihren Fuß einfach ausbuddeln und mit ihm die Hand, sie würde die Hand ans Tageslicht holen und dann
und dann

abhacken!

ausreißen!

Und wenn sie sich jeden grässlichen, madenversuchten Finger einzeln vorknöpfen musste! Es lag nur an ihrer Willenskraft und die war nun, dank des Sonnenlichtes, wieder erstärkt. Ausgraben, draufschlagen, ziehen und zerren, wenn nötig reinbeißen. Aber am Ende des Tages würde die Hand keine Wunden mehr in Füße schlagen, da sie dann selbst zerrissen und zerstört sein würde!
Stefanie blickte grimmig auf ihr Bein, das im Morast verschwand. Sie stand auf und beugte sich hinunter, bereit zu graben, was ihre Hände und Arme hergaben. Mal sehen, wie dir das schmeckt.
Kurz, bevor sich ihre Finger in den Sumpf bohrten, zog die Hand energisch an ihrem Fuß. Sie schrie auf, zum einen aus Überraschung und zum anderen (was den Schrei in markerschütternde Höhen trieb) aus Schmerz, da sich durch das ruckartige Ziehen der Hand die Finger durch das Fleisch rissen, bevor sie den Fuß mit nach unten zogen. Stefanies rechtes Bein knickte ein und sie landete unsanft auf dem Hintern. Sie versuchte dagegenzuhalten, aber die Hand verströmte eine unbändige entfesselte Kraft, gegen die sie nicht ankommen konnte, gegen die niemand, auch der stärkste Mann nicht, ankommen hätte können.
Sie hat die ganze Zeit über mit mir gespielt.Stefanies rechtes Bein verschwand verzweifelnd schnell im Morast. Schon steckte ihr Bein bis zum Knie unter der Erde. Stefanie wurde förmlich nach unten gerissen.
Es hat ihr Spaß gemacht, mich leiden zu sehen.
Stefanie heulte auf, riss und zerrte an ihrem Bein, aber vergebens. Der Oberschenkel sank in den Boden und sie fühlte den kalten Matsch, der ihr rechtes Bein umhüllte. Sie warf sich von einer Seite auf die andere, aber nichts half. Sie kreischte in den schrillsten Tönen, dass sogar die wenigen Vögel im Wald, die zu ihrem Morgengezwitscher angesetzt hatten, verstummen. Sie fühlte, wie ihr Hintern versank. Sie versuchte, sich mit ihrem rechten Arm aufzustützen, was zur Folge hatte, dass der Arm ebenfalls im Sumpf verschwand. Die Hand zog nun schräg nach unten. So lag Stefanie seitlich auf dem sumpfigen Boden, wobei ihre rechte Seite fast vollständig unter der Erde war, während ihre linke Seite sich krampfartig aufbäumte und die Glieder wild in der Luft herumschlugen.
Der Hals.
Kalter Schlamm umspülte die rechte Seite ihres Halses. So kalt, so kalt, ich werde mich entzünden. Stefanie war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Sie war zu einer kreischenden, strampelnden linken Körperhälfte geworden.
Die Hand änderte die Richtung, in die sie zog, als gäbe es unterirdisch in ihrem toten Reich bestimmte Wege, denen man folgen musste.
Der Bauch.
Hintern und Bauch verschwanden vollkommen im sumpfigen Grab, während das linke Bein ab dem Knie grotesk in die Höhe stand.
Aufgrund der geänderten Zugrichtung nun das linke Bein, das seine spastischen Zuckungen aufgegeben hatte und still in der nassen Dunkelheit versank.
Die Brust.
Der ganze Hals. Zuvor war nur die rechte Hälfte des Halses in den Morast getaucht. Nun, da es wieder auf direktem Wege nach unten ging, folgte die linke Hälfte.
Weiter.
Tiefer.
Das Letzte, was Stefanie, nur halb bei Bewusstsein, wahrnahm, bevor der Schlamm über ihrem Gesicht zusammenschlug, war das Glitzern eines Wassertropfens, der an ihrem linken Augenlid hing.


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#2

Die Hand

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 07.09.2005 08:14
von kein Name angegeben • ( Gast )
Hallo Roderich,

ich kopiere mir mal das Ding und lese es in aller Ruhe! Dann gibt es einen Kommentar von meiner Wenigkeit! Bis dahin musst Du Dich leider gedulden ...

Liebe Grüße
Süßchen

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#3

Die Hand

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 07.09.2005 08:45
von Roderich (gelöscht)
avatar
Hallo Süßchen,

na, da bin ich schon mal gespannt. Viel Spaß beim lesen (ich hoffe, du hast auch Spaß dabei und es ist keine Quälerei).

Grüße

Thomas

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#4

Die Hand

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 07.09.2005 19:23
von kein Name angegeben • ( Gast )
Hallo Roderich!

Der Anfang, bis auf die ganzen Straßennamen (wofür?), ist gut ausgewählt. Da man sich bei so viel Modernität, Autos, Müll und Lärm regelrecht eine naturelle Rückzugsmöglichkeit ersehnt. Auf die Du dann, zum Glück, übersiedelst. In eine vergangene Zeit, wo scheinbar alles noch „in Ordnung“ war! D. h., die Natur noch vielmehr an reichlichem Grün und Hühnergegacker zu bieten hatte!
Hm, aber wie meinst Du es mit der „Gesellschaft der Tiere im Wald“? Ich würde es eher so nennen, dass man sich im Wald in der „Gesellschaft der Natur“ wohler fühlt. Auch ich bevorzuge Wiesen und Wälder, bevor es mich in die Stadt verschlägt. Leider, selbst bei noch so hingebungsvoller und stiller Beobachtung, leisten mir die Tiere keine Gesellschaft in dem Sinne! Ist wohl etwas übertrieben. Meiner Meinung nach! Tiere sind sehr scheu, und das zu Recht, somit schützen sie sich auch ...

Nun komme ich zu dem Teil, in welchem Stefanie in den Wald läuft und dabei an ihren tollen Hannes aus der Schule denkt. Die Stelle, bevor Du erklärst, warum sie ihn auf einmal so interessant findet, ist zu langatmig! Du erzählst etwas von Hannes, was Stefanie so nicht wissen kann, (in dem Moment nicht erlebt hat) oder auch nicht sieht in ihren Gedanken sieht. So zum Beispiel, dass der dicke Bertl sein Tor gut verteidigt und so weiter, so was nimmt doch eher ein Junge, ein Mitspieler, wie Hannes, wahr. Darum ist diese Erzählung unbrauchbar, meines Erachtens. Es reicht zu erklären, dass Hannes eben Fußball spielt und dann Stefanie ins Gesicht schießt. Die Szene, als Hannes zu ihr kommt und ihr Gesicht in seinen Händen hält, könntest Du stattdessen noch mehr ausschmücken, damit einem so richtig bewusst wird, wie sehr sich Stefanie zu Hannes hingezogen fühlt.
Bei der Matschstelle, mit den Schuhen, solltest Du mal andere Worte außer „Schuh“ verwenden, denn sonst wird es zu „schuhig“ . Z. B. Lederschuh, Schuhwerk, Trotteur oder ähnliches.
Nun komme ich auf die Ohnmachtsabsätze zu sprechen. Diese werden erst verständlich, als Du die Hand beschreibst. Hier machst Du zudem deutlich, dass sie jetzt Angst hat. Für immer haben wird, nicht nur im Wald, sondern auch des Nachts! Aber bitte, warum machst Du hier nicht weiter und steigerst die Panik in ihr! Damit auch der Leser „Angst“ bekommt ... ? Stefanie hat diese HAND gesehen!
Boar, ein kleines Mädchen, auch wenn sie schon groß sein möchte, würde völlig ausrasten! Find es komisch, mir vorstellen zu müssen, dass Stefanie nun eher an die Uhrzeit denkt - wie spät es nun sein würde?!
Ebenfalls ist es sehr merkwürdig, dass Stefanie erst dann weint, als sie nach dem zweiten Ohnmachtsanfall ihre aussichtslose Lage, von allen Winkeln betrachtet, erkennt! Mit ca. 13 Jahren würde jedes Kind schreien und heulen wie ein Schoßhund!!! Irgendwie empfinde ich Stefanie als etwas irre im Kopf!

Der Schluss ist dann etwas logischer, da nun endlich mal das ganze „Hand&Fuß-Theater“ ein Ende hat. Jedoch ist es hier auch nicht so logisch rübergekommen, warum gerade jetzt! Wieso nicht schon vorher und was hat es mit der Hand auf sich?
Warum erst die anfängliche Lovestory und dann der Todengruß einer Hand?

Soweit finde ich Deine Beschreibungen in der Geschichte ganz gut, wie den regen Wechsel von Erzählung, Stefanies Gedanken und Erlebnissen.
Dennoch bin ich nicht 100%ig begeistert, denn ich hab lange gebraucht mir Deine Kurzgeschichte durchzulesen. Bei sehr bewegenden und packenden Geschichten, kann ich oft nicht mehr aufhören die Absätze zu verschlingen ...
Vielleicht sehe nur ich dies so!

Lieben Gruß
Süßchen



P. S.: Ich hoffe Du bist nicht deprimiert, so schlimm war es nicht! Hab mich nicht quälen müssen. Aber wollte nur ehrlich und objektiv bleiben!!!

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#5

Die Hand

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 07.09.2005 19:55
von Roderich (gelöscht)
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Hallo Süßchen,

gleich einmal vorab: Ich bin natürlich keineswegs deprimiert darüber, dass meine Geschichte bei dir nicht so gut angekommen ist. Im Gegenteil, ich freue mich, so viel konstruktive Kritik vorzufinden, denn das hilft mir einfach mehr als eine kurze Zeile "Gut gemacht" oder "Schlecht gemacht".

Darauf möchte ich natürlich gleich einmal eingehen.

Die Straßennamen finde ich inzwischen auch überflüssig, da gebe ich dir vollkommen Recht. Ich habe das damals beim Schreiben ganz witzig gefunden, weil ich diese Straßen alle kenne und mich jedes Mal aufs Neue darüber wundere. Aber hier haben sie eigentlich nichts verloren.

Die Gesellschaft der Tiere im Wald ist tatsächlich ein wenig dick aufgetragen, auch hier deckst du gnadenlos und richtig auf. Selbst sieht man solche Sachen oft nicht, daher ist es umso besser, wenn du mich darauf ansprichst.

Nächste Stelle: Die Rückblende. Da hast du dir eine Stelle herausgesucht, bei der ich selbst ein wenig gehadert habe. Mein Ziel war es, den Leser ein wenig in Sicherheit zu wiegen, bevor ich dann die Stimmung kippen lasse. Aber hier wirkt das eher störend, weil die Fußballszene zu lang ist. Ich werde - wie an anderen Stellen auch - wohl noch mal den Rotstift zur Hand nehmen und kürzen.

Die Schuh-Matsch-Stelle ist kein großes Gemurkse zum ausbessern - solche Anregungen liebe ich.

Dass Stefanie ein wenig irre auf dich wirkt, ist schade. Ich wollte ein phantasiebegabtes, aber geistig vielleicht ein wenig frühreifes Mädchen darstellen, das solche Grauen etwas leichter wegsteckt als andere. Dass sie nicht komplett auszuckt, schreibe ich ihrer Frühreife zu Gute - so weiß sie, dass es nichts bringt, wenn sie komplett die Nerven wegschmeißt. Aber das ist mir scheinbar nicht gelungen *bedrückt dreinschau*

Die Hand wollte ich dann zuschlagen lassen, wenn Stefanie und auch der Leser wieder ein wenig Licht am Horizont sehen - wortwörtlich. Ich dachte mir, dass das die Wirkung verstärken könnte.

Und was es mit der Hand auf sich hat? Ich weiß es nicht. Hintergrund oder warum ich diese Geschichte geschrieben habe: Ich bin eines Tages in meinem Heimatkaff (siehe obige Beschreibung) neben einer morastigen Wiese gegangen und plötzlich ist mir der Gedanke geschossen, dass hier doch eine Hand rausschießen könnte, die den unbescholtenen Fußgänger packt. Wie ich auf diese Idee gekommen bin, weiß ich nicht - manchmal geht einfach meine Phantasie mit mir durch. Die Idee habe ich jedenfalls ganz witzig gefunden und mich dann gleich einmal daran versucht, eine Horrorgeschichte daraus zu basteln. Größere Ansprüche stelle ich damit nicht.

Jedenfalls noch einmal danke fürs Gelese und deine konstruktiven Kommentare. Wenn ich mir mein - zugegeben etwas hässliche - Baby noch einmal zur Brust nehme, dann weiß ich nun, wo ich ansetzen muss.

Grüße

Thomas

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#6

Die Hand

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 08.09.2005 08:17
von kein Name angegeben • ( Gast )
Hallo Roderich,

bin sehr froh, dass nicht nur ich die beschriebenen Textstellen etwas unharmonisch empfand! Schön, wenn ich Dir durch meine Kritik (bin ja leider kein Profi!) doch ein wenig nützlich war!

Fröhliches Schreiben und viel Kreativität,

wünscht Dir
Süßchen

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#7

Die Hand

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 09.09.2005 23:32
von sEweil (gelöscht)
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Hallo Roderich

Mal wieder langatming, was du da produziert hast, ich hab mir ein Herz gefasst und alles verschlungen und will dann gleich mal zu den Straßennamen vorstoßen.

Weiß nicht was ihr habt, ich finde es eine gelungene Darstellung des kleinen Kaffs, das es ist. Gerade mal, dass es überhaupt Straßennamen gibt.
Der Anfang ist gut gelungen. Der Übergang bis zu Stefanie.
Dann diese Beschreibung der Schule und dieser, wie man anfangs glaubt, Schlüsselszene. Die Hand des Jungen, aha, die Hand, so heißt es - man glaubt sofort den Titel im Text wieder gefunden zu haben, so gings mir.

- so sagst du, dass du den Leser in Sicherheit wiegen wolltest, ehe das schreckliche Abenteuer mit der Hand geschieht - was bei mir geklappt hat, nur und da will ich zum Schluss nochmal dazu kommen, schien es letztendlich doch etwas anders zu wirken.

Alles ist toll beschrieben und gefällt, bis zu dem Punkt, als die Hand auftaucht und sie packt. Da stört es mich immens, dass dieses Mädchen so ruhig, will ich fast sagen, auf die Situation reagiert. Erst natürlich diese Panik, die ich auch gut beschrieben finde, aber dann diese überlegte Ruhe, kurz nach dem gepackt sein.
Das abdrifften ist auch schön beschrieben, die Spannung jedoch ist etwas schleppend, es passiert nicht viel, es ist eher Gedankenarbeit.
Du beschreibst zwar auch diese gekonnt, aber Spannung, wie sie in einer Gruselgeschichte aufkommen sollte. (sollte!) ist hier keine vorhanden.
Zwar fragt man sich, was passieren wird, aber es ist nichts schockierendes gekommen.
Eine Unstimmigkeit sehe ich noch: Sie sieht vor ihrem geistigen Auge den Jungen, die er schießt, auf die Stange und ihr dann ins Gesicht - sie hat gelernt, ich glaube nicht, dass sie dem Spiel zugesehen hat?

Der Schluss hingegen ist einfach nur widerlich packend.
Ich konnte mir vorstellen, wie die kleien Stefanie da runtergezogen wird, bis zum Hals und dann vollkommen und wie auch noch das letzte Haar darin verschwindet, hat mich ganz schön geekelt.
Imposantes Finale, das ich, im Gegensatz zu Süßchen, auch verstehen kann, wie du beschreibst, dass die Hand nur mit ihr gespielt hat. Böser Sadismus.

Alles in allem seh ich hier eine Story, mit sehr guten Ansätzen, einige Kleinigkeiten sind es die mich stören, so auch das, was ich Anfangs als gut anerkannte.

Du wechselst sehr aprubt den Weg der Geschichte. Das, was du in Sicherheit wiegen nennst kommt beim Lesen als solches rüber, aber am Schluss denkt man sich dann: wars das?
Es ist sehr abgehackt, so emfpinde ich nach dem Lesen.

Das erst mal von mir.

Lg sEweil.

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#8

Die Hand

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 09.09.2005 23:40
von Roderich (gelöscht)
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Hallo sEweil,

vielen Dank für dein ausführliches Feedback. Tja, da wartet wohl noch ein wenig Arbeit auf mich, wenn ich diese Geschichte auf Vordermann bringen will. Wann ich das anpacke, weiß ich noch nicht - aber dass daran noch gefeilt werden muss, scheint klar zu sein. Danke dir fürs Aufzeigen der Ungereimtheiten. Ich sehe schon, ich muss mehr Panik reinbringen.

Grüße

Thomas

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