#1

Aphorismen und Plattitüden

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 27.11.2005 19:42
von Stephan Santfort (gelöscht)
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Aphorismen und Plattitüden


„... erschossen. Das Wetter: ...“ ich stellte das Radio ab, warf mir die Jacke über und begann damit, nach meinem Schlüssel zu suchen.
Wenige Minuten später war ich in gestresster Eile auf dem Weg zum Kino. Ich wusste nicht genau warum ich das tat, denn diese Idee war nicht von mir gekommen. Freunde hatten mir dieses „Meisterwerk“ ausdrücklich und mehrmals empfohlen. Es handelte sich um die Verfilmung irgendeines Buches irgendeines toten Autors aus irgendeiner toten Zeit. Es soll ursprünglich ein dicker Schinken voll revolutionärer Gedanken gewesen sein. Die Bearbeitung im Sinne des Drehbuches überstanden, prominenten Stimmen nach, die meisten der ursprünglichen Ideen und bedeutenden Kleinigkeiten nicht. Manche Stimmen bezeichneten den Film als einen „Witz aus Aphorismen und Plattitüden“.
Mir war es gleichgültig, denn im Sinn stand mir nur eine Gelegenheit, mir den Abend kurz und schmerzlos zu vertreiben. Später würde es zu spät sein, um noch irgendetwas sinnvolles zu tun und ich würde sofort ins Bett gehen.

Die Kassiererin warf mir einen anzüglichen Blick zu, ich erwiderte ihn.
Sie schob die Karte mit spinnengliedrigen Fingern, durch den schmalen Spalt zwischen Theke und Glasscheibe, in meine Richtung, ließ die Hand dann aber unbewegt. Ich wusste nicht, welche kranken Phantasien sie plagten und so erwiderte ich das Lächeln, stierte ihr kalt in die Augen und zog das Stück Papier langsam zu mir. Sie lächelte nachdrücklicher und ich ging.
Einer spontanen Laune folgend reihte ich mich in einen großen Strom von Mitvierzigern ein, doch sie gingen in einen anderen Film. Es war die noch melodramatischere, noch ergreifendere und noch lebenssnahere Umsetzung eines jüngeren Buches, dessen Autor sich seine Zeit mit Castingshows und nächtelangen Partys auf Privatjachten zu vertreiben pflegte.
Im Eingangsbereich meines Filmes blieb ich für ein paar Minuten stehen und rauchte eine, dann eine zweite Zigarette und beobachtete die Kinobesucher. Die meisten gingen direkt vom Kartenschalter zu den Vorführungssälen, an den Verkaufsständen mit den kleinen Sünden des gastronomischen Gewerbes vorbei, und verschwanden im Dunkel der Doppeltüren. Einige kamen hierauf gleich wieder nach Draußen und begingen eine kleine, gastronomische Sünde. Die meisten rauchten noch eine Zigarette.
Zwei schniefende Blondinen kamen vom Klo zurück und zeigten keine Form von Ausweichverhalten. Wie erwartet hatten sich sehr viele Studenten für diesen Film begeistert. Ein paar Politische waren auch erschienen, wobei ich an ihren lebendigen Diskussionen nicht genau festmachen konnte, welche der beiden Gruppen nun die Botschaft des Autors missverstanden hatte. Hier und da sah man künstlerisch engagierte Sekretärinnen und Bankangestellte, Personalchefs und Marketingbeauftragte. Bei den paar neutralen Personen die erschienen waren, konnte man keine herausragenden Interessen am Äußeren feststellen konnte. Der Großteil der wartenden Mehrheit jedoch war berechenbar und exzentrisch. Die meisten stilvoll gekleidet oder gänzlich ohne Stil, aber jeder ein Genie aus Symbolen.
Ich drückte meine Zigarette im Aschenbecher aus und ging zum Eingang.
Der Portier musterte mich langsam, während er bedächtig meine Karte an einem Ende abriss. Sein Bild von mir muss ähnlich schlecht gewesen sein, wie meines von ihm. Er präsentierte sich stolz in seiner goldbestickten Pagenuniform. Mir war es egal, dass ich mich drei Tage lang weder aus noch neu angezogen hatte. Er gab mir die Karte widerwillig zurück und auch ich verschwand in der Dunkelheit.

Die Fläche des Vorführungsraumes bot eine angenehme, leicht schräg abfallende Sitzgelegenheit für rund 300 Menschen, die sich wie in einer Kirche darbot (ohne die Sitzreihen links und rechts vom Altar). Dazwischen führten auf beiden Seiten weitläufige Treppen von der obersten Wand, bis ganz nach vorne.
Während ich mit dem Feuerzeug umständlich die Angaben zu meinem Sitzplatz heraus zu finden versuchte, erklang aus der Mitte der obersten Reihe der obligatorische Frauenwitz, gesprochen von der tiefen, ausdruckslosen Stimme eines Bodybuilders in der letzten Reihe, gefolgt von dem ausdruckslosen Gelächter mehrerer, anderer Bodybuilder und deren Freundinnen in der letzten Reihe.
Mein Platz war auf halber Höhe des Mittelschiffs ganz links, neben einem frustrierten Studentenpärchen. Er spielte mit nüchternen Gesten und Worten den Frauenversteher, sie ließ es sich gefallen und erzählte eine Anekdote aus der „heutigen Vorlesung“, während dem sie einfallsreich und wohlplatziert kicherte. Keiner schien ernsthaft der Werbung zu folgen, die sich aufdringlich auf der Leinwand ausbreitete. Ich hatte es mir bequem gemacht und die Geldbörse gleich am Anfang aus der hinteren Hosentasche genommen. Ein kurzer Rundumblick verschaffte mir eine Ahnung von der Aufteilung des Publikums im Saal.
Die Politischen hatten sich nach dem Daumen-Hand-Prinzip auf die äußeren Sitzreihen verteilt und bewarfen sich gegenseitig, über das Mittelschiff hinweg, mit Beleidigungen und individuellen Interpretationsansätzen des Buches. Für sie war auch das Kino Kulisse.
In der Mitte saß die kunst-, literatur- und andersinteressierte Mehrheit, die sich in ihren Gesprächen mit Stilmitteln selbst zu betonen suchte. Die Reihen vor mir hatte sich eine große Gruppe von Bankangestellten und deren Sekretärinnen niedergelassen. Ein junger Kerl schrie „Verkaufen, Verkaufen!“ in sein Handy und versuchte damit vergeblich, seine genervte Freundin zum Lachen zu bringen.
Mit einem Seufzer richtete ich den Blick auf die Leinwand.
Eine braungebrannte, südländische Primadonna hatte gerade platonischen Sex mit einem elektronischen Gebrauchsgegenstand. Ich bekam eine Erektion, doch dann ging das Licht verhalten an und der nutzlose Vorhang vor der Leinwand zog sich ein wenig zu. Weiter passierte nichts Außerordentliches, doch ein paar Minuten später ging das Gegenteil von statten. Es war das Zeichen für das Publikum, und dieses verstanden es, augenblicklich die Klappe zu halten.

Der Film übertraf meine Erwartungen gleich von Anfang an und war über die Maße langweilig und berechenbar. Er war wie jeder andere Film, der wie jeder andere Film ist.
Die ersten Zwischenrufe kamen von denen, die das Buch gelesen hatten. Sie empörten sich, am Anfang nur verhalten, später dann selbstbewusst.
„So ein Schwachsinn!“ krakeelte eine bieder wirkende Sekretärin ein paar Meter unter mir. „Bullshit!“ echote es aus den letzten Reihen, aber nur einer lachte. Er hatte die Botschaft des Autors falsch interpretiert und war daher über die Szene im Film amüsiert. So blamierte er sich vor seinen Freunden. Ähnliche Vorkommnisse vermehrten sich und auch das unverständliche Gemurmel der vielen Besserwisser erhob sich allmählich.
Es kam zu einer kränklichen Steigerung der Klimax nahe der Mitte des Filmes. Der Hauptdarsteller machte einer Nebendarstellerin, in Form eines Aphorismus, ein unmoralisches Angebot. Sie reagierte mit einer Plattitüde, lächelte scheu, rollte mit den Augen, schloss die Augen, drehte den Kopf nach Links, öffnete und rollte die Augen. Er räusperte sich und gab eine derbe Plattitüde zurück, drehte sich auf dem Absatz um und war gegangen.
„Ich brauch' 'nen Blowjob!“ schrie ein halb betrunkener, kunstinteressierter Bankangestellter vor mir. Dann lachte seine Gruppe eines dieser Gelächter, das betrunkene Gruppen mit einem geistigen Konsens zusammen zu lachen pflegen.
De Kerl legte dann seinen Arm um die Schultern der Sekretärin neben sich und sah sie auffordernd aber höflich an. „Mach schon, Kleines, sieht ja keiner!“ Die Gruppe lachte wieder so. „Mein Tag war scheiße, der Film ist scheiße, du bist Scheiße und ich bin Scheiße! Also was soll's?“
Von hinten schrie ein selbstbewusster Photographiestudent eine Beleidigung an den Kamermann.
Zu meinem Erstaunen, begann die Sekretärin sich frei zu machen.
Auch rundherum schien nun eine allgemeine Geschäftigkeit und Unruhe auszubrechen. In den vorderen Reihen stand ein einsamer Professor auf und verließ resigniert schlurfend den Saal.
Hinter mir begann Einer, laut schreiend, die These zu vertreten, dass niemand, der nicht jeden Reim auf jedes Wort kenne, Gedichte schreiben könne. Als ich mich umdrehte, wurde er gerade von einem formlosen Lyriker niedergeschlagen. Sekunden später hingen sich Klassik und Moderne fluchend in den Haaren.
Die Politischen indes hatten ihre Konfrontation wieder aufgenommen und warfen nun nicht mehr nur mit Worten, sondern auch mit Popkorn und, was die Situation dann zum eskalieren brachte, mit fast geschmolzenen Eiswürfeln. Aus dem Pulk der oberen Fünftausend vor mir war ein rhythmisch pulsierendes Organ geworden, das jeder Beschreibung zu spotten bereit war.
Die erste leere Bierflasche flog durch die Luft und verfehlte den Hauptdarsteller nur knapp.

Ich pflege in außergewöhnlichen Situationen, eine Zigarette zu rauchen.
So auch jetzt. Da kommt der Portier auch schon gestresst angejoggt und bittet mich höflich, das Gebäude, aufgrund dieser Unverschämtheit, zu verlassen..
Ich krame meine Jacke unter dem Stuhl hervor, werfe sie mir über die Schulter und verlasse das Gebäude. Es ist schon spät, zu spät um noch etwas sinnvolles zu tun.
Ich gehe nach Hause und lege mich schlafen.

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#2

Aphorismen und Plattitüden

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 27.11.2005 21:49
von kein Name angegeben • ( Gast )
Hallo Stephan!

Gefällt mir sehr gut deine Geschichte. Hab sie zwar eben nur schnell gelesen, werde ihr aber sicher noch mehr Zeit widmen.
Das „Milieu“, des Kinos und des Publikums, macht auf den ersten Eindruck einen sehr zwiespältigen Eindruck!...Macht mich sehr Neugierig!

LG
A.C.

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#3

Aphorismen und Plattitüden

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 28.11.2005 09:28
von Gemini • Long Dong Silver | 3.094 Beiträge | 3130 Punkte
Hallo Stephan

Ich habe deine Geschichte einmal kurz gelesen und möchte dir meine ersten Eindrücke vermitteln.
Zuerst hatte ich befürchtet, dass deine Vorliebe für Bukowski zu stark zum Tragen kommt, aber dem war nicht so. Ich konnte mich gut hineinlesen, obwohl du deinen Protagonisten etwas mehr in die Geschichte hättest einbringen können.
Auch zum Ende hin, hätte ich mir etwas mehr Tiefe erwartet. Die Szenerie mit den vielen Menschen, die sich aufgrund des Filmes in die Haare bekommen, kommt mir etwas unglaubwürdig vor, obwohl ich vermute, dass du aus deiner eigenen Erfahrung geschrieben hast.
Aber trotzdem, locker flockig, liest sich gut...

LG Gem

Ps.: Ein paar Schreibfehler sind schon drinnen.

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#4

Aphorismen und Plattitüden

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 28.11.2005 09:56
von Stephan Santfort (gelöscht)
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Hallo ihr beiden,

Ane:
danke für das Lob und ich hoffe, daß die Geschichte auch beim zweiten Mal lesen noch interessant sein wird.

Gemini:
Die Geschichte ist nicht unbedingt frei erfunden, aber erlebt habe ich sowas noch nicht .
Das ganze soll mehr als halb irreale Unterhaltung herhalten, ein Märchen vielleicht.
Die Hauptaussage, sollte es dir für die Interpretation und die mangelhafte Einbindung des Erzählers als Erklärung dienen, ist:
Nichts interssiert die Menschen mehr, als sie sich selbst.


Allgemein:

Hab die Geschichte nochmal durchgegangen und ein paar Fehler und Feinheiten ausgebessert.
Die Geschichte als solches wurde nicht angerührt

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#5

Aphorismen und Plattitüden

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 30.11.2005 23:32
von sEweil (gelöscht)
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Hallo.

Einen hab ich noch gefunden:
"Bei den paar neutralen Personen die erschienen waren, konnte man keine herausragenden Interessen am Äußeren feststellen konnte."

Konnte man gut lesen, auch die Beschreibungen gefallen mir. Das Verhalten der Anwesenden im Kino empfand ich auch als übertrieben, da hätte etwas anderes im kleineren Rahmen besser gepasst.
Lustig finde ich natürlich, dass alles toleriert wird, nur das "natürlichste" sich eine Zigarette anzuzünden nicht.

Lg sEweil.

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