#1

Eine Begegnung im neuen Jahr

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 01.01.2006 18:32
von Roderich (gelöscht)
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Eine Begegnung im neuen Jahr


Die letzten Feuerwerkskracher waren noch nicht hochgegangen, doch ich war müde und wollte ins Bett. So verabschiedete ich mich von den Meinen und trat den beschwerlichen Weg vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer an. Ich machte die Türe auf, ging in das Zimmer, knöpfte die ersten Knöpfe meines Hemds auf und … sah ihn: Einen in purpurnen Samt gekleideten Ziegenbock, alt und weise blickend, mit einem prächtigen, feuerrotem Bart. Der Rotbärtige Ziegengott! Er saß auf meinem Bett und winkte mir zu.
„He du, Kleiner, setz dich mal her!“
Ich war völlig von den Socken und kurzzeitig paralysiert. Er winkte nun energischer. „Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit, also was ist?“
Meine Füße erwachten und bewegten sich schlurfend vorwärts, auf das Bett zu. Ich selbst, mein Kopf, wollte nichts wie weg, doch die Kontrolle über meine Füße lag nicht mehr in meinem Bereich. Und so kam es, dass ich mich gegen meinen Willen auf das Bett verfrachtet sah und so dem Rotbärtigen Ziegengott aus kürzester Distanz in die gelben Augen blicken musste.
Meine ersten Worte, nachdem ich meine Stimme wiedergefunden hatte: „Du bist der … der ….“, an dieser Stelle überschlug sich meine Stimme und versandete in den Tiefen meiner Angst.
Der Ziegengott nickte. „Genau, du weißt es ohnehin. Ich bin der Rotbärtige Ziegengott. Du wolltest mal über mich schreiben, mich als Figur in eine Erzählung einbauen. Was glaubst du, warum ich in dieser Gestalt erscheine? Ich wollte dir das Erkennen leichter machen.“
„Aber warum bist du hier?“, krächzte ich.
„Nennen wir es mal einen Jahresrückblick, der mich zu dir geführt hat. Du warst fleißig im alten Jahr. Du hast geschrieben. Dich bei verschiedenen Literaturforen angemeldet und dort das von dir Verfasste der Meute zum Fraß vorgeworfen. Du hast versucht, aus den positiven wie negativen Kritiken zu lernen. Hast an dir gearbeitet. Und weitergeschrieben. All das ist gut und schön. Man könnte meinen, dass du deinem Ziel ein Stück näher gekommen wärst.“
„Man könnte meinen?“, erwiderte ich. „Warum könnte man nur? Ich denke schon, dass ich mich auf dem schriftstellerischen Gebiet verbessert habe.“
Langsam gewann ich an Selbstsicherheit.
„Überschätz dich da mal nicht, kleiner Dichter“, höhnte der Rotbärtige Ziegengott. „Ich erinnere mich, dass du in deinem Profil angegeben hast, ein armseliger Wörterverknoter zu sein. An dem armselig zweifle ich nicht, doch was ist nun mit dem Verknoten der Wörter? Soviel hast du dir vorgenommen“, an dieser Stelle schüttelte er betrübt den Kopf, „und so wenig ist dir gelungen. Du hast geschrieben ja, aber meistens planlos, aus einer Laune heraus. Du selbst hast das Dichten einmal mit dem Komponieren verglichen, doch wo sind deine schönen Kompositionen? Viel zu selten bist du sowohl mit Herz als auch Verstand an die Sache herangegangen. Und wenn deine Finger nicht ein wenig Talent hätten, wie viele schlechte Texte hättest du wohl veröffentlicht?“
Er wurde lauter und lauter und offensichtlich immer zorniger.
„Alleine deinen Fingerspitzen, die, wenn man sie lässt, durchaus Ambitionen zeigen, ist es zu verdanken, dass dich die kritische Meute nicht schon hochkant aus den Foren hinausgeschossen hat. Du wolltest Wörter verknoten, schön und fest? Aber deine Texte strotzen nur so von Lücken und halbfertigen Maschen. Hier ein Löchlein, da ein Löchlein. Alles lose. Wo sind deine strammen Wörterknoten? Kaum etwas von dir ist wirklich festgezogen; wenn man an einem Ende zieht, löst sich alles in Nichts auf. Nicht, dass du keine Knoten machen könntest. Du hast es ein paar Male schon gezeigt – zumindest die Ansätze dazu. Aber Geduld – daran mangelt es dir offensichtlich. Du schreibst aus einer Laune heraus, du lässt deine Finger über die Tastatur fliegen, ohne richtig hinzugucken. Wo ist die Vorbereitungszeit, wo ist die Nachbearbeitung? Oder anders gesagt: In welchen Phasen machst du aus diesen Maschen deine viel beschworenen Knoten?“, donnerte er.
Ich saß geknickt auf meinem Bett, jeder einzelne seiner Sätze war ein schwerer Keulenschlag für mich und doch hatte er Recht.
Er fuhr mit seiner Standpauke fort, seine Hufen theatralisch umherschwingend: „Jetzt reiß dich endlich mal zusammen! Denke nach, bevor du dich an deine Tastatur setzt. Und widme deinen Texten jene Zeit, die sie benötigen! Ich weiß, du hast das Zeug zu einem passablen Schreiberling. Wahrscheinlich wirst du niemals davon leben können, aber du kannst vielleicht dir und deinen Lesern ein paar schöne Momente bescheren. Vergeige es nicht, indem du glaubst, du würdest ohne Schweiß dein Ziel erreichen! Also“, er holte tief Luft, „für das neue Jahr habe ich einen Auftrag für dich, einen Neujahrsvorsatz. Schreib weniger!“
Ich blickte verdutzt.
„Schreib weniger, aber dafür besser und denke deine Texte durch, bevor du sie irgendwo postest, wo sie dann von den Experten genüsslich in kleine Einzelteile zerlegt werden können. Veröffentliche sie nur dann, wenn sie wasserfest sind. Gut, das ist nicht immer möglich, dein Talent ist beschränkt. Aber so lange du selbst noch Bedenken hast, lasse es! Schnipsele an deinen Texten herum, schiebe die Wörter hin und her, bis deine Bedenken zerstreut sind. Erst dann lasse sie begutachten. Und denk, Herrgott noch einmal, nach, bevor du dich ans Schreiben machst. Erstelle ein Konzept, entwickele eine Struktur! Du bist so ungeduldig. Das ist auch der Grund, warum du trotz aller guten Vorsätze, einmal einen ganzen Roman zu schreiben, noch nicht einmal eine klitzekleine Novelle geschrieben hast. Was ist mit all den guten Gedanken, die in deinem Kopf umherschwirren? Ich sage dir: Du hast gute Ideen. Nur musst du mehr Sitzfleisch zeigen. Ach, ich wiederhole mich. Aber ich denke, wir verstehen uns. Und nächstes Jahr komme ich wieder, um die gleiche Zeit. Ich werde bis dahin alles lesen, was du im Internet veröffentlichst. Glaube nicht, wir hätten da oben keine Computer! Ich werde aufs Genaueste lesen, was du schreibst und ich werde es bewerten. Und Gnade dir Gott, wenn ich nächstes Jahr die gleiche Predigt noch einmal halten muss!“
Mit diesen Worten verschwand er, löste sich tatsächlich in Luft auf. Ich selbst saß noch lange da, gedankenverloren und, um ehrlich zu sein, auch vollkommen eingeschüchtert.
Seit diesem Erlebnis sind nun einige Stunden vergangen. Ich werde mir die Worte des Rotbärtigen Ziegengottes zu Herzen nehmen. Dies ist der letzte Text, den ich unbedacht und planlos schreibe. Denn ich weiß, der Rotbärtige Ziegengott kann mir höllisch weh tun. Ich habe seine Hufen gesehen. Ein wenig Blut klebte an ihnen.
Dichterblut, wie ich annehme.


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#2

Eine Begegnung im neuen Jahr

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 03.01.2006 18:14
von Joame Plebis | 3.690 Beiträge | 3826 Punkte
Ach ja, lieber Roderich, ich vergaß ganz, hier an dieser Stelle, Deine Erzählung zu loben, die mir gefällt.
Phantasievoll und Locker! Vielleicht Dein Gebiet, dem Du Dich mehr zuwenden könntest.

Es hat mir gut gefallen!

Freundlichen Gruß:
Joame

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#3

Eine Begegnung im neuen Jahr

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 03.01.2006 19:50
von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte
Ich stimme Joame zu. Gut geschrieben, vielleicht sind die Passagen, die der Ziegenbock spricht, etwas lang geworden und am Anfang versuchst du komisch zu sein..... beschwerlicher Weg zum Schlafzimmer. So etwas ist unnötig und wirkt zu bemüht.
Zitat:

Meine Füße erwachten und bewegten sich schlurfend vorwärts, auf das Bett zu. Ich selbst, mein Kopf, wollte nichts wie weg, doch die Kontrolle über meine Füße lag nicht mehr in meinem Bereich. Und so kam es, dass ich mich gegen meinen Willen auf das Bett verfrachtet sah und so dem Rotbärtigen Ziegengott aus kürzester Distanz in die gelben Augen blicken musste.

Auch das ist zu lang und zu konstruiert.

Inhaltlich sprichst du sicher vorwiegend AutorInnen an, die die Zweifel am eigenen Schreiben kennen und sich in der Standpauke wieder finden.

Gruss
Margot


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#4

Eine Begegnung im neuen Jahr

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 03.01.2006 22:56
von Roderich (gelöscht)
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Hallo Margot, hallo Joame,

vielen Dank für eure Kommentare und das Lob!

@ Joame: Eigentlich komme ich mehr aus der Kurzgeschichtenecke, wenn man so will. Das erste Mal habe ich mich vor ein paar Monaten ernsthaft mit Lyrik beschäftigt. Hat eine Weile gedauert, bis das verdichtete Wort bei mir die richtigen Knöpfe gedrückt hat. Insofern habe ich wohl bei den Erzählungen ein wenig mehr Erfahrung, obwohl ich auch vorher nicht viel (Vernünftiges) geschrieben habe. Kurzgeschichten und Erzählungen behalte ich jedenfalls im Visier, ganz klar.

@ Margot: Ich weiß, ich weiß. Krampfhaft witzig zu wirken kann ganz schön daneben gehen. Ich habe gehofft, dass ich es hier nicht übertrieben habe, aber deinen Argusaugen entgeht bekanntlich nichts. So auch hier.

Inhaltlich spreche ich vor allem mich selbst an. Man könnte sagen, dass ich hier meinen eigenen Neujahrsvorsatz eingebaut habe. Und auch wenn man normalerweise niemals Rückschlüsse vom lyr. Ich auf den Autor machen sollte, hier ist es sogar erwünscht. So schizophren es auch klingen mag, aber die Standpauke habe ich mir selbst verpasst. Ich hoffe, sie wirkt. [1]

Viele Grüße euch beiden

Thomas

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