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#1
von Olaf Piecho (gelöscht)
Der Scheck
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 19.03.2006 10:06von Olaf Piecho (gelöscht)
Verstehen Wartezimmer etwas von Pädagogik? Nein, das wird niemand ernsthaft behaupten. Und doch wollen sie uns Geduld lehren. Wir erachten die dort verbrachte Zeit als nutzlose Minuten, füllen sie mit Nebensächlichkeiten, hoffen auf schnelle Heilung. Alle Warteräume aber haben eines gemeinsam: unbequeme Stühle und ein eigentümli-ches Sammelsurium krauser Zeitschriften.
Auf dem blank polierten Messingschild hätten sie lesen können „Psychologe und Psychotherapeut Dr. Mai", doch dafür war keine Zeit. Für einen Moment sah es so aus, als ob sich Marek Sonntag mit der etwa gleichaltrigen Frau in der Tür verkeilen würde. Ihr energisches "Sie werden doch einer Dame den Vortritt lassen!?" sorgte zwar für die vage Einhaltung antrainierter Umgangsformen, verursachte aber zugleich einen pelzigen Geschmack auf seiner Zunge. Die Frau fingerte aus ihrer gerippten Handtasche eine Lesebrille und setzte sie etwas affektiert ins Gesicht. Gleich darauf betrat ein zweiter, zart wirkender Herr, mit spitzem Gesicht, ebenfalls im schwarzen Mantel, den Warteraum.
"Sie müssen halb blind sein, wenn sie diese Schrift nicht lesen können", revanchierte sich Marek Sonntag.
Die Frau drehte sich um und erwiderte wie aus der Pistole geschossen: "Würden Sie ihre impertinenten Äußerungen bitte für sich behalten? Was erlauben Sie sich denn!"
"Wieso?", tönte der Getroffene mit sonorer Stimme. „Da steht in den größten Buchstaben: ‚Bitte klopfen und warten!’. Und wenn sie dafür eine Brille brauchen, dann habe ich doch Recht. Oder?"
Er stellte seinen silbernen Businesskoffer auf einen der Stühle, suchte in ihm nach seinem Organizer und überprüfte die Uhrzeit mit dem vorgemerkten Termin.
"Entschuldigung!", raunte der zweite Schwarzmantel, trat an der Frau vorbei und klopfte laut an die Sprechzimmertür. Die zwei Herren sahen sich verstehend an; verschmitzt lächelnd der eine, kopfschüttelnd und nur kurz vom Gerät aufblickend der andere. Die Tür wurde von einer korpulenten Frau im weißen Kittel geöffnet, die gut zehn Jahre älter als die drei Wartenden hätte sein können. Auf ihrer Brust strahlte ein Schwester-Edeltraut-Schild, ihr glattes Gesicht barg verhaltene Güte und zugleich unnachgiebige Strenge.
"Bitte?"
Die zwei Herren begannen gleichzeitig zu reden, sprachen von einem telefonisch vereinbarten Termin, und dass sie es eilig hätten.
"Gehören sie zusammen?"
Beide schüttelten den Kopf.
"Mein Name ist Marek Sonntag, Privatpatient", sagte der Businesskoffermann über die Köpfe der anderen hinweg, "ich habe um 17:00 Uhr den Termin bei Dr. Mai."
"Ich bin Tilo Wachsmuth, Schwester. Und ich muss sagen, ich bin etwas verwirrt… Ich habe doch um 17:00 Uhr den Termin, oder etwa nicht?"
Die Schwester löste sich aus der Tür, stampfte durch das Wartezimmer, zog einen Schlüssel aus der Kitteltasche und schloss die Praxis ab.
"So, für heute sind Sie die letzten Patienten, irgendwann haben wir alle einmal Feierabend." Dann ging sie auf die Frau zu und sagte im vertraulichen Ton: "Frau von Selz, Dr. Mai wird sich etwas verspäten, er bittet Sie hier zu warten."
"Heißt das etwa, dass Dr. Mai gar nicht im Haus ist? Sie wissen, dass ich extra aus Hamburg…"
"Sie haben eine schnelle Auffassungsgabe, Herr Wachsmuth“, fiel ihm die Schwester lobend ins Wort, "leider haben wir den 17:00 Uhr-Termin versehentlich gleich zweimal vergeben. Wir bitten das zu entschuldigen. Aber keine Sorge, Herr Dr. Mai wird sicher bald hier sein."
Damit schloss sich die Tür, die drei Wartenden waren wieder allein. Mantel ausziehen, Portmonee aus der Tasche nehmen und nebenbei den Platz erspähen.
Marek Sonntag schaute sich im rechteckigen Raum um. Er zählte acht unbequeme Stühle und auf zwei kleinen Tischen vier krause Zeitschriften. Neben der Sprechzimmertür befand sich links die Toilette, dazwischen stand der Garderobenständer. An den Wänden hingen beleuchtete, große Bilder eines lokalen Künstlers, auf einem erkannte er das hiesige Rathaus im Fachwerkstil. Er stand auf, ging unruhig zur Sprechstundentür. Vier Schritte. Dann zur Eingangstür. Acht Schritte. Drehung und zurück. Acht Schritte. Im Kopf rechnete er die heutigen Abschlüsse zusammen. Wendung und wieder acht Schritte. Er wusste, das auferlegte Ziel war noch nicht erreicht. Sieben Schritte. Marek Sonntag öffnete die Tür zur Toilette, wusch sich die schweißnassen Hände und begann erneut auf und ab zu laufen. Wie sagt doch mein Chef immer, dachte er, das Geld liegt auf der Straße, man muss es nur aufheben. Wenn ich bis zum Wochenende mein Soll nicht schaffe, bin ich geliefert. Bausparverträge, pah! Bei diesen niedrigen Zinsen, wer will da noch Bausparverträge? Ich muss mehr Aktienfonds anbieten, irgendeinen mit Rohstoffen und Solarzellen. Er klingte an der verschlossenen Eingangstür. Tatsächlich abgeschlossen, jetzt kann ich nicht einmal mehr das Geld aufheben.
"Nun setzen Sie sich schon hin", seufzte das Spitzgesicht, "Sie machen einen ja ganz nervös." Tilo Wachsmuth - ganz in Schwarz gekleidet, nur durch den offenen Hemdausschnitt leuchtete es Weiß - hatte sich inzwischen an einem kleinen Tisch in der Mitte des Raumes niedergelassen und blätterte lustlos durch Feng Shui-Ratschläge und Sauerkraut-Diäten. Zeitungsrascheln, gelegentliche Blicke auf Armbanduhren, unauffälliges Beobachten über den Brillenrand.
Marek Sonntag kramte sein Handy aus dem Koffer und legte es neben sich auf einen Stuhl. Als ob er eine Eingebung gehabt hätte, blickte er zur inzwischen in ein Buch vertieften Dame. Sie hat bestimmt schon eine Lebensversicherung; einen Bausparvertrag will sie nicht, so etwas rieche ich. Aber Aktienfonds? Ich muss sie in ein Gespräch verwickeln. Wie hieß sie noch gleich? Die Menschen hören so gern ihren eigenen Namen. Cool bleiben, jetzt kommt es darauf an.
"Frau von Selz?"
Die Angesprochene blickte neugierig auf. Grüne Augen, ich mag grüne Augen. Und dazu dieses wissende Lächeln!
"Ja?"
"Sind Sie auch für 17:00 Uhr bestellt?"
"Nein, für 17:30 Uhr, aber ich bin gern etwas eher da."
"Aha… Waren Sie schon oft bei Dr. Mai, ich meine wie ist er?"
"Oh, er ist eine Kapazität auf seinem Gebiet, ich habe lange nach einem solchen Therapeuten gesucht. Glauben Sie mir, das Warten lohnt sich."
"Natürlich, natürlich... Haben Sie es auch bemerkt?" Marek Sonntag wischte sich mit einem gefalteten Stofftaschentuch kleine Schweißperlen von der Stirn. "Die Schwester hat uns eingeschlossen. Sie hat einfach den Schlüssel rumgedreht und abgezogen! Niemand von uns kann diesen Raum verlassen. Warum macht sie das mit uns? Dabei habe ich heute noch Termine. Ich kann gar nicht solange warten."
"Klaustrophobie?"
"Nein, nein, ich bin Vermögensberater. Wenn Sie einmal in Ihre Zukunft investieren wollen", sagte Herr Sonntag und überreichte der Dame eine Visitenkarte, "ein Anruf genügt. Für Sie bin ich immer da."
Frau von Selz nutzte die Karte als Lesezeichen und schlug das Buch zu. "Vermögensberater? Ach! Meinen habe ich gerade zum Teufel gejagt. Stellen Sie sich vor, die letzten Jahre habe ich auf sein Anraten viel Geld in einen Immobilienfond gesteckt. Und nun hat die Bank diesen einfach geschlossen."
"Tja, es gibt immer schwarze Schafe in der Herde."
"Platzangst", mischte sich, eine latente Überlegenheit in der Stimme, der schwarze Herr ein, "die Dame wollte wissen, ob Sie an Platz Angst leiden."
"Platzangst? Nein. Ich weiß nicht. Ich mag es nur nicht besonders, wenn man mich einschließt."
Tilo Wachsmuth nickte verständnisvoll lächelnd, wandte sich dann aber an Frau von Selz: "Wenn Sie in die Zukunft investieren wollen, sollten Sie nach Alternativen suchen."
"Ach", sagte die Dame überrascht, "sind Sie auch Vermögensberater?"
"Um Himmels willen, nein!", wehrte Wachsmuth ab und fügte etwas ruhiger an, "Ich bin Priester."
"Ein Pastor?", fragte sie ungläubig.
"Gestatten? Bischof Wachsmuth aus Hamburg. Und mit wem habe ich die Ehre?"
Einen Augenblick schien die Dame verblüfft, dann lächelte sie kurz und nickte dem Bischof zu. "Gräfin Sibylle von Selz.“
„Sehr angenehm.“
"Sie sprachen von Alternativen; welche gibt es denn für meine Zukunft?"
"Warum investieren sie nicht in Gott? Glauben Sie mir, eine bessere Anlageform gibt es nicht."
"So?", rutschte es Marek Sonntag heraus. "Da bin ich aber gespannt.“
„Einmal kam Jesus nach Jericho“, begann der Bischof zu erzählen. „Da gab es einen Zöllner Namens Zachäus, der auf einem Baum saß und Ausschau hielt. Was meinen Sie, warum Jesus den Zachäus vom Baum herab steigen ließ?“
Nein, Marek Sonntag war kein Christ. Er stöhnte bei dem Gedanken, dass er einer Wiederholung der letzten Sonntagspredigt nicht entfliehen konnte. Eine Weile noch hörte er sich die Ausführungen an und staunte, dass auch der Bischof Zachäus verstehen konnte. „Es ist nun mal so, Geld schließt viele Türen auf. Und was geben wir nicht alles für das Gefühl, irgendwo dazu zu gehören. Zachäus befand sich in einer Sackgasse, hatte sich im Labyrinth von Immer-mehr-haben-Wollen verrannt.“
Marek Sonntag hielt es nicht mehr aus. Er nahm sein Handy und suchte die Nummer von Dr. Mai. Kein Empfang? Ärgerlich sprang er zurück, ging zur Sprechstundentür und klopfte. Hinter der Tür blieb es ruhig. Nochmaliges Klopfen. Nichts rührte sich.
„Würden Sie bitte das Fenster schließen?“, mahnte der Bischof, der sich inzwischen seinen weißen Schal um den Hals gewickelt hatte. „Ich vertrage nämlich keine Zugluft.“
„Und ich vertrage Ihr Geschwafel nicht. Ganz schlecht wird mir dabei!“
Einen Moment nur sah ihn der Geistliche verdutzt an,„Investieren Sie in Gott, lassen Sie sich von Jesus erlösen und Ihr Leben hat wieder eine Zukunft!“
Die Gräfin hatte aufmerksam zugehört, hing förmlich mit ihren Augen an den spitzen Lippen von Bischof Wachsmuth und ließ das Gesagte einige Sekunden auf sich wirken. „Ich möchte Sie unterstützen.“
„Oh, Gräfin Sibylle, ich darf Sie doch so nennen“, säuselte der Bischof, „das hätte ich nie zu hoffen gewagt.“
Marek Sonntag hämmerte nun mit seiner Faust gegen die Tür. Er atmete heftig, unter den Achseln seines weißen Hemdes waren deutliche Schweißspuren zu sehen. Endlich hörte er klappernde Schritte, die Tür öffnete sich und eine zornige Schwester Edeltraut wies Herrn Sonntag zurecht. Im Übrigen wäre der Doktor soeben gekommen und Herr Wachsmuth dürfe eintreten.
„Ich will aber nicht länger warten“, rief Marek Sonntag dem Bischof hinterher, der durch das Sprechzimmer ging und im Therapieraum hinter einer gefütterten Tür verschwand.
„So? Na dann kommen Sie mal mit.“
Marek Sonntag folgte demütig der Schwester, setzte sich im Sprechzimmer auf einen freien Stuhl und sah ungeduldig auf die große Wanduhr.
„Wird der Bischof lange brauchen?"
„Welcher Bischof?“, fragte Schwester Edeltraut ohne von ihrem Schreibtisch aufzublicken.
„Na Bischof Wachsmuth, wer denn sonst?“
„Hat er das gesagt?“
„Wie bitte? Ich verstehe Sie nicht.“
„Manche behaupten auch, sie wären der Papst.“
„Wirklich? Ach du Schreck!“ Marek schlug sich auf die Stirn, sprang auf und rannte in das Wartezimmer.
„Frau von Selz, stellen Sie sich vor, der Wachsmuth ist ein Hochstapler! Sie haben Ihren Scheck einem Betrüger gegeben!"
„Aber Herr Sonntag, regen Sie sich doch nicht so auf. Seine Megalomanie war das Erste, was mir auffiel. Oder haben Sie schon mal einen Bischof bei einem Psychologen gesehen?"
“Wie bitte? Was meinen Sie denn damit? Ein Priester ist er jedenfalls nicht.“
"Er ist so wenig ein Bischof, wie ich eine Gräfin bin..."
"Was denn, keine Gräfin? Aber ihr Name...."
"Ha!“, lachte die Frau kurz auf, „Mein Name ist das Einzige, was ich von meinem Vater geerbt habe. Und was Tilo Wachsmuth betrifft: etwas Größenwahn, etwas religiöser Sendungswahn. Seine Zachäus-Geschichte ist doch das beste Beispiel und war zugleich sehr amüsant."
"Na ich weiß ja nicht. Wenn man Sie so reden hört, könnte man denken, Sie haben drei Semester Psychologie studiert."
"Ich? Ach wo, ich bin Schauspielerin.“
„Und was sollte das dann mit dem Scheck?“
„Wollen Sie auch einen?" Noch einmal beobachtete Marek Sonntag, wie die ehemalige Gräfin verdeckt etwas schrieb und einen weiteren Umschlag zuklebte. "Ich habe ihn auf Ihren Namen ausgestellt. Das Kuvert aber erst öffnen, wenn sie zuhause sind!"
"Natürlich, natürlich..."
Auf dem blank polierten Messingschild hätten sie lesen können „Psychologe und Psychotherapeut Dr. Mai", doch dafür war keine Zeit. Für einen Moment sah es so aus, als ob sich Marek Sonntag mit der etwa gleichaltrigen Frau in der Tür verkeilen würde. Ihr energisches "Sie werden doch einer Dame den Vortritt lassen!?" sorgte zwar für die vage Einhaltung antrainierter Umgangsformen, verursachte aber zugleich einen pelzigen Geschmack auf seiner Zunge. Die Frau fingerte aus ihrer gerippten Handtasche eine Lesebrille und setzte sie etwas affektiert ins Gesicht. Gleich darauf betrat ein zweiter, zart wirkender Herr, mit spitzem Gesicht, ebenfalls im schwarzen Mantel, den Warteraum.
"Sie müssen halb blind sein, wenn sie diese Schrift nicht lesen können", revanchierte sich Marek Sonntag.
Die Frau drehte sich um und erwiderte wie aus der Pistole geschossen: "Würden Sie ihre impertinenten Äußerungen bitte für sich behalten? Was erlauben Sie sich denn!"
"Wieso?", tönte der Getroffene mit sonorer Stimme. „Da steht in den größten Buchstaben: ‚Bitte klopfen und warten!’. Und wenn sie dafür eine Brille brauchen, dann habe ich doch Recht. Oder?"
Er stellte seinen silbernen Businesskoffer auf einen der Stühle, suchte in ihm nach seinem Organizer und überprüfte die Uhrzeit mit dem vorgemerkten Termin.
"Entschuldigung!", raunte der zweite Schwarzmantel, trat an der Frau vorbei und klopfte laut an die Sprechzimmertür. Die zwei Herren sahen sich verstehend an; verschmitzt lächelnd der eine, kopfschüttelnd und nur kurz vom Gerät aufblickend der andere. Die Tür wurde von einer korpulenten Frau im weißen Kittel geöffnet, die gut zehn Jahre älter als die drei Wartenden hätte sein können. Auf ihrer Brust strahlte ein Schwester-Edeltraut-Schild, ihr glattes Gesicht barg verhaltene Güte und zugleich unnachgiebige Strenge.
"Bitte?"
Die zwei Herren begannen gleichzeitig zu reden, sprachen von einem telefonisch vereinbarten Termin, und dass sie es eilig hätten.
"Gehören sie zusammen?"
Beide schüttelten den Kopf.
"Mein Name ist Marek Sonntag, Privatpatient", sagte der Businesskoffermann über die Köpfe der anderen hinweg, "ich habe um 17:00 Uhr den Termin bei Dr. Mai."
"Ich bin Tilo Wachsmuth, Schwester. Und ich muss sagen, ich bin etwas verwirrt… Ich habe doch um 17:00 Uhr den Termin, oder etwa nicht?"
Die Schwester löste sich aus der Tür, stampfte durch das Wartezimmer, zog einen Schlüssel aus der Kitteltasche und schloss die Praxis ab.
"So, für heute sind Sie die letzten Patienten, irgendwann haben wir alle einmal Feierabend." Dann ging sie auf die Frau zu und sagte im vertraulichen Ton: "Frau von Selz, Dr. Mai wird sich etwas verspäten, er bittet Sie hier zu warten."
"Heißt das etwa, dass Dr. Mai gar nicht im Haus ist? Sie wissen, dass ich extra aus Hamburg…"
"Sie haben eine schnelle Auffassungsgabe, Herr Wachsmuth“, fiel ihm die Schwester lobend ins Wort, "leider haben wir den 17:00 Uhr-Termin versehentlich gleich zweimal vergeben. Wir bitten das zu entschuldigen. Aber keine Sorge, Herr Dr. Mai wird sicher bald hier sein."
Damit schloss sich die Tür, die drei Wartenden waren wieder allein. Mantel ausziehen, Portmonee aus der Tasche nehmen und nebenbei den Platz erspähen.
Marek Sonntag schaute sich im rechteckigen Raum um. Er zählte acht unbequeme Stühle und auf zwei kleinen Tischen vier krause Zeitschriften. Neben der Sprechzimmertür befand sich links die Toilette, dazwischen stand der Garderobenständer. An den Wänden hingen beleuchtete, große Bilder eines lokalen Künstlers, auf einem erkannte er das hiesige Rathaus im Fachwerkstil. Er stand auf, ging unruhig zur Sprechstundentür. Vier Schritte. Dann zur Eingangstür. Acht Schritte. Drehung und zurück. Acht Schritte. Im Kopf rechnete er die heutigen Abschlüsse zusammen. Wendung und wieder acht Schritte. Er wusste, das auferlegte Ziel war noch nicht erreicht. Sieben Schritte. Marek Sonntag öffnete die Tür zur Toilette, wusch sich die schweißnassen Hände und begann erneut auf und ab zu laufen. Wie sagt doch mein Chef immer, dachte er, das Geld liegt auf der Straße, man muss es nur aufheben. Wenn ich bis zum Wochenende mein Soll nicht schaffe, bin ich geliefert. Bausparverträge, pah! Bei diesen niedrigen Zinsen, wer will da noch Bausparverträge? Ich muss mehr Aktienfonds anbieten, irgendeinen mit Rohstoffen und Solarzellen. Er klingte an der verschlossenen Eingangstür. Tatsächlich abgeschlossen, jetzt kann ich nicht einmal mehr das Geld aufheben.
"Nun setzen Sie sich schon hin", seufzte das Spitzgesicht, "Sie machen einen ja ganz nervös." Tilo Wachsmuth - ganz in Schwarz gekleidet, nur durch den offenen Hemdausschnitt leuchtete es Weiß - hatte sich inzwischen an einem kleinen Tisch in der Mitte des Raumes niedergelassen und blätterte lustlos durch Feng Shui-Ratschläge und Sauerkraut-Diäten. Zeitungsrascheln, gelegentliche Blicke auf Armbanduhren, unauffälliges Beobachten über den Brillenrand.
Marek Sonntag kramte sein Handy aus dem Koffer und legte es neben sich auf einen Stuhl. Als ob er eine Eingebung gehabt hätte, blickte er zur inzwischen in ein Buch vertieften Dame. Sie hat bestimmt schon eine Lebensversicherung; einen Bausparvertrag will sie nicht, so etwas rieche ich. Aber Aktienfonds? Ich muss sie in ein Gespräch verwickeln. Wie hieß sie noch gleich? Die Menschen hören so gern ihren eigenen Namen. Cool bleiben, jetzt kommt es darauf an.
"Frau von Selz?"
Die Angesprochene blickte neugierig auf. Grüne Augen, ich mag grüne Augen. Und dazu dieses wissende Lächeln!
"Ja?"
"Sind Sie auch für 17:00 Uhr bestellt?"
"Nein, für 17:30 Uhr, aber ich bin gern etwas eher da."
"Aha… Waren Sie schon oft bei Dr. Mai, ich meine wie ist er?"
"Oh, er ist eine Kapazität auf seinem Gebiet, ich habe lange nach einem solchen Therapeuten gesucht. Glauben Sie mir, das Warten lohnt sich."
"Natürlich, natürlich... Haben Sie es auch bemerkt?" Marek Sonntag wischte sich mit einem gefalteten Stofftaschentuch kleine Schweißperlen von der Stirn. "Die Schwester hat uns eingeschlossen. Sie hat einfach den Schlüssel rumgedreht und abgezogen! Niemand von uns kann diesen Raum verlassen. Warum macht sie das mit uns? Dabei habe ich heute noch Termine. Ich kann gar nicht solange warten."
"Klaustrophobie?"
"Nein, nein, ich bin Vermögensberater. Wenn Sie einmal in Ihre Zukunft investieren wollen", sagte Herr Sonntag und überreichte der Dame eine Visitenkarte, "ein Anruf genügt. Für Sie bin ich immer da."
Frau von Selz nutzte die Karte als Lesezeichen und schlug das Buch zu. "Vermögensberater? Ach! Meinen habe ich gerade zum Teufel gejagt. Stellen Sie sich vor, die letzten Jahre habe ich auf sein Anraten viel Geld in einen Immobilienfond gesteckt. Und nun hat die Bank diesen einfach geschlossen."
"Tja, es gibt immer schwarze Schafe in der Herde."
"Platzangst", mischte sich, eine latente Überlegenheit in der Stimme, der schwarze Herr ein, "die Dame wollte wissen, ob Sie an Platz Angst leiden."
"Platzangst? Nein. Ich weiß nicht. Ich mag es nur nicht besonders, wenn man mich einschließt."
Tilo Wachsmuth nickte verständnisvoll lächelnd, wandte sich dann aber an Frau von Selz: "Wenn Sie in die Zukunft investieren wollen, sollten Sie nach Alternativen suchen."
"Ach", sagte die Dame überrascht, "sind Sie auch Vermögensberater?"
"Um Himmels willen, nein!", wehrte Wachsmuth ab und fügte etwas ruhiger an, "Ich bin Priester."
"Ein Pastor?", fragte sie ungläubig.
"Gestatten? Bischof Wachsmuth aus Hamburg. Und mit wem habe ich die Ehre?"
Einen Augenblick schien die Dame verblüfft, dann lächelte sie kurz und nickte dem Bischof zu. "Gräfin Sibylle von Selz.“
„Sehr angenehm.“
"Sie sprachen von Alternativen; welche gibt es denn für meine Zukunft?"
"Warum investieren sie nicht in Gott? Glauben Sie mir, eine bessere Anlageform gibt es nicht."
"So?", rutschte es Marek Sonntag heraus. "Da bin ich aber gespannt.“
„Einmal kam Jesus nach Jericho“, begann der Bischof zu erzählen. „Da gab es einen Zöllner Namens Zachäus, der auf einem Baum saß und Ausschau hielt. Was meinen Sie, warum Jesus den Zachäus vom Baum herab steigen ließ?“
Nein, Marek Sonntag war kein Christ. Er stöhnte bei dem Gedanken, dass er einer Wiederholung der letzten Sonntagspredigt nicht entfliehen konnte. Eine Weile noch hörte er sich die Ausführungen an und staunte, dass auch der Bischof Zachäus verstehen konnte. „Es ist nun mal so, Geld schließt viele Türen auf. Und was geben wir nicht alles für das Gefühl, irgendwo dazu zu gehören. Zachäus befand sich in einer Sackgasse, hatte sich im Labyrinth von Immer-mehr-haben-Wollen verrannt.“
Marek Sonntag hielt es nicht mehr aus. Er nahm sein Handy und suchte die Nummer von Dr. Mai. Kein Empfang? Ärgerlich sprang er zurück, ging zur Sprechstundentür und klopfte. Hinter der Tür blieb es ruhig. Nochmaliges Klopfen. Nichts rührte sich.
„Würden Sie bitte das Fenster schließen?“, mahnte der Bischof, der sich inzwischen seinen weißen Schal um den Hals gewickelt hatte. „Ich vertrage nämlich keine Zugluft.“
„Und ich vertrage Ihr Geschwafel nicht. Ganz schlecht wird mir dabei!“
Einen Moment nur sah ihn der Geistliche verdutzt an,„Investieren Sie in Gott, lassen Sie sich von Jesus erlösen und Ihr Leben hat wieder eine Zukunft!“
Die Gräfin hatte aufmerksam zugehört, hing förmlich mit ihren Augen an den spitzen Lippen von Bischof Wachsmuth und ließ das Gesagte einige Sekunden auf sich wirken. „Ich möchte Sie unterstützen.“
„Oh, Gräfin Sibylle, ich darf Sie doch so nennen“, säuselte der Bischof, „das hätte ich nie zu hoffen gewagt.“
Marek Sonntag hämmerte nun mit seiner Faust gegen die Tür. Er atmete heftig, unter den Achseln seines weißen Hemdes waren deutliche Schweißspuren zu sehen. Endlich hörte er klappernde Schritte, die Tür öffnete sich und eine zornige Schwester Edeltraut wies Herrn Sonntag zurecht. Im Übrigen wäre der Doktor soeben gekommen und Herr Wachsmuth dürfe eintreten.
„Ich will aber nicht länger warten“, rief Marek Sonntag dem Bischof hinterher, der durch das Sprechzimmer ging und im Therapieraum hinter einer gefütterten Tür verschwand.
„So? Na dann kommen Sie mal mit.“
Marek Sonntag folgte demütig der Schwester, setzte sich im Sprechzimmer auf einen freien Stuhl und sah ungeduldig auf die große Wanduhr.
„Wird der Bischof lange brauchen?"
„Welcher Bischof?“, fragte Schwester Edeltraut ohne von ihrem Schreibtisch aufzublicken.
„Na Bischof Wachsmuth, wer denn sonst?“
„Hat er das gesagt?“
„Wie bitte? Ich verstehe Sie nicht.“
„Manche behaupten auch, sie wären der Papst.“
„Wirklich? Ach du Schreck!“ Marek schlug sich auf die Stirn, sprang auf und rannte in das Wartezimmer.
„Frau von Selz, stellen Sie sich vor, der Wachsmuth ist ein Hochstapler! Sie haben Ihren Scheck einem Betrüger gegeben!"
„Aber Herr Sonntag, regen Sie sich doch nicht so auf. Seine Megalomanie war das Erste, was mir auffiel. Oder haben Sie schon mal einen Bischof bei einem Psychologen gesehen?"
“Wie bitte? Was meinen Sie denn damit? Ein Priester ist er jedenfalls nicht.“
"Er ist so wenig ein Bischof, wie ich eine Gräfin bin..."
"Was denn, keine Gräfin? Aber ihr Name...."
"Ha!“, lachte die Frau kurz auf, „Mein Name ist das Einzige, was ich von meinem Vater geerbt habe. Und was Tilo Wachsmuth betrifft: etwas Größenwahn, etwas religiöser Sendungswahn. Seine Zachäus-Geschichte ist doch das beste Beispiel und war zugleich sehr amüsant."
"Na ich weiß ja nicht. Wenn man Sie so reden hört, könnte man denken, Sie haben drei Semester Psychologie studiert."
"Ich? Ach wo, ich bin Schauspielerin.“
„Und was sollte das dann mit dem Scheck?“
„Wollen Sie auch einen?" Noch einmal beobachtete Marek Sonntag, wie die ehemalige Gräfin verdeckt etwas schrieb und einen weiteren Umschlag zuklebte. "Ich habe ihn auf Ihren Namen ausgestellt. Das Kuvert aber erst öffnen, wenn sie zuhause sind!"
"Natürlich, natürlich..."
#3
von Krabü2 (gelöscht)
Der Scheck
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 22.03.2006 20:02von Krabü2 (gelöscht)
Hi Olaf!
Jetzt ist es wirklich super! Es ist noch feiner gewoben als zuvor, und Du hast wieder einmal Deine Beobachtungsschärfe unter Beweis gestellt! Ich habe mich sehr gut unterhalten und fand den Text sehr amüsant. Nun könnte ich mir vorstellen, dass das Stück von Sartre auch noch was an 2. Ebene bewirkt, muss jedoch zugeben, dass ich es nicht kenne. Sei's drum (mein Lieblingsspruch), es hat mir einen Riesenspaß gemacht, das hier zu lesen.
Und frau fragt sich dann ja doch, wer hier die Karten in der Hand hält :-)
Liebe Grüße
Uschi
Jetzt ist es wirklich super! Es ist noch feiner gewoben als zuvor, und Du hast wieder einmal Deine Beobachtungsschärfe unter Beweis gestellt! Ich habe mich sehr gut unterhalten und fand den Text sehr amüsant. Nun könnte ich mir vorstellen, dass das Stück von Sartre auch noch was an 2. Ebene bewirkt, muss jedoch zugeben, dass ich es nicht kenne. Sei's drum (mein Lieblingsspruch), es hat mir einen Riesenspaß gemacht, das hier zu lesen.
Und frau fragt sich dann ja doch, wer hier die Karten in der Hand hält :-)
Liebe Grüße
Uschi
#4
von Gemini • Long Dong Silver | 3.094 Beiträge | 3130 Punkte
Der Scheck
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 23.03.2006 08:38von Gemini • Long Dong Silver | 3.094 Beiträge | 3130 Punkte
Hai Olaf
Was du unbedingt streichen solltest ist am Beginn die Zeile, in der Herr Sonntag als Businesskoffermann bezeichnet wird. Die Figur hast du uns ja schon vorgestellt und der Leser hat schon einen Bezug zu der Person. Du schaffst damit eine neuerliche Distanz.
Die Geschichte selbst ist gut erzählt und man erkennt eine gute Beobachtungsgabe.
Allerdings sind die Tätigkeiten für meine Begriffe zu ausführlich erzählt. Ich würde radikal vieles abkürzen. Der Einschub mit der Bibelgeschichte war hart zu überstehen, da er noch dazu langweilig war. Auch vermisse ich die Tiefe in der Geschichte, da du keine Stellungnahme des Protagonisten beschreibst. Die Menschen unterhalten sich, aber wie sie unter der Oberfläche ticken erkennt man nicht.
Die Geschichte ist gut erzählt, wenn auch unnötig verlängert.
Satres "Geschlossene Gesellschaft" habe ich gelesen, aber deine Geschichte reicht da ehrlich gesagt nicht heran.
Es fällt schwer etwas was man einmal geschrieben hat wieder zu verwerfen, aber bei den Dialogen hätte ich radikal gekürzt und den Menschen statt dessen mehr Charakter eingehaucht.
Dies ist aber nur meine bescheidene Meinung.
LG Gem
Was du unbedingt streichen solltest ist am Beginn die Zeile, in der Herr Sonntag als Businesskoffermann bezeichnet wird. Die Figur hast du uns ja schon vorgestellt und der Leser hat schon einen Bezug zu der Person. Du schaffst damit eine neuerliche Distanz.
Die Geschichte selbst ist gut erzählt und man erkennt eine gute Beobachtungsgabe.
Allerdings sind die Tätigkeiten für meine Begriffe zu ausführlich erzählt. Ich würde radikal vieles abkürzen. Der Einschub mit der Bibelgeschichte war hart zu überstehen, da er noch dazu langweilig war. Auch vermisse ich die Tiefe in der Geschichte, da du keine Stellungnahme des Protagonisten beschreibst. Die Menschen unterhalten sich, aber wie sie unter der Oberfläche ticken erkennt man nicht.
Die Geschichte ist gut erzählt, wenn auch unnötig verlängert.
Satres "Geschlossene Gesellschaft" habe ich gelesen, aber deine Geschichte reicht da ehrlich gesagt nicht heran.
Es fällt schwer etwas was man einmal geschrieben hat wieder zu verwerfen, aber bei den Dialogen hätte ich radikal gekürzt und den Menschen statt dessen mehr Charakter eingehaucht.
Dies ist aber nur meine bescheidene Meinung.
LG Gem
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