#1

Verflossen

in Düsteres und Trübsinniges 03.07.2006 11:57
von Mattes | 1.141 Beiträge | 1141 Punkte
Verflossen


Eben starben Väter, Mütter;
sinnlos, wie das Sterben ist,
wurden dir die Haare schütter
in der abgelebten Frist.

Nein, du wagtest nicht, zu fliegen;
wogst dich in der Sicherheit,
Worte wägend abzuwiegen,
weder, noch warst du bereit,

auf das Leben selbst zu setzen
oder auf den schnellen Tod.
Nein, du willst dich nicht verletzen,
klammerst dich ans Gnadenbrot,

welches zahnlos wird genossen
und nach Willfähr zugeteilt.
Alles fließt - du bist verflossen,
wenn dein Dunst auch noch verweilt.

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#2

Verflossen

in Düsteres und Trübsinniges 03.07.2006 18:07
von Wilhelm Pfusch • Administrator | 2.006 Beiträge | 2043 Punkte
Werter Herr Mattes,

was mir an diesem Gedicht zuerst auffiel war der mehrfach enge Bezug des Titels zum Text. Das spricht natürlich gleich beim ersten Lesen für das Gedicht.

Die Ohnmacht des lyrDu gegenüber dem Leben, seine aus Unentschlossenheit gespeiste Passivität sind hier das Thema.

Während S1V1+2 das Gedicht einleiten, indem sie zum einen auf eine mögliche depressive Phase des lyrischen Du hinweisen (Midlife Crisis, ausgelöst durch den Tod einer nahestehenden Person)), zum anderen aber eine Überleitung des Titels "Verflossen" in seiner naheliegenden Bedeutung auf eine in diesem Gedicht feiner spezifizierte Version dieser Bedeutung darstellen, schwenken S1Z3+4 direkt auf die Anklage des lyrDu durch das lyrIch über.
Das Leben wurde vom lyrDu nicht aktiv gelebt, sondern "abgelebt." Das weite Wegenetz "Leben" wird durch die Bezeichnung "Frist" zu einer kümmerlichen Einbahnstraße beschnitten. Alles wurde unter Vorbehalt gesagt, abgewogen. Darauf konnten natürlich keine emotionalen, keine lebendigen Reaktionen folgen.
Die Formulierung weder, noch warst du bereit, gefällt mir sehr, sie unterstreicht einerseits den abwägenden Charakter des lyrDu (bezug S2V3), steht aber andererseits auch isoliert gut da. Wörtlich genommen war das lyrDu nie bereit für das wahre Leben.

In S3V1+2 wird unterstrichen, wie sehr das lyrDu in der Grauzone zwischen Lebendigkeit und Stillstand gefangen war.
Als Gefangenem war es dem lyrDu nur möglich, das hinzunehmen, was das Leben übrigließ, wie die folgenden Zeilen bestätigen.
Das lyrische Du war immer bodenständig, wählte immer den sichereren Weg.
Es nahm sich vom Leben, was das Leben ihm hinwarf, um es zahnlos zu genießen (S4Z1) ohne sich selbst wirklich aktiv etwas zu nehmen, ohne die Chencen des Lebens wirklich zu greifen, ohne zuzupacken.
Obwohl dem lyrDu im Strom der Zeit nun untergegangen ist (S4Z3) staut sich doch sein Durst paradoxerweise inmitten dieses Flusses. Der Strom der Zeit hätte diesen Durst löschen können, hätte das lyrDu nur getrunken. So verbleibt nichts als ein Durst, ein Schatten des lyrischen Du, der bis zu seinem Ende seiner verflossenen Lebensenergie nachtrauern wird. (S4Z4)

Im Grunde handelt es sich bei diesem Gedicht um einen Fingerzeig, eine Warnung, die Chancen des Lebens zu ergreifen, um nicht so zu enden, wie dieser arme Tantalus.
Das Gedicht hat mir sehr gefallen.

Grüßle

Willi

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#3

Verflossen

in Düsteres und Trübsinniges 03.07.2006 20:16
von Fabian Probst (gelöscht)
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mir auch. Ich denke, Willi hat alles gesagt.

Einzig das doppelte "wogst - wiegen oder wägen" stört mich ein wenig. aber das ist auch schon alles, was ich zu meckern habe.

Es hat was Spielerisches aber trotzdem Schweres.
Diese Gratwanderung gefällt mir.

lg,Fabian

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#4

Verflossen

in Düsteres und Trübsinniges 04.07.2006 10:54
von Mattes | 1.141 Beiträge | 1141 Punkte
Werter Herr Pfusch!

So sehr mich die lobenden Worte und die fast durchgängig treffsichere Analyse auch erfreut, so muss ich fürchten, dass ein Versehen nicht ganz unschuldig am Gefallen ist. Denn es ist nicht der Durst, der hier verweilt, sondern nur der Dunst. Ich bedauere sehr, dass das, was Sie lesen wollten, nicht das ist, was da steht, denn der Durst gefällt mir auch ganz gut.

Sehr angenehm finde ich, dass Ihnen sowohl das „Weder, noch“, als auch der Titel gefielen. Denn bei Ersterem war ich total unsicher und auf den Titel bin ich selbst ganz stolz. Ich hoffe, dass es auch dunstig noch gefallen kann und verbleibe, mit der allergrößten Dankbarkeit,

mit freundlichen Grüßen
Ihr Herr Mattes

Hallo Fabian!
Schön, dass es dir auch gefallen kann. Mit dem Wogen, Wiegen, Wägen spielte ich natürlich absichtlich herum. Vermutlich habe ich es etwas übertrieben, wie mir jetzt auch scheint.

DG
Mattes

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#5

Verflossen

in Düsteres und Trübsinniges 09.07.2006 03:48
von Wilhelm Pfusch • Administrator | 2.006 Beiträge | 2043 Punkte
Entschuldige den Durst, man liest eben was man lesen will....und wie verdammt gut der gepasst hätte

Ich bleibe trotzdem bei meiner Ansicht zu deinem Gedicht, ausser das der "Dunst" als nebulöses Überbleibsel sicherlich weniger dramatisches Potential bietet, dafür aber das Gedicht gelungen auflöst.

Bierselige spätnächtliche Grüßle

Willi

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#6

Verflossen

in Düsteres und Trübsinniges 10.07.2006 17:36
von GerateWohl • Mitglied | 2.015 Beiträge | 2015 Punkte
Hallo Mattes,

nähh, das mag ich nicht so.
Der Griff in die sprachliche Trickkiste mit dem weder/noch gefällt mir zwar auch gut, aber die Wendung "wägend abzuwiegen" klingt für mich so wie "essend aufgegessen" oder "grübelnd nachgegrübelt", also stilistisch etwas unschön doppeltgemoppelt.
Inahltlich geht es hier wohl um einen Kandidaten, der mehr Lebenszeit damit zubringt, über Dinge nachzudenken und sie zu beurteilen als Dinge zu tun. Der Hinweis auf die nicht Entscheidung bei der Frage "fliegen oder Sterben" deutet darauf hin, das das lyr. Ich auch nicht sehr zufrieden mit seinem Leben ist, sonst käme das Ableben hier nicht zur Sprache.
Aber das ist gerade ein Punkt der mir hier nicht so gut gefällt. Solche Dinge kann man sich hier mittelbar erschließen in dem Gedicht, es steht aber so nicht direkt drin. Aber da sich das Gedicht ansonsten einer ziemlich expliziten Sprache bedient, wähnt man fast, dass der eine oder andere eindeutigere Satz möglicherweise dem Reimschema zum Opfer gefallen ist. Das ist nun natürlich eine ziemlich infame Unterstellung, die ich nicht beweisen kann, aber das ist so ein wenig mein Lesegefühl.
Auch der letzte Satz wirkt auf mich etwas ungelenk, da ich nach dem "Alles fließt" innerlich eine deutliche Pause spüre, die hier aber fehlt. Mit der Pause fänd ich den Satz echt gut, aber gerade das Komma, das leider kein Gedankenstrich oder wenigstens ein Punkt ist, nimmt mir diese Freude.

Naja, da alle meine hier beschriebenen Eindrücke doch sehr subjektiv geprägt sind, gibt es ja noch die Hoffnung, dass es mir morgen besser gefällt.

So weit aber erstmal mein leider nicht so guter Eindruck.

Viele Grüße,
GW

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#7

Verflossen

in Düsteres und Trübsinniges 10.07.2006 23:25
von Ulli Nois | 554 Beiträge | 554 Punkte
Hallo Mattes,

bevor auch ich endgültig verfließe, melde ich mich noch einmal als Leser zurück. Man muss wohl noch sehr jung sein, wenn man dieses Gedicht auf andere arme Menschen bezieht, die ihr Leben nicht "ergreifen". Wir alle sind schon Verflossene (nicht nur von früheren Lebenspartnern) und Verfließende. Daran ändert auch ein noch so gewagtes oder erfülltes Leben nicht. Denn auch das wird vergehen, und zwar restlos. Wenn du meinst, du habest dein Leben noch vor dir, kann dich das zur Bequemlichkeit verführen. Wenn du meinst, du habest es schon hinter dir, zur Resignation. Beides ist lebensfremd. Denn Du hast dein Leben weder vollkommen vor dir noch vollkommen hinter dir. Deswegen spricht mich dieses Gedicht sofort an. Ulli, jetzt:

abwägen oder abheben,

was wirst du tun?

Gefährlichkeit ist noch kein Wert an sich. Mit Verletzlichkeit kann ich eher sympathisieren, wo sie aber in Verletztheit umschlägt, wird sie selbst schnell destruktiv.

Von daher ist mir die Moral dieser Zeilen etwas zu plakativ. Ich muss genau hinsehen, bevor ich mich entscheide, ob ich nun auf dem Boden bleibe oder fliege...

Andererseits ist das Risiko auch überschaubar. Denn welchen Weg ich auch einschlage, tödlich sind sie beide.

Und der Dunst wird auch nicht ewig verweilen. zum Glück. Denn sonst würde ich hier bestimmt nicht kommentieren.


Mit vorübergehenden Grüßen, Ulli


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#8

Verflossen

in Düsteres und Trübsinniges 11.07.2006 13:05
von Mattes | 1.141 Beiträge | 1141 Punkte
Hi GerateWohl!

Bitte nicht falsch verstehen, ich will dir deinen Geschmack nicht vorschreiben, aber das Wägen und das Wiegen sind sehr wohl zweierlei. Es gefällt dir nicht, ich akzeptiere das und kann es auch nachvollziehen, weil es vielleicht des Guten zuviel ist aber doppelt gemoppelt ist es nicht, darauf bestehe ich.

Ich finde es sehr erfreulich, dass du auf den Gedanken kommst, das lyrI sei wohl selbst nicht sehr zufrieden mit seinem Leben. Tatsächlich sollte es sich um eine Selbstanklage handeln, worauf die just gestorbenen Eltern und die intime Kenntnis des Wollens und Wägens hinweisen sollten. Unterbewusst ist es offenbar gelungen. Welche Sätze ich unterschlagen haben sollte, müsste dein infames Unterbewusstsein mir aber auch noch mitteilen. Ich könnte mir vorstellen – auch wenn das jetzt sehr vermessen ist – dass ich mit meiner wägenden Wiegerei genau das erreicht habe, was sich vermitteln sollte: Wir haben hier ein nicht authentisches lyrI, ein kontrolliertes, normiertes, ängstliches, lebensabgewandtes lyrI, welches in der Stunde des Ablebens der Eltern und des nahenden eigenen Todes die Leere seines Daseins brutal begreift, aber nur jammern kann. Selbst jetzt findet es nicht die Kraft zur Katharsis, es verdunstet weiter.

Das mit der Pause nach „Alles fließt“ kann ich sehr gut verstehen, nur darf die meiner Meinung nach auch nicht zu lang ausfallen. Der Gedankenstrich verführt dazu, ist aber dennoch eine gute, die bessere Idee. Ich übernehme das dankbar. Und das bin ich dir insbesondere für die Begründung deines Missfallens. Es mag dir paradox erscheinen, aber ich bin der Ansicht, es funktioniert prima.

DG
Mattes

Hallulli!

Verdammt, das klingt nun wieder nach Abschied. Das wäre aber schade, wo du doch wieder einmal zielsicher erkanntest, wohin die Reise geht. Ich freue mich besonders, dass du das Zwiegespräch mit sich selbst als ganz deutlich erkennbar ansiehst.
Natürlich geht jedes Leben vorüber, nur muss nicht jede/r darob so bitter werden. Selbstverständlich genießen manche eher die Kontemplation, als die Partizipation, nur ist dieses lyrI ja unzufrieden mit seiner Wahl. Für dieses gilt doch der Valentin-Satz: Mögen hätte ich schon gewollt, nur dürfen habe ich mich nicht getraut. ...

Die einzige Moral, die hier also mitschwingt ist die, dass man besser tun sollte, was man tun möchte, bevor es zu spät ist. Eine kleine Moral, zugegegben, aber hängt die hier besonders plakativ herum? Dann bitte ich um Nachsicht, ich kann es nicht besser.

Schön, dass es dich dennoch und du mich in Reaktion darauf angesprochen hast. Und - verweile doch ein wenig, Ulli, der Augenblick ist so schön.

DG
Mattes

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#9

Verflossen

in Düsteres und Trübsinniges 12.07.2006 13:09
von GerateWohl • Mitglied | 2.015 Beiträge | 2015 Punkte
Hallo Mattes,

nach Deiner Erläuterung verstehe ich den Text schon besser, da jetzt die Perspektive klarer ist. Irreführend finde ich hierbei aber, dass die Väter und Mütter zu Beginn im Plural stehen. Wie viele Mütter und Väter sollte das lyr. Ich denn haben. Der Plural scheint für mich nur dem Reim mit "schütter" zu dienen, welches entweder eine etwas unschöne Elision von "schütterer" ist oder mein Sprachgefühl betrügt mich hier. Das schütte oder schüttere Haar. Hm. Oder geht das doch. Er hat schüttes Haar. Meines ist schütterer. Oder schütter? Kommt mir komisch vor. Wahrscheinlich ist beides richtig.

Jedenfalls macht es jetzt für mich insgesamt mehr Sinn nach Deiner Erläuterung.

Danke und Grüße,
GW

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#10

Verflossen

in Düsteres und Trübsinniges 12.07.2006 13:57
von Mattes | 1.141 Beiträge | 1141 Punkte
Hallo GW!

Tatsächlich waren die Mütter zuerst da, auch wenn das wenig glaubhaft klingen mag. Sehr häufig klingt mir eine einzelne, völlig zusammenhanglose Zeile im Hirn, um die herum bzw. eher mit der beginnend ich dann vor mich hindichte. Die Richtung ergibt sich erst beim Schreiben, ich habe vorher häufig keinen Plan (Ausnahmen bestätigen die Regel).

Wenn hier Väter und Mütter im Plural sterben, unterstreicht das, dass die Elterngeneration mit dem Sterben dran ist. Wenn Einzelne versterben, mag es vor der Zeit und das lyrI noch jung genug sein, um sich weiter der Selbsttäuschung hinzugeben. Hier muss es erkennen, dass die Zeit des eigenen Ablebens eben doch unweigerlich heranrückt und nicht mehr fern ist. Das "Eben" verstärkt nach meiner Lesart noch die relative Geschwindigkeit, mit der wir auf das Finale zugehen. He, bin ich wirklich schon dran? Eben gerade sind erst meine Eltern gestorben, es kann doch nicht angehen, dass ich schon der Nächste bin!

Das schüttere, also lose, undichte Haar ist für meine Begriffe richtig: In der bislang abgelebten Lebensdauer wurden dir die Haare lose bzw. undicht, mit diesen Formulierungen ginge auch beides: loser/undichter. Im Zusammenhang mit "schütter" habe ich das noch nie gehört und es klingt mir fremd: Werden Haare immer schütterer? Sagt man das? Ich glaube nicht.

Unabhängig davon deuten beide Stellen auf Schwächen hin, denn wenn es nicht selbsterklärend ist, ist es auch nicht wirklich überzeugend. Ich muss mir irgendwann mehr Mühe geben.

DG
Mattes

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